Nein, Shad hat keine Angst vor der eigenen Geschichte. Im Video zu seiner neuen Single «Fam Jam (Fe Sum Immigrins)» inszeniert der kanadische Hip-Hop-Star die Kindheitserinnerung an eine Familienfeier kenyanischer Immigranten in Ontario, Kanada. Der Clip zeigt einen vollkommen unglamourösen Gemeindesaal mit DJ-Pult und Platten voller afrikanischem Essen, um die herum Erwachsene und Kinder freundlich plaudern, tanzen und Fotos aus der alten Heimat anschauen. Die Musik: Soulig-federnde Hip-Hop-Beats, eine indische Sitar, afrikanische Gitarren. Dazu Shads lässiger Flow. Raps, die vor der Kulisse dieser multiethnischen Party ein paar essenzielle Fragen stellen: «If its a big world / show me my place in it.» Wo ist mein Platz in dieser Welt?
Aussenseiter-Attitüde
Die unprätentiöse Aussenseiter-Attitüde gehört zu Shadrach Kabango alias Shad: Bei den letztjährigen Juno-Awards (dem kanadischen Grammy) gewann er – vor seinem Superstar-Landsmann Drake – den Preis für das beste Hip-Hop-Album des Jahres. Er hängt das allerdings ebenso wenig an die grosse Glocke wie die Tatsache, dass er während der Aufnahmen zu seinem neuen Album «Flying Colours» nebenbei auch noch sein Universitätsstudium mit einem Master in Liberal Studies gekrönt hat. Im Interview erzählt der 31-jährige Immigrantensohn lieber vom Gefühl der Entfremdung in beiden Heimatländern oder von der Schwierigkeit, als Christ und Hip-Hop-Celebrity die richtige Frau zu finden. Wie erklärt er den Titel seines neuen Albums «Flying Colours»? «Wir sind doch alle erst einmal Erfolgsgeschichten, egal welcher Farbe», sagt Shad. «Niemand muss sich entschuldigen oder erklären, solange er einfach sein Bestes gibt», findet er.
Optimismus. Hoffnung. Sein Bestes geben. Diese Erfolgsstrategie gilt auch im Hip-Hop. «Third world born, first world torn», rappt Shad. In der Dritten Welt geboren, in der Ersten verloren. Die Texte sparen die eigene Zerrissenheit als Immigrantensohn nicht aus, während «Flying Colours» die Schärfe und Experimentierfreudigkeit des Hip-Hops auf urafrikanische Gemeinschaftswerte prallen lässt. Das schafft kreative Reibung.
Kein Zufall, dass gerade Diaspora-Rapper die innovativsten Hip-Hop-Alben der letzten Jahre lieferten: So brillierte der Somali-Kanadier K’naan als afrikanischer Geschichtenerzähler, bevor er dann sehr erfolgreich zum Mainstream wechselte. Der belgische-kongolesische Polit-Rapper Baloji legte 2011 mit «Kinshasa Succursale» eine grossartige Live-Fusion von kongolesischer Folklore und Hip-Hop vor. Und Blitz The Ambassador – ein Ghanese mit Wohnsitz New York – veröffentlichte im gleichen Jahr das Album «Native Sun»: eine Reise zu den Schnittpunkten von Hip-Hop, Highlife, Afrobeat und futuristischem Funk, die zeigte, dass Hip-Hop gerade an den Rändern der afrikanischen Diaspora die buntesten und erstaunlichsten Blüten treibt.
Der musikalische Reiz des Exotismus, die Rekombination von Koras, äthiopischen Bläsern oder Soukous-Gitarren erklärt dabei nicht alles: Genauso wichtig ist die lyrische Ebene. Wirkt doch nach 35 Jahren die Geschichte des Hip-Hops samt Testosteron- und Kapitalismus-Klischees seltsam ausgebleicht. Wen können Lil Waynes Pimp-Albernheiten oder Jay-Z’s Vom-Drogendealer-zum-Tycoon-Plattitüden noch überraschen? Ähnelt Chart-Rap heute nicht vielmehr der dünnen Brühe, die man als American Coffee serviert bekommt? Rapper wie Blitz The Ambassador, Baloji oder Shad bringen da überraschende Brechungen ins Spiel. Sie erzählen noch einmal eine ganz andere Geschichte.
Assoziations-Feuerwerk
Auf seinem Song «Stylin’» etwa rappt Shad in einem Assoziations-Feuerwerk über seine kenyanische Jugend, über Essen mit Stäbchen, Shakespeare, Ice-Cube und Afrikaner mit hohem IQ – und amüsiert sich über Missverständnisse von Fans, die («I hate Rap, but I like you») seine Musik lieben, aber Hip-Hop verachten. Denn Hip-Hop, dieser Quellcode, durch den man jede positive wie negative Geschichte transportieren kann – Hauptsache neu und unerhört: Er bedeutete für den Rapper zuerst einmal Freiheit.
Dem Stereotyp eines erfolgreichen Rappers hat Shad allerdings nie ganz entsprochen. In Kenya geboren, kam er als Kleinkind mit seinen rwandischen Eltern nach London, Ontario. Schulischer Ehrgeiz und eine christliche Erziehung prägten Shads Jugend. Mit 14 Jahren fing er mit Rappen an. Doch wichtiger noch war ihm der Abschluss seines Betriebswirtschaftsstudiums. Erst als er einen Hip-Hop-Wettbewerb einer grossen Radiostation gewann, nutzte er die 17 500 Dollar Preisgeld, um sein erstes Album «When This Is Over» zu finanzieren. Das war im Jahre 2005.
Zwei Alben später überrascht «Flying Colours» nun mit einer selbst für Indie-Hip-Hop unglaublichen Differenziertheit: Da treffen knochentrockene, swingende Beats auf Streicher, Pianos und elektrische Zerrgeräusche – während Shads kluge und empathische Texte auch auf dem Papier noch funktionieren.
Wie ein Ethnologe
Rapper wie Common oder Curtis Mayfields Message Soul drängen sich als Vergleichsgrössen auf: etwa wenn Shad aufzählt, was er alles von den Frauen in seiner Familie gelernt hat oder an was ihn all die vernachlässigten Kinder in der Nachbarschaft erinnern. Zu viel der Familienmoral? Keineswegs. Shad predigt nie. Vielmehr erforscht er wie ein Ethnologe seine Umgebung und was ein Leben als Secondo in einer oft ausserirdisch anmutenden amerikanischen Kultur bedeutet, wo «selbst Kirchen für den Tod von Obama predigen / und diesen Wunsch mit Osama teilen». Dass ein Obama es mit kenyanischen Wurzeln ins Weisse Haus geschafft hat, darauf spielt Shad immer wieder an. «A sly dog and you’re African?» Warum sollte nicht ausgerechnet ein Kenyaner das nächste All-American-Hip-Hop-Wunder stellen? «Mein Programm», sagt Shad, «ist es, so viel von mir selbst zu zeigen wie möglich.» Die Phrase «keeping it real» nimmt er nicht in den Mund.
JONATHAN FISCHER
NZZ 18.10.2013