Monatsarchiv: Juni 2012

Bobby Womack über Überleben

Dass Bobby Womack das Interview auf seinem Krankenbett im Encino Medical Center in Los Angeles führen muss, passt zu der Menge an Schicksalsschlägen, die er erlebt hat. Doch er spricht voller Lebenswut: selbstbewusst und mit einer verwitterten Stimme, der man endlos zuhören will. Womack redet, als ob es seine letzte Beichte wäre. „Das war kein Interview“, verabschiedet er sich hinterher. „Wir haben uns getroffen, um gemeinsam vom Leben zu lernen.“

von Jonathan Fischer

SZ: Hier ist es mehr als eine Floskel – wie geht es Ihnen, Mr. Womack?

Bobby Womack: Ich bin durch die schlimmste Prüfung meines Lebens gegangen.

Meinen Sie jetzt Ihre Prostata- und Darm-Operation? Oder fünf Jahrzehnte im Musikgeschäft?

Beides. Da fühlst du dich immer wie 28, und eines Tages wachst du auf und bist 68. In diesem Alter kannst du nicht mehr Muhammad Ali spielen, vor den Schlägen einfach davontänzeln. Bei mir wurden etliche Tumore gefunden, und einen Tag vor der Operation sagte der Arzt: Dieser Mann wird nicht wieder zurückkommen. Nun, ich habe wider Erwarten überlebt. Doch jetzt haben sie leider eine zweifache Lungenentzündung diagnostiziert.

Klingt, ehrlich gesagt, furchtbar.

Glauben Sie bloß nicht, dass ich Sie runterziehen will; ich bin einfach nur stolz darauf, mit meiner Situation umgehen zu können, denn früher wälzte ich mich gerne in meinem Leid. Heute sage ich: Ich bin ein Soul Survivor.

So nennt man in Ihrer Branche jemanden, der immer hart an der Kante gelebt hat. Sie haben den ersten Teil Ihrer Karriere auf Drogen verbracht, oder?

Ja. Auf meine Musik war ich schon immer sehr stolz, aber auf mein neues Album bin ich ganz besonders stolz, weil ich es nüchtern aufgenommen habe. Früher bin ich viel mit Soulstars wie Sly Stone und Billy Preston abgehangen, genau, da gehörten die Drogen zum Beruf. Sie waren gleichbedeutend mit Spaß. Bis ich dann mit ansah, wie die Drogen einen nach dem anderen umbrachten. Und irgendwann leistete ich dann meinen Schwur: Ich bin ein Soul Survivor, ich werde keine Drogen mehr anfassen. Und heute kommt mein High ganz allein von meinen Geschichten.

Sie waren als Sänger, Gitarrist und als Songschreiber erfolgreich, und jeder kennt Songs wie ,Across 110th Street‘. In den 80ern hatten Sie ein paar Hits, doch dann begann die Durststrecke, nicht?

Ja. Ich war die letzten zwei Jahrzehnte down and out. Ausgebrannt. Hatte mit dem Musikbusiness abgeschlossen. Und dann passierte mir das Beste, was mir überhaupt nur passieren konnte: Ich begegnete Damon Albarn. Ich kannte weder ihn noch seine frühere Band Blur, noch seine aktuelle, Gorillaz. Damon aber hatte meine Musik schon lange verfolgt. Dank ihm entdeckte ich, dass ich noch einen Reservetank hatte: ,Bobby, sing mir einfach deine Geschichte vor. . .‘ – und sobald ich wieder im Studio war, verflogen all die negativen Gedanken und Zweifel, die mich seit Jahren quälten. Ich komponierte schneller als je zuvor. Wie zu den Zeiten, als ich 16 war und ,It’s All Over Now‘ schrieb.

Das war der Song, der den „Rolling Stones“ ihren ersten Welthit lieferte, oder?

Ja, und das hat mich erst mal mächtig geärgert. Warum sollten die mit meiner Nummer bekannt werden und nicht ich?

Haben Sie dafür nicht einen 400 000-Dollar-Scheck eingestrichen?

Gut, das war tatsächlich eine Menge Geld. Aber mir hätte wohl noch weit mehr zugestanden. Mein Mentor, der Soulstar Sam Cooke, versuchte mich damals zu überzeugen, dass es meiner Karriere nicht schaden würde, auch für andere zu schreiben. Er sollte recht behalten. ,Midnight Mover‘ wurde ein Hit für Wilson Pickett, und auch von Janis Joplin, Aretha Franklin oder Chaka Khan sollte ich noch ein paar Schecks bekommen.

Damals begannen wilde, wirre Zeiten in der Musikbranche: Sam Cooke wurde 1964 erschossen, von der Managerin eines Motels, in das er mit einer Prostituierten eingecheckt hatte . . .

. . . und ich war am Boden zerstört.

Aber haben Sie nicht direkt drei Monate später seine Witwe geheiratet?

Doch, aber Sams Ehe war zum Zeitpunkt seiner Ermordung schon lange den Bach runtergegangen. Und niemand stand seiner Witwe Barbara näher als ich. So konnten wir uns gegenseitig trösten.

Das hat Sie beinahe Ihre Karriere gekostet, oder? Cooke war so etwas wie die Lichtgestalt der schwarzen Musikszene.

Die ganze Community ächtete mich, und die Radiostationen boykottierten meine Songs. Für mich war allerdings noch viel schlimmer, dass ich dauernd mit Sam verglichen wurde. Wie sollte ich jemals an diese Heldenfigur heranreichen? Ich fühlte mich dem Druck nicht gewachsen, fing an, Drogen zu nehmen.

Wie hielten Sie sich im Geschäft?

Ich war weiterhin ein sehr gefragter Gitarrist und Songschreiber, arbeitete mit James Brown, Ray Charles, Jimi Hendrix, Sly Stone, Jackie Wilson, Johnnie Taylor, Otis Redding und Marvin Gaye. Alle musikalische Genies, Pioniere des Rock’n’ Roll. Typen wie sie haben zu Lebzeiten nicht die gebührende Anerkennung bekommen. Sie mussten auf den weißen Markt schielen, und wenn sie kompromissbereit waren, verwehrten die Weißen ihnen den Zugang zu den großen Radiostationen.

Stieg beispielsweise Hendrix nicht auch zum Rock-Idol der weißen Kids auf?

Gut, aber die Art wie sie ihn dafür vermarkten, macht mich krank. Wenn Jimi wüsste, dass eine von ihm gespielte Gitarre heute für 200 000 Dollar verkauft wird, würde er wohl ein zweites Mal sterben. Ihm ging es nie ums Geld. Er war ein sehr bescheidener Mensch, das können Sie mir glauben, er hat mir seine erste Gitarre geschenkt, ein Billigteil, das er bei Sears & Roebucks gekauft hatte. Er hatte sie auf der Bühne zerbrochen. Man fing an, mir viel Geld dafür zu bieten, aber ich ließ sie lieber richten, um selbst darauf zu spielen. Es gibt Dinge, die darf man nicht verkaufen.

Wenn man Ihre Biografie liest, fragt man sich: Wie kann ein Mensch so viele persönliche Tragödien wegstecken?

Ja, Sam ist nur der erste in einer langen Liste von Menschen aus meinem Leben, die zu früh starben.

Ihr Bruder Harry wurde in Ihrer Wohnung von einer eifersüchtigen Freundin erschossen. Einer Ihrer Söhne erstickte als Baby. Ein anderer nahm sich als Teenager das Leben . . .

Grauenvoll. Hinzu kamen immer wieder Kollegen, die von einem auf den anderen Tag starben. Janis Joplin. Ich war – abgesehen von ihrem Dealer – der Letzte, der sie an ihrem Todestag zu Gesicht bekam, wir arbeiteten gerade an zwei Songs: ,Trust Me‘ und ,Mercedes Benz‘. . .

Der Song handelte von Ihrem Auto, stimmt’s?

Ja, ich fuhr damals einen Mercedes 600. Und während Janis mal drinnen saß, stimmte sie plötzlich diesen Song an – und ich sagte: Komm, lass uns das gleich aufnehmen. Damals fühlte ich mich noch wie auf der Überholspur. Ein künftiger Superstar in einem großen Schlitten. Bis ich merkte, dass Stars nichts anderes als Sterne sind, die vom Himmel fallen und sich in ordinäre Steine verwandeln.

Nach Joplins Tod zogen Sie zu Sly Stones Villa in Bel Air, um bei den Aufnahmen von dessen später legendären Album ,There’s A Riot Going On‘ mitzuwirken.

Das war dann wirklich nur noch ein einziger, großer Drogenzirkus. Aber ich schätzte Sly Stones Kreativität, seinen Wahnsinnsgesang. Genauso liebte ich diese arrogante Stimme von Wilson Pickett. Oder Marvin Gayes Mischung aus Sex und Schmerz. Ich arbeitete gerade mit ihm an einem neuen Album, als er von seinem Vater erschossen wurde.

Muss man vom Leben geschlagen sein, um als Songwriter und Soulsänger glaubwürdig zu sein?

Nein, man muss dazu nicht tausend Tragödien erleben. Das ganz normale Leben reicht aus. Du musst deine Geschichten mit dem gelebten Leben in Einklang bringen. Den Schmerz zulassen. Dann wächst du vom Entertainer zum Künstler heran.

Hat der Schmerz Sie auch auf Ihrem neuen Album beflügelt?

Am selben Tag, als ich mit Damon Albarn sein Londoner Studio betrat, lag meine 91-jährige Mutter im Sterben. Damon schlug mir vor: Willst du dir nicht ein paar Tage Auszeit nehmen? Aber ich lehnte ab. Was sollte ich auch in meinem Londoner Hotelzimmer tun, zumal meine Familie doch weit weg in Los Angeles lebt? Also ließ ich mich in die Emotionen hineinfallen, spürte, was ich spürte, und steckte das in meine Songs. Und eine Nummer habe ich meiner Mum gewidmet, der Frau, die dabei war, als wir Sam Cooke kennenlernten und mich die übrigen 60 Jahre meiner Karriere begleitet hat. Niemand wird je ermessen können, was ich durchgemacht habe, um diesen Song zu singen, und wie schwer jedes seiner Worte für mich wiegt. Er heißt ,Dayglo Reflection‘, und ich singe ihn im Duett mit Lana Del Rey.

Sie ist die Pop-Göttin dieser Tage, und über 40 Jahre jünger als Sie. Wie lief die Zusammenarbeit mit ihr?

Lana Del Rey erschien mir wie ein Bote des Himmels. Ein altvertrauter Engel. Wissen Sie, dass Lana und ich dasselbe Zeichen tragen? Ich hatte mal einen Traum: Dass mein Daumen und kleiner Finger schwarz lackiert wären. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber ich malte mir daraufhin meine Nägel entsprechend an. Und als ich Lana das erste Mal im Studio traf, fiel mein Blick auf ihre Hände: schwarz lackierter Daumen, schwarz lackierter kleiner Finger. So etwas ist kein Zufall!

Soulmusik erlebt gerade einComeback, dank Sängerinnen wie Amy Winehouse, Joss Stone oder Adele . . .

Welche Namen nannten Sie da zuletzt?

Adele. Eine Britin, weltweit erfolgreich und auf demselben Label unter Vertrag wie Sie.

Adele – ja, mir hat jemand von ihr erzählt. Von Lana hatte ich zuvor noch nie etwas gehört. Aber wissen Sie: Ich verfolge die Pop-Charts seit 20 Jahren nicht mehr. Ich stehe nun mal für Soul, die großartigste Musik überhaupt, und wissen Sie, warum? Weil sie dich mit deiner Seele verbindet. Es ist eine Sache, eine gute Show abzuliefern. Da siehst du akrobatische Tänzer, grelle Kostüme, Menschen, die in den Himmel fliegen – aber das ist nicht Musik, das ist Entertainment. Ich aber singe über eine innere Wirklichkeit. Über die Hölle am Tag und die Hölle in der Nacht, dann, wenn alles still wird und du nicht mehr davonlaufen kannst. Ich singe das nicht nur für mich. Sondern für alle Menschen, die um ihr Überleben kämpfen.

Aber den Erfolg von Hip-Hop haben Sie mitgekriegt; schließlich haben Sie vor zwei Jahrzehnten Muhammad Alis Tochter auf einem Ihrer Songs rappen lassen.

Und dabei hatte ich eine Höllenangst, denn Muhammad Ali war ein Freund von mir, ich wusste, dass er keinen Rap mochte, wegen der gewaltverherrlichenden Texte. Und wer will schon einen Faustschlag von Ali riskieren?

Für die heutige Jugend hat Hip-Hop den Soul längst abgehängt.

Das mag sein. Und sollte ich noch mal ein Album machen, möchte ich unbedingt Snoop Dogg dabeihaben. Aber dass Hip-Hop die Soulmusik ersetzt? Nein, unmöglich! Da fehlt doch die eine Hälfte der Seele. Mein Freund Keith Richards hat mir mal gesagt: Ich kann nicht mit mechanischen Beats arbeiten, fürchterlich. Die Rolling Stones sind in dieser Hinsicht konsequent. Sie machen alles live, nehmen auf die altmodische Tour auf. Aber, habe ich Keith erklärt, auch du kannst nicht ewig denselben Stiefel reiten, ihr seid nicht mehr so heiß wie früher, und wenn ihr eure alten Fans mobilisiert, verkauft ihr ein neues Album vielleicht gerade noch 200 000 Mal. Da ist es schon besser, sich von Generation zu Generation zu erneuern. Nach vorne zu schauen. Wenn du die jungen Leute dort abholst, wo sie stehen, kannst du ihnen was beibringen.

Damon Albarn ist auch nicht mehr der Allerjüngste. Aber er scheint zu wissen, was junge Leute hören wollen, oder?

Er macht alles richtig, was ich früher falsch machte. Er nimmt keine Drogen, trinkt höchstens mal ein Bier, wenn er frustriert ist. Und er schart die richtigen Leuten um sich. Als wir anfingen zu arbeiten, kam plötzlich ein Typ ins Studio, um die Drums zu programmieren. Ich reagierte gereizt: Damon, ich dachte, nur wir beide machen die Aufnahmen. Aber er meinte nur: Das ist Richard Russell, mein Partner, und der Boss der Plattenfirma. Was für ein Schock! Dem gehört der ganze Laden? Solange ich im Geschäft bin, kam noch nie der Präsident einer Plattenfirma, um mich zu hören, und dieser Typ steckte sogar all seine kreative Energie in die Feinjustierung unserer Beats!

Sie haben mit Plattenfirmenbossen wohl eher schlechte Erfahrungen gemacht?

Das waren häufig Typen, die mir einen Strich durch die Rechnung machten, wenn ich was Neues probierte.

Als Sie in den 80er Jahren noch ein paar Hits landeten, haben Sie keinen Cent dafür gesehen. Wie kam das?

Meine damalige Plattenfirma ging pleite. Aber dafür wurde meine Musik wenigstens im Radio rauf und runter gespielt, Songs wie ,If You Think You’re Lonely Now‘ . . .

Den hat 50 Cent gerade gesampelt. Es ist einer der traurigsten Songs, die Sie je geschrieben haben.

Er handelt von Einsamkeit, und damit kenne ich mich nun mal aus. Ich habe aus Unsicherheit viele Frauen vor den Kopf gestoßen. Und als ich mit den Drogen aufhörte, verlor ich auch meine Musikerfreunde. Plötzlich gingen sie auf Distanz: Dieser Womack nimmt nichts mehr, wir trauen ihm nicht . . . Sie waren paranoid, dachten, dass ich vielleicht mit den Cops zusammenarbeite. So wurde ich zum Einzelgänger. Denn solange sie vor mir Drogen konsumierten, wollte auch ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben. An diese Regel hielt ich mich übrigens – und so habe ich es geschafft. Heute gehe ich nur noch nüchtern auf die Bühne. Schon um all diejenigen zu vertreten, die es nicht überlebt haben, wie zuletzt Teena Marie oder Donna Summer.

Sie tragen den Beinamen ,The Preacher‘. Was wollen Sie Ihrem Publikum heute predigen?

Du musst für etwas stehen – um für etwas fallen zu können.

Bobby Womack, 1944 als Sohn eines Stahlarbeiters in Cleveland geboren, gehört als Sänger, Songwriter und Gitarrist seit fünf Jahrzehnten zu den Heldenfiguren der Soulmusik. In den 60ern war Womack vor allem Songlieferant für die Rolling Stones oder Janis Joplin. Anfang der 70er-Jahre hatte er dann eine Hitsträhne unter eigenem Namen, mit lyrisch anspruchsvollen Botschaften („Communication“, „I Can Understand It“) hob er das Soul-Genre auf eine neue Ebene. Die letzten kommerziellen Erfolge feierte Womack in den 80er Jahren: Alben wie „The Poet I“ und „The Poet II“ gelten als Klassiker. Danach wurde es still um den Mann, der bereits Elvis Presley auf der Gitarre begleitet und auch mit Keith Richards, Ron Wood, Stevie Wonder und Marvin Gaye zusammen gespielt hatte. Bis Damon Albarn Womack für ein Dutzend neue Songs ins Studio holte; ein Statement, und ein Album, das den Soul in die Gegenwart holt. „The Bravest Man In The Universe“ ist soeben erschienen.
SZ 23.6.2012

Vom Beat besessen: Ebo Taylor, der 74-jährige Altmeister des Afropop, gastiert im Import/Export

München – Die Welt ist ungerecht: Da gehört der Afrobeat seit den 70er Jahren zu den Bestsellern des Afropop, haben seine Rhythmen längst Eingang in den Indie-Rock und Hip-Hop gefunden, wird sein Pate Fela Kuti als eine Art afrikanischer Che Guevara verehrt – und doch bleibt dessen Zeitgenosse Ebo Taylor jahrzehntelang ein Geheimtipp. Es raunen lediglich ein paar Eingeweihte ehrfurchtsvoll den Namen dieser ghanaischen Musiklegende, der Nummer Zwei des Afrobeat. 74 Jahre alt musste der Sänger und Gitarrist werden, bevor er sein erstes international vermarktetes Solo-Album aufnehmen durfte: „Love And Death“, erschienen 2010 auf dem englischen Strut Label – und seitdem ein Türöffner für Taylor: Seine Songs wurden selbst von R&B-Größen wie Usher gesamplet, er wird auf den Festivals von Sao Paulo über Barcelona bis Tokio herumgereicht.

Einen Anteil an diesem spektakulären Comeback trägt – wer hätte das in der Heimatstadt von Embryo nicht für möglich gehalten? – auch ein Münchner: Jan Weissenfeld, seines Zeichens Mitbegründer der legendären Poets of Rhythm, Vinylsammler und Funk-Gitarrist, begleitet den Ghanaer live und im Studio und hatte auch sein Händchen bei der Produktion im Spiel. Man habe Ebo Taylor zufällig bei einem Auftritt der Berliner Afrobeat Academy in Accra, Ghana, kennengelernt. Und sich gewundert, welche Kraft seine Fusion aus ghanaischem Highlife, amerikanischem Jazz und Afrobeat heute noch – oder wieder – entwickeln könne. „Wir holten ihn dann in ein Studio in Berlin, um seine alten, nur noch auf verkratztem Vinyl erhältlichen Hits nochmals aufzunehmen. Knisterfrei.“ Am Ende aber entwickelte sich aus dieser Session mehr als ein bloßes Retro-Projekt. Ebo Taylors Sound bekam einen modernen Einschlag und entfaltete den ganzen Charme der ghanaischen Afrobeat-Variante: Weicher klingt sie als Fela Kuti, bläserselig und von wunderbaren harmonischen Chören getragen.

Als Ghana 1957 seine Unabhängigkeit erklärte, stand Taylor bereits auf der Bühne. In Kumasi, der Hauptstadt der Ashanti, führte er damals eine Highlife-Band namens Stargazers an. Mit einem zweiten Projekt namens The Broadway Band spielte er amerikanischen Jazz. Ghanas erster Premier Kwame Nkrumah erkannte das Talent des jungen Musikers und schickte ihn zum Musikstudium nach London, wo Taylor mit Fela Kuti jammte. Zurück in der Heimat, revolutionierte Taylor den ghanaischen Pop: Warum nicht den Highlife mit Jazz und Funk aufmöbeln? Nachdem der Highlife in den 70er Jahren an Zugkraft verlor, experimentierte Taylor mit Afrobeat, brachte, ähnlich wie Kuti, sozialkritische Texte und unwiderstehliche Rhythmuswalzen zusammen.

Mitte der 80er Jahre wurde es still um den einstigen Revoluzzer. Drei Jahrzehnte lang spielte der Großmeister des ghanaischen Pop keine Platte mehr ein – bis 2009 die Berliner Afrobeat Academy, Begleitband des deutsch-nigerianischen Rappers Ade Bantu, im Goethe-Institut in Acrra auftrat.

In ihrem Repertoire sind zwei Coverversionen von Ebo Taylor-Songs. Der Autor sitzt im Publikum, nimmt gerührt die Huldigung der Deutschen entgegen. Der Rest ist Geschichte: Die Band um Saxophonist Ben Abarbanel Wolff und Gitarrist Jan Weissenfeld lädt Taylor nach Berlin ein. Auf „Love And Death“ folgt 2012 „Appia Kwa Bridge“. Taylors Stimme hat nichts von ihrer Magie verloren. Die Kombination von funky Highlife-Gitarren und Soul-Gesängen klingt zeitgemäßer als je zuvor – nicht zuletzt, weil Indie-Pop-Größen wie TV On The Radio, Dan Auerbach oder The Vampire Weekend gerade erst auf den Afro-Fusion-Zug aufspringen. Da ist es eine einmalige Chance, in München das Original zu hören: 74 Jahre alt und immer noch vom Beat besessen!
JONATHAN FISCHER
SZ 18.6.2012

Trauer, Schmerz und Zärtlichkeit: Bobby Womack hat wohl mehr durchgemacht als alle anderen Soulsänger. Jetzt ist er zurück und stimmt einen faszinierend modernen Überlebensgesang an.

The bravest man in the universe“, so knarzt es der achtundsechzigjährige Bobby Womack auf dem Titelsong seines Comeback-Albums, „is the one who has forgiven first.“ Der vom Leben gekerbten Stimme dieses Soulmannes zu lauschen, das ist ein bisschen so, wie über die Schrunden eines sehr alten, mächtigen Baumstammes zu fühlen. Nichts schmeichelt über die Zerklüftungen, Risse und Wundmale hinweg. Und doch kommt Ehrfurcht auf: Denn in Bobby Womacks Überlebensgesängen schwingt alles mit, was Soulmusik stark macht: Trauer und Zärtlichkeit, Schmerz und Zuversicht. Vor allem aber: Großmut.

„Wo ein Herz schlägt, da lebt auch ein Traum“, heißt es in einem der Songs von „The Bravest Man In The Universe“, und dass Bobby Womack immer noch an diesen Traum glaubt, ist angesichts seiner Biographie nicht mehr unbedingt zu erwarten. Seine Freunde und Familienmitglieder sind ihm fast alle weggestorben, in jungen Jahren verunglückt, ermordet, an Drogen einfach krepiert. Sein Mentor Sam Cooke, sein Bruder Harry und zwei seiner Söhne starben einen gewaltsamen Tod. Und auch Bobby Womacks Karriere liest sich wie eine Aneinanderreihung von Verlusten – und von Songs, die diese Verluste elegant verpacken: „Nobody Wants You When You’re Down And Out.“

Down and out war Bobby Womack zwei Jahrzehnte lang, bevor ihn sein neues Album wieder in die Popschlagzeilen hievte. Damon Albarn und XL. Recordings-Plattenboss Richard Russell, der zuvor schon Gil Scott-Heron ein spätes Comeback beschert hatte, haben in Womacks Stimme einen seltenen Rohstoff entdeckt – Soul für die Gegenwart! Sie wollten nicht an dem alten Baum herumschnitzen, sondern ihn frei stellen, dem Mann, der bis heute mit seinen Siebziger-Jahre-Hits – „Woman’s Gotta Have It“, „That’s The Way I Feel About Cha“, „Daylight“ oder „Across 110th Street“ – identifiziert wird, ein elektronisches Klangbett verpassen. Es war ein Wagnis. Bobby Womack gilt als Prophet, der stoisch die Werte der alten Schule hochhält und wie kaum ein anderer schwarzer Sänger über vier Jahrzehnte lang Erdigkeit und Eleganz, Gospel und Funk miteinander zu versöhnen wusste. Kam er von diesem Kurs ab, musste er dafür büßen, etwa 1976, als er Country aufnahm: „BW goes C&W“. Die Radiostationen ignorierten ihn, Fans waren offensichtlich geschockt, und die Verkäufe fielen so miserabel aus, dass seine Plattenfirma ihn feuerte.

Und nun nochmals der Versuch, diesen alten Soulkrieger auf ein neues Gleis zu wuchten und seine Jahrhundertstimme mit Hilfe programmierter Beats einem jugendlichen Club-Publikum nahezubringen? Bobby Womack jedenfalls hat einen langen Weg hinter sich: Während einer bitterarmen Kindheit in Cleveland, Ohio, gründete er mit seinen fünf Brüdern eine Gospelgruppe. Sam Cooke nahm sich der Valentinos als Mentor an, beschäftigte Bobby Womack in seiner Tourband, und bald war Bobby Womack ein gefragter Gitarrist. Er spielte mit dem jungen Jimi Hendrix, begleitete Ray Charles, James Brown und später als Sessionmusiker in Memphis auch Aretha Franklin, Dusty Springfield, Elvis Presley und Wilson Pickett, für den er unter anderem „Midnight Mover“ schrieb. Dass sein Song „It’s All Over Now“ den Rolling Stones ihren ersten Hit lieferte, ärgerte ihn, bis ein 400000-Dollar-Scheck eintraf. Dann nahm er mit Janis Joplin am Tag ihres Todes „Mercedes Benz“ auf, wechselte für die Aufnahmen von „There’s A Riot Going On“ in Sly Stones Koks-Zirkus und arbeitete mit Marvin Gaye zusammen, kurz bevor dieser vom eigenen Vater erschossen wurde.

Auch sein Familienleben verlief hoch turbulent: Als Bobby Womack nach der Ermordung Sam Cookes dessen Witwe heiratete, ächtete ihn ein Großteil der schwarzen Community – erst recht, nachdem noch eine Affäre mit der Schwiegertochter publik wurde. Erst Anfang der siebziger Jahre gelingt ihm mit Alben wie „Communication“ und „Understanding“ und dem von Quentin Tarantino wiederverwerteten „Across 110th Street“ der Durchbruch als Interpret. Mindestens genauso großartig aber sind seine „The Poet“-Alben aus den Achtzigern, in denen sein Gesang sich an kühlen Modern-Soul-Arrangements rieb. Der kommerzielle Erfolg nützte Womack wenig: Seine Plattenfirma Beverly Glen enthielt ihm die Tantiemen vor, den Rest seines Vermögens verbriet er für Kokain. Sein letztes Album mit neuen Songs nahm er 1994 auf. Er fühlte sich in jeder Hinsicht ausgebrannt. Die meisten seiner Freunde hatte er mit seinem Drogenentzug Ende der neunziger Jahre verloren. „Ich wollte nicht mehr Teil der Musikwelt sein.“

Bis Damon Albarn ihn vor zwei Jahren zurückholte, zunächst als Sänger für zwei Titel des Gorillaz-Albums „Plastic Beach“, dann für eine Tournee und nun als Solist in Albarns Londoner Studio. Die Idee der Produzenten war, eine neue, zeitgemäße Verpackung für Womacks Stimme zu finden, mehr aus ihm zu machen als einen Retro-Sänger, also auf keinen Fall die rein akustische Rick-Rubin-Nummer zu bringen. Es hätte wohl auch mit Womack funktioniert, seine gegerbte, altersgezeichnete Stimme hochempfindlich zu mikrofonieren, um die Hörer in eine vertrauliche Kaminrunde mit aus der Zeit gefallenen Soulbotschaften zu entführen. Womack aber gab Albarn und Russell sein Einverständnis zu einem betont modernen Electro-Experiment.

Der Titelsong geht dabei noch am vorsichtigsten zu Werke: ein dunkles Cello, mollige Keyboard-Sprengsel, dezent stolpernde Beats. Mehr braucht Bobby Womack nicht, um zur Höchstform aufzulaufen. Er kreischt, er raspelt, er fleht. Und selbst wer keine Silbe versteht, spürt doch, dass es um Sünde und Erlösung, Tod und Wiederauferstehung geht, sich bald siebzig Jahre Lebenserfahrung in einen glühenden Gospel ergießen. Auch die Vorab-Single „Please Forgive My Heart“ hält geschickt die Balance zwischen Soul-Glow und technoidem Electro-Gerassel, bevor Womack auf „Deep River“ zur akustischen Gitarre greift.

Das Klangrezept erinnert an Gil Scott-Herons Comeback-Album. Und es funktioniert auch hier, in acht von zehn Fällen. Dass „Love Is Gonna Lift You Up“ und Womacks Uralt-Gospelnummer „Jubilee“ von autistischem Uptempo-Gedengel ruiniert werden: geschenkt. Dafür hat Womack das Songwriting nicht verlernt und verpackt, wie in der von einem Gil Scott-Heron-Sample eingeleiteten Rhythm-&-Blues-Nummer „Stupid“, seine Weisheiten in wunderbar eingängige Melodien. Unerwarteter Höhepunkt: Ein Duett mit Lana Del Rey -„Dayglo Reflection“ – kontrastiert den Ennui der jungen Pop-Chanteuse mit der gebrochenen Emotionalität Bobby Womacks, und beide gewinnen am Ende. Dies ist das mutigste Comeback, an das sich ein Soulsänger jemals wagte!
JONATHAN FISCHER
FAZ 14.6.2012

Die Früchtchen des Zorns: Kubas Künstler dürfen jetzt mehr und trauen sich was – so war es auf der 11. Biennale von Havanna

Als es Abend wurde auf dem Malecón, kamen wie immer die Liebespaare mit den Rumflaschen, die Musiker und die Kleinganoven, die Zigarren und Mädchen anboten, und alles war im Grunde wie immer in Havanna, nur dass man wegen der 11. Biennale noch schneller mit den Leuten ins Gespräch kam: Was zum Beispiel hatte dieser metallene Ohrenbaum mitten auf der Uferpromenade zu bedeuten? Große Ohrenpaare unten, immer kleinere Ohren je höher man blickt.

„No one listen“ hat der Kubaner Alexandre Arrechea sein Werk genannt. Ein Symbol der Nord-Süd-Ungleichheit, erklärt ein älterer Mann, Ingenieur und KP-Mitglied. Die Entfremdung der bürokratischen Elite „da oben“ vom Volk, sagt eine Kunststudentin. Und Arrechea selbst? Der 42-jährige mit der Afrofrisur, sagt es gäbe keine offizielle politische Konnotation, aber er könne ja nicht verhindern, dass sich die Menschen so ihre Gedanken machen. „Das ist nicht nur ein kubanisches Problem: Die Menschen hören schlechter zu, je höher sie kommen“.

Arrechea steht für eine ganze Generation kubanischer Künstler. Vor einigen Jahren ausgewandert nach Madrid. Ausstellungen in Paris, New York, Los Angeles. Und nun zurück in der alten Heimat, gelockt von der Öffnung der kubanischen Gesellschaft, die seit Anfang 2011 ganz offiziell Parteilinie ist. Seitdem dürfen alle Kubaner Häuser und Autos verkaufen, Werkstätten, Salons und private Geschäfte eröffnen. 178 Berufe stehen ihnen nun – zeitgleich mit der Entlassung vieler Staatsangestellter – zur selbständigen Ausübung frei. Die traurigen Auslagen der staatlichen Lebensmittelgeschäfte bekommen seitdem Konkurrenz auf den Bürgersteigen. Die weitreichendsten Freiheiten aber genießen die Künstler: Wie alle kubanischen Akademiker müssen sie nach einem kostenfreien Hochschulstudium zwei Jahre für den Staat arbeiten. Dann aber dürfen sie – mit Exportgenehmigung des Staates – nach Miami und Madrid verkaufen, oder gleich einen Zweitwohnsitz im Ausland anmelden und sich von westlichen Galerien vertreten lassen. „Der Staat“, sagt Arrechea, „will den Konsens mit der intellektuellen Elite beibehalten.“

So gleichgeschaltet die kubanischen Medien immer noch wirken, die Biennale stieß ein Fenster auf in der bröckelnden autoritär-sozialistischen Fassade. Allein auf dem Malecón spielten Dutzende von Installationen und Skulpturen mit dem offiziellen Biennale-Thema: „Künstlerische Praxis und soziale Vorstellungen“. Eine Catch-All-Phrase für immer wiederkehrende Polaritäten: Dissidenz und Affirmation, Flucht und Zuflucht, Sehnsucht und Verlust. Es war eine Kunst, die nach den Vorgaben des Kurators Jorge Fernández Torres „die heiligen Stätten von Galerien und Museen verlässt, um auch Passanten ohne künstlerische Schulung anzusprechen“. Da schaukelten in den Uferwellen selbst gebastelte Flöße mit Blumen und Kerzen: Fluchtfahrzeuge oder Opfergaben der afrokubanischen Santería-Religion? Und da lockten Hängematten, die dann aber doch zu schmal waren, um sich daraufzulegen. Oder: Da gab ein Maschendraht zwischen Promenade und Meer die Umrisse eines Jumbojets frei. Ein Touristen-Bomber? Oder doch Sinnbild für die Sehnsucht nach Weltläufigkeit, Ausbruch aus der Isolation der Karibik-Insel?

Glenda León, eine junge kubanische Künstlerin mit Stiefvater aus den Vereinigten Staaten hatte das Schwimmbad einer verwitternden Hochhausanlage kurzum zum Wasserweg nach Amerika erklärt. An beiden Breitseiten hatte sie Plastikplanen mit vergrößerten Stadtplänen ausgelegt: Hier Havanna, dort Miami. Mittags rückten die ersten Kubaner mit Badehosen an, besetzten die Liegen an den Ufern, kraulten zu den Verwandten nach Miami und zurück.

Arles del Río ließ ein Dutzend lederne Baseball-Fanghandschuhe auf bronzenen Armknochen gen Himmel ragen: „Hoping that things fall from the sky, or national sport“. Die Knochen, erklärt der Künstler, markierten den Tod in dem Bemühen, auf etwas zu warten, das niemals kommt. In die selbe Kerbe schlug Wilfredo Prietos „Circo Triste“: Zwischen dahinbröckelnden Villen im Stadtteil Vedado hatte er ein blaues Zirkuszelt mit Zuschauerbänken, Manege, Bandstand und Pferdestall aufgebaut. Die Besucher irrten umher. Manche fragten nach einer Vorstellung. Doch – nach einer armseligen Premiere – blieben nur Fußabdrücke und Müll im Sägemehl. Ein leerer, dysfunktionaler Raum. Und die absichtsvolle Enttäuschung der Besucher.

Noch spielerischer inszenierte eine Künstlergruppe um Luis Gárciga und Yunior Aguiar die Wohlstandsträume ihrer Landsleute. Zu sehen war ein verlassener Esstisch: Während mehrerer Monate täglichem Lotteriespiel (auch in Kuba gibt es ein geduldetes Zahlenlotto!) notierten alle Künstler ihre Nummern auf der Tischplatte, jeder Gewinner musste für alle anderen kochen und das schmutzige Geschirr anschließend auf seinem Platz stapeln. Neben dem Tisch standen Türme unbenutzter Teller für all die Nieten. Eine vielschichtige Metapher auf kapitalistische und sozialistische Ideen. Seine Landsleute, sagt Yunior Aguiar, würden solche Installationen immer auch als gesellschaftlichen Kommentar entziffern: „Hier gibt es kaum Möglichkeiten, dissidente Ideen offen zu äußern. So bleibt uns nur die Kunst. Wir Künstler müssen eine Verantwortung als gesellschaftliche Avantgarde übernehmen, agil bleiben, wo die Politik erstarrt“. In den neunziger Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, habe man von der Konstruktion des neuen Menschen, der neuen Gesellschaft geträumt. Inzwischen sei man vom Kollektiv ernüchtert. „Unser Enthusiasmus gilt heute eher individuellen Freiheiten“.

Und doch blitzt das Ideal von der besseren Gesellschaft immer noch auf – nur nicht auf Parteilinie. Wenn man sah, mit welcher Begeisterung nach Yoruba-Art bemalte Freiwillige und Zuschauer einen Straßenumzug des 67-jährigen Künstler Manuel Mendive zu Ehren der afrikanischen Götter feierten, wundert es nicht, dass die KP ihren Mitgliedern seit 1994 auch offiziell ihre Hausaltäre erlaubt: Was man nicht ändern kann, muss man umarmen.

Und diese ideologieresistente Misch-Wütigkeit sickert immer weiter in die Gesellschaft ein. Immerhin durfte 2011 die erste Schwulenparade in Havanna stattfinden. Eine Installation Kchos auf der Festung La Cabana veranschaulichte den neuen Pluralismus: Durch eine Werkstatt, in der Drechselmaschinen, Sägespäne und halbfertige Ruderrohlinge herumstanden, als hätte der Künstler gerade noch gearbeitet, gelangte man zu einer haushohen Skulptur : Ein Floß aus lauter Rudern, die ineinander griffen, in verschiedene Richtungen ausluden – und doch mutete das geordnete Chaos durchaus tragfähig an. Könnte so eine ideale Gesellschaft aussehen? Oder taugt die Ciudad Generosa, die „großzügige Stadt“, ein von individueller bis spleeniger Architektur geprägtes Hüttendorf, das der Kunstprofessor René Francisco Rodríguez mit Studenten auf einer städtischen Brache erbaut hatte, als soziale Utopie?

Auf dem Rückweg über den Malecón holte einen die kubanische Realität ein: Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung stürzte eine Holz-Skulptur um, riss – umringt von fotografierenden Touristen die Bretter des „illegalen“ Kunstwerks auseinander. Es war eine grob gezimmerte Replik der amerikanischen Freiheitsstatue. Darauf stand: Geschenk von Kuba an die Vereinigten Staaten.

Auch wenn hier kein Graffiti ohne Genehmigung entsteht: Gerade die architektonischen Mikro-Eingriffe forderten in Havanna am meisten heraus. Unser Taxifahrer zeigte auf die Riesen-Ameisen, die an der Fassade des Teatro Fausto hochklettern: „Die Ameisen, das sind wir!“ Später half er bei der Suche nach den „Hauswänden mit den alten Gesichtern“ Das waren allerdings nicht die von Fidel Castro oder Che Guevara, sondern das „Wrinkles of the city“-Projekt des französischen Straßenkünstlers JR: Da blickten faltendurchzogene Charakterköpfe in monumentaler Größe von den bröckelnden Wänden. Gesichter anonymer Barriobewohner. JR hatte ihre Schwarzweißporträts hochkopiert und umrankt von den Girlanden des Exilkubaners José Parla als Memento Mori in eine Stadtlandschaft gesetzt, die gerade mit Millionengeldern der Unesco frische Fassaden erhält. „Die Faltengesichter“, erzählte JR, Gewinner des TED-Preises 2011 und für ähnliche Aktionen in Shanghai, Kapstadt und den Favelas von Rio berüchtigt, „verkörpern die Erinnerung einer Stadt, mit all den Narben, die historische, ökonomische und soziokulturelle Wandel hinterlassen haben“. Viele der von ihm interviewten Alten hätten geweint. „Sie haben sich vorher nie als bedeutend erlebt.“

Hierin liegt vielleicht das emanzipatorischste Vorhaben dieser neuen kubanischen Kunst: Die Individuen im Ameisen-Staat zu entdecken, ihre Geschichten auf Augenhöhe mit denen von Che und Fidel zu erzählen. „Viele unserer Eltern“, hatte die junge Kuratorin Sachie Hernández erklärt, „haben sich dafür ausgezehrt, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Wir wollen nicht länger auf die Früchte warten.“
JONATHAN FISCHER
SZ 13.6.2012

Der Grandmaster: Mitte der 70er Jahre hebt Afrika Bambaataa den Hip-Hop aus der Taufe – ein Gespräch über die politische Kraft von Musik

Wenn Afrika Bambaataa nach München kommt, steht für den Hip-Hop-Paten aus der Bronx vor allem ein Ort ganz oben auf seiner Besuchsliste, eine Adresse, die man nicht auf Anhieb mit Rap, MC-ing, Breakdancing oder Graffiti in Verbindung bringt: Die ägyptologische Sammlung. „Ich checke alles aus, was die Vergangenheit der Menschheit betrifft. Was uns unsere Wurzeln verstehen lässt. Mit der Zulu Nation möchte ich andere Kulturen studieren, um herauszufinden, wie wir unsere Zivilisation vorangetrieben oder vermurkst haben.“

Mitte 50 ist Bambaataa inzwischen, ein massiger Typ mit Bart und Holzkette, den man sich im ausgebeulten Trainingsanzug und ausgebleichter Baseball-Cap nur schwer in einem zeitgenössischen Hip-Hop-Video der Sorte Yacht- und Champagner-Party vorstellen kann. Zum Interview in einem Harlemer Soulfood-Imbiss lässt er die Sonnenbrille auf. Nicht aus Image-Gründen. Sondern weil er tags zuvor wie die meisten Tage im Jahr hinter den Plattenspielern gearbeitet hat und seine Augen sich erst an das grelle Tageslicht gewöhnen müssen.

Schon als Kind, sagt Bambaataa, habe er diesen Wissenshunger in sich verspürt: „Ich sah damals TV-Serien wie ,Star Trek‘ und Science Fiction Filme – und fragte mich, ob es nicht noch mehr gebe als die populäre Version der Wahrheit. Du kannst dich als Teil von Hip-Hop nicht um Wissen drücken, Wissen war immer Grundlage unserer Bewegung.“

Bambaataa diskutiert gern über Geschichte. Oder die Randgebiete der Wissenschaft. Man kann sich mit ihm stundenlang über die kemetische Kultur im alten Ägypten, über die schwarze Hautfarbe Jesu oder Ufologie unterhalten. Der Mann, der seit Mitte der 70er Jahre in der verwahrlosten South Bronx Block-Partys schmiss und die Zulu Nation als friedliche Alternative zu den oft gewalttätigen Gangs gründete, scheint Lichtjahre entfernt von den Vermarktungsorgien für Reifenfelgen, Schuhe und Softdrinks, mit denen Hip-Hop heute seinen Hauptumsatz macht. Verfolgt er überhaupt noch, was heute via Radio und TV als Hip-Hop präsentiert wird? „Party und Bullshit. Du kannst über nackte Ärsche und was immer du willst rappen – am Ende sollte es aber eine Art Balance geben.“

Die richtige Balance zu finden, war von Anfang an das Bestreben von Afrika Bambaataa, der als Warlord in einer berüchtigten lokalen Gang namens The Black Spades fungierte und mit 16 Jahren eine DJ-Battle gewann, bevor er auf die Idee kam, seinen Einfluss für die Verbesserung der Lebensbedingungen im Ghetto zu nutzen. Zum Beispiel mit der Zulu-Nation – Bambaataa benannte sie nach den Film „Zulu“ von Michael Caine – eine quasi-spirituelle Gemeinschaft unter einem Groove. Hip-Hop bedeutete Hoffnung: Man vertrieb die Drogendealer von den Partys. Trug Rivalitäten strikt auf der Tanzfläche aus. Und feierte außerirdische Neon-Verkleidungen als Ausdruck von Individualität.

Damit legte Bambaataa den Grundstein für Hip-Hop als weltweite kulturelle und soziale Bewegung. Er hatte genug street credibility, um selbst hartgesottene Gangster von seiner Wahrheit zu überzeugen: dass Hip-Hop und Wissen Brüder sind. „Ein guter DJ muss mehr kennen als seine Platten, er muss Sequenzen, die Stimmung seiner Zuhörer, die Mathematik der Beats kennen. Jeder MC muss sich mit Atemtechnik beschäftigen. Selbst die Graffiti-Künstler wären nichts, stünde nicht ein Wissen hinter ihrer Kunst. Eigentlich ist Wissen das erste Element von Hip-Hop, aber wir haben es – nach DJ-ing, MC-ing, B-Boying und Graffiti – das fünfte Element getauft.“

Es war Mitte der 70er Jahre, als Bambaataa den fiebrigen Aufbruchsgeist in die Bronx führte, den DJs wie Kool Herc und Grandmaster Flash in ganz neue Kanäle lenkten: Die Konkurrenten mögen die gewaltigsten Verstärker gehabt haben. Aber niemand verfügte über eine so eklektische Plattensammlung wie Bambaataa. Niemand spielte ausgefallenere Breaks. Niemand wagte es, sich so weit aus den Kellerfenstern der Bronx zu lehnen, um das musikalische Universum von deutscher Elektronik bis zu indischer Sitar-Musik zu umarmen. Seine Mixtapes kursierten für 20 bis 40 Dollar. Großes Geld war mit Hip-Hop zwar noch kaum zu verdienen. Aber Ansehen.

Anfang der 80er Jahre gehörte Bambaataa mit zu den ersten, die Hip-Hop über den Hudson nach Manhattan brachten, um in den Galerien und Clubs von Greenwich Village Post-Jazz und Proto-Punk-Einflüsse aufzusaugen. Afrika Bambaataas Eklektizismus fand hier zur Perfektion. James Brown, Sly Stone, Gary Numan, Malcolm-X-Reden, Kraftwerk und selbst Beethoven im selben Mix? Kein Problem. Hauptsache intensiv. Hauptsache unerhört. Auch Bambaataas eigene Aufnahmen erweisen sich als Avantgarde. 1982 veröffentlicht er mit der Soulsonic Force „Planet Rock“, ein Stück, das Funk, Electro-Beats und die Melodie von Kraftwerks „Trans Europa Express“ fusioniert – und bis heute stilprägend wirkt: Ohne Bambaataa wären House, Techno und Electro in ihrer jetzigen Form kaum vorstellbar. Mit der Zulu-Nation übersetzt Bambaataa seine Prinzipien in eine alle Grenzen ignorierende Hip-Hop-Ethik. „Ist doch egal, ob wir weiß, braun, schwarz, gelb oder rot sind. Frag lieber, wie du vor 1492 genannt wurdest! Rassen sind nur eine Illusion, die dazu dient, uns gegenseitig zu bekämpfen!“

Noch redete niemand von Polit-Rap, als Hip-Hop-Pate Bambaataa 1984 den Soul-Paten James Brown traf, um sein Ideal in eine großartige Funknummer zu übersetzen: „Unity, Part 1“. Bambaataa engagierte sich in der Folge gegen die Apartheid in Südafrika, tourte durch mehrere afrikanische Länder und organisierte mit „Hip-Hop Artists against Apartheid“ 1990 ein großes Benefiz-Konzert zugunsten des ANC im Londoner Wembley-Stadion, bei dem er den gerade freigelassenen Nelson Mandela und dessen Frau Winnie auf die Bühne brachte. Klar, dass dieser Aktivist der ersten Stunde heute ein wenig einsam wirkt. Seine Mission aber wird Bambaataa nie aufgeben: „Hip-Hop ist im Kern eine politische Bewegung – wir wissen bloß oft nicht, welche Macht wir als Konsumenten haben.“ So lancierte die Zulu Nation 2006 eine erfolgreiche Kampagne gegen die rassistischen und frauenfeindlichen Auswüchse bei der New Yorker Hip-Hop-Radiostation Hot 97. Der Sender spendete daraufhin einige Millionen Dollar für Wohlfahrtsorganisationen und entschuldigte sich öffentlich.

Während heute zunehmend die Ränder der Pop-Welt ins Zentrum rücken, Afrobeat, Ghettotech und Electro-Cumbia die Clubs erobern, scheint Bambaataas Zeit gerade erst angebrochen zu sein: „Die meisten Hip-Hop-DJs verfügen über eine fantastische Technik. Aber ihnen fehlt der Mut. Ich kann mir kein Set vorstellen, in das nicht auch Bob Marley, AC/DC, Gnarls Barkley oder Miles Davis passen.“ Dann nimmt Bambaataa die Sonnenbrille ab: „Hip-Hop ist größer als wir glauben!“
JONATHAN FISCHER
SZ 9.6.2012