Der amerikanische Soul-Veteran Lee Fields ist tief in der Tradition verwurzelt. Zusammen mit seiner jungen Hipster-Band The Expressions aus Brooklyn katapultiert er die Schmerzenslust des Deep Soul in die Gegenwart.
Lee Fields auf der Bühne zu erleben, das bedeutet jedes Mal eine Überrumpelung. Man würde diesem freundlichen, kleinen Mann, dessen schlichter Anzug so gar nichts von der glamourösen Sex-Machine seines einstigen Soul-Genossen James Brown ausstrahlt, der sich gestisch auf ein paar fahrige Handbewegungen beschränkt und dem bereits im Stehen die Schweissperlen wie Tränen über das zerfurchte Gesicht laufen, wohl kaum dieses Gewaltaubruchs verdächtigen. Dieser Himmel-und-Höllen-Fahrt. Bis er den Mund aufmacht.
«Fields‘ Stimme», schrieb ein Kritiker, «hat die entsetzliche Wucht eines Ledergürtels in der Hand eines gewalttätigen Vaters und gleichzeitig die Verletzlichkeit der Kinderärmchen, die sich zum Schutz vor den Schlägen erheben.» Keine Übertreibung. Denn der alte Mann brennt es den Nachgeborenen geradezu ins Nervensystem, dass Soul ein Abgrund aus Schmerz, Leiden und Enttäuschung ist, dem sich allerdings dank menschlicher Seelenkraft eine unbedingte Bejahung des Lebens abtrotzen lässt. Schrecklich. Schrecklich schön.
Fields liefert den harten Stoff, von dem man auch nach drei Alben auf dem Brooklyner Truth-And-Soul-Label nicht genug bekommt. Nach der 2009 veröffentlichten CD «My World» und «Faithful Man» aus dem Jahr 2012 haben Lee Fields & The Expressions nun ein neues Set herausgebracht: «Emma Jean» gräbt noch einmal tiefer als die Vorgänger, wagt sich an eine mit den 1960er Jahren assoziierte, Blues-gesättigte Funkiness, ohne jemals ins Nostalgische abzurutschen. Songs wie «Talk To Somebody», «Eye To Eye», «Paralyzed» triefen geradezu vor Gefühlen der Verlassenheit und Entfremdung. Und doch schafft Lee Fields stets den Umschwung zur Katharsis, stets boxt er sich, angefeuert von Soul-Bläsern, stechenden Gitarren-Riffs und präzisen Funk-Rhythmen, aus der Misere, um das Blatt elegant zu wenden – wie einst Muhammad Ali gegen George Foreman.
Vergleiche mit Soul-Legenden tun Fields Unrecht. Er singt in einer Klasse für sich: altmeisterlich-geschmeidig, aber nie abgeklärt. Da hört man ihn bald tief und kehlig grollen, bald lustvoll schmachten, das Flehen eines Mannes, der zu reif ist, um an das billige Glück zu glauben. Sei es die Lässigkeit, mit der er JJ Cales Ballade «Magnolia» zum Brennen bringt, oder die Paarung von Melancholie und Leichtfüssigkeit in «Just Can’t Win»: Selten kam Soul so mühelos dahergetanzt. Dabei sah es lange so aus, als würde Lee Fields eine Fussnote im Soul-Lexikon bleiben. Einer der Helden, von denen nur ein paar Sammler raunen. Möglich, dass man einen guten Mann nicht ewig unten halten kann – wie es so viele Soul-Songs beschwören – und dass Fields‘ Durchhaltevermögen letztlich den Ausschlag gab. Denn wo andere längst das Handtuch warfen, hat der Soul-Veteran immer gesungen – ob jemand zuhörte oder nicht. Bereits seit 1969 steht er auf der Bühne, er liess sich einst vom Deep-Soul-Grossmeister O. V. Wright in der Zelebrierung des Unglücks anlernen, nahm ein Dutzend erfolglose Singles auf, veröffentlichte 1979 ein obskures und seitdem teuer gehandeltes Debütalbum und tingelte durch die Südstaaten – mit einem Sound, der zum Rohesten des Rohen gehörte, James Brown in die Kirche zurückholte und Otis Redding in den Beichtstuhl. Jahrzehntelang waren Lee Fields‘ Soul-Dramen dem sogenannten Chitlin‘ Circuit, einer unterhalb des Mainstream-Radars existierenden schwarzen Lokal-Szene, vorbehalten. Bis 2002 ein paar Soul-fanatische Hipster aus Brooklyn ihn ins Studio zerrten. Das Album «Problems» brachte Fields‘ zweite Karriere in Schwung und machte ihn zusammen mit ähnlich tragisch erfolglosen Veteranen wie Sharon Jones und Charles Bradley zum Fackelträger eines Revivals, das wohl selbst Fans kaum zu erträumen wagten: Südstaaten-Soul mit Hipster-Bonus. Der Sound der 1960er Jahre mit der Dringlichkeit des Hier und Jetzt.
Was aber macht die Aktualität dieses einst von Ray Charles und Little Richard revolutionierten Vokalstils aus? Warum entdeckt die Generation iPod einen vermeintlich historischen Schmirgel-und-Schmutz-Sound? Wohl gerade deswegen: weil sich hier Texte und Arrangements noch aneinander reiben und der Gesang als quasireligiöses Ritual im Vordergrund steht. Gewichtungen also, die dem modernen Produzenten-Rhythm’n’Blues und dessen Arrangements diametral entgegenlaufen. Es wäre aber zu einfach, das Alte gegen das Neue auszuspielen. Lee Fields‘ Musik ist nicht retro. Sondern quasi eine postmoderne Konstruktion: Seine junge Brooklyner Band zitiert und montiert Versatzstücke der schwarzen Musikgeschichte, plündert die eigene Plattensammlung mit der Do-it-yourself-Attitüde des Hip-Hop, motzt Riffs auf, schneidet Überliefertes zurecht. Damit daraus Soul wird, braucht sie vom Schicksal gezeichnete Stimmen des Alten. Umgekehrt würde Lee Fields ohne seine weisse Begleittruppe noch immer im Ghetto des Südstaaten-Soul verharren, auf Mother’s Day Picnics, in Kasinos und Kaschemmen zwischen Alabama und Texas auftreten und seine mit billigem Keyboard-Sound selbstproduzierten Alben lokalen Blues-Sendern andienen.
Auf «Emma Jean» treffen sich beide Welten: der schwarze Blues-Klub und die Speerspitze des alternativen Soul. Und obwohl hier alles – vom harten Snare-Sound bis zur molligen Bläser-Interpunktion – perfekt sitzt, hat die Musik eine entspannte, ja fast träumerische Qualität. Lee Fields scheint seine Songs nicht bloss zu intonieren, er lebt förmlich in ihnen. Deshalb ist «Emma Jean» das überzeugendste Soul-Album der letzten Jahre.
Lee Fields & The Expressions: Emma Jean (Truth and Soul)
JONATHAN FISCHER
NZZ 24.10.2014