Monatsarchiv: Februar 2015

FREMDE FEDERN – Vom Straßenkampf zur Touristenattraktion: Zu Mardi Gras tragen die Black Indians ihre bunten Kostüme durch die ärmsten Viertel der Stadt. Wer dazugehören will, muss früh anfangen, die Gesänge zu lernen – und sich sein Kostüm selbst nähen können.

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Sonntagabend im Handa Wanda’s, einem langen, baufällig wirkenden Schuppen in der heruntergewirtschafteten Innenstadt von New Orleans. Aus einem Raum dringen Männergebrüll und Melodiefetzen durch die offen stehende Tür, interpunktiert von Tamburins, Congas, an die Wand klatschenden Fäusten. „Some gonna run, some gonna hide, some gonna scream and some gonna hide!“, dröhnt es dumpf. Die Rhythmen könnten auch einem Voodoo-Gottesdienst entstammen. So furchterregend sind sie, so nah an der Trance. Draußen, vor dem überfüllten Club, liegen Plüschtiere unter einer Straßenlaterne, wie ein Altar für das Kind, das hier bei einer Schießerei unter Drogendealern ums Leben kam. Ohne die Ankündigung einer „Mardi Gras Indian Practice“ würden sich wohl kaum Touristen in diesen Abschnitt der Dryades Street trauen.

  Die Black Indians oder Mardi Gras Indians sind die mit den meisten Mythen umrankte Truppe des Karnevals in New Orleans. Am Faschingsdienstag, dem „fetten Dienstag“, ziehen die legendären schwarzen Indianerstämme in farbenprächtigen, mit Federn und Perlen besetzten Kostümen durch die Straßen der Stadt. Ein Anblick, der vorübergehend alle Armut und Gewalt in New Orleans vergessen lässt. Lange feierten die Schwarzen dieses dezidiert afro-karibische Spektakel vor allem für sich selbst. Lagen doch die animistischen Traditionen Haitis und Kubas dem Immigrantenhafen New Orleans stets viel näher als Mainstream-Amerika. Erst neuerdings hat die Stadt die Mardi Gras Indians als Touristenmagnet entdeckt.

  Bevor es losgeht, muss die Choreografie einstudiert werden. Dazu treffen sich die Mitglieder der Stämme das ganze Jahr über einmal in der Woche im Handa Wanda’s zum Proben. Auf einer erhöhten Galerie am Ende des kahlen Raums steht ein Dutzend Trommler. Davor drängen sich die Zuschauer: Jugendliche in Hip-Hop-Montur, daneben 60-Jährige in Arbeiterkleidung. Fast alle sind schwarz. Durch einen Schlitz in der Wand wird Bier gereicht. Alle blicken zu der schmalen Gasse in der Mitte des Schuppens, hier tanzen Mitglieder verschiedener Stämme gegeneinander an. Die Choreografie soll Dramatik erzeugen: Einige Tänzer starren sich an, heben die Arme, als ob sie mit Pfeil und Bogen aufeinander zielten. Die Gesten sind herausfordernd, aber sie zeigen auch Respekt vor dem anderen, etwa in der Anrufung gegnerischer Häuptlingsnamen. Immer wieder stoßen neue Stammesdelegationen dazu. Allerdings ist nicht zu erkennen, wer zu welcher Gang gehört, weil alle in ihrer Alltagskleidung erscheinen. Als ein paar Neuankömmlinge versuchen, mit eigenem Chant, dem typischen rhythmischen Gesang, alles durcheinanderzubringen, liegt eine Ahnung von Gewalt in der Luft. Bis ein Mann, der im Gewühl einen Stab mit aufgepflanztem Totenschädel schwingt, zum Mikrofon greift. „Kehrt um, wir beugen uns nicht!“ Der Spyboy, der Späher der Creole Wild West, hat gesprochen, seine Autorität wird anerkannt. Ruhe im Saal.

  „Eigentlich gelten wir als Straßenkämpfer“, wird Irving „Spyboy Honey“ Banister später erklären, „aber man nennt uns Mardi Gras Indians, weil man uns früher nur während Mardi Gras zu Gesicht bekam.“ Nein, als Klamotte will er den Aufzug keinesfalls verstanden wissen. Banister ist Mitte vierzig, ein schmaler Mann, dessen Goldzähne aufblitzen, wenn er in trägem Südstaaten-Slang spricht. Den Schwarzen, erzählt Banister, sei früher nicht erlaubt gewesen, an den Umzügen der gutbürgerlichen Mardi-Gras-Vereine, den Krewes, teilzunehmen. Also hätten sie sich mit einem Trick beholfen: Schwarze Männer ernannten sich selbst zu Indianern und organisierten eine Gegenveranstaltung zum offiziellen Karneval. „Wir machen das seit mehr als 100 Jahren“, sagt Banister. Aber warum ausgerechnet Indianer? Banister geht wie viele Historiker davon aus, dass die Schwarzen damit den indianischen Ureinwohnern Respekt zollen wollten. Diese hatten einst entlaufene Sklaven beschützt und aufgenommen, ihnen die Kunst des Perlenstickens beigebracht. Eine andere Theorie besagt, der erste schwarze Indianerstamm der Creole Wild West habe sich nach einem Besuch der Buffalo Bill Wild West Show im späten 19. Jahrhundert in New Orleans formiert. Heute sind die Mardi Gras Indians Zusammenschlüsse schwarzer Arbeiter; die Mitglieder übernehmen zusätzlich zu den Karnevalsvorbereitungen auch noch soziale Aufgaben in der Nachbarschaft. Gut 38 Stämme gibt es heute, Wild Magnolias heißen sie, Wild Tchoupitoulas, Yellow Pocahontas oder Golden Eagles.

  Lange sah es so aus, als würde die Tradition aussterben. „Bis in die neunziger Jahre fanden wir kaum Nachwuchs“, erklärt Sylvester Francis, der Betreiber des Backstreet Cultural Museum im Treme-Viertel. „Polizei und Behörden schikanierten die Black Indians. Es gab immer mehr Auflagen, die Mitglieder wurden manchmal sogar verhaftet, wenn sie ohne Genehmigung auf der Straße tanzten.“ Hurrikan Katrina , der 2005 über New Orleans wütete, habe aber auch in dieser Hinsicht die Stadt verändert. Viele Schwarze, die zeitweise ihre Heimat verlassen mussten, hätten nach ihrer Rückkehr zum ersten Mal den Wert der eigenen Kultur entdeckt. Dasselbe gelte für die Stadtspitze, sagt Francis.

  Er führt durch sein traditionelles Holzhaus, in dem er seit zehn Jahren ausstellt, was er vor den Sturmfluten retten konnte: Musikinstrumente, Fotos und historischeKostüme der Mardi Gras Indians. Heute, so erzählt er, würden in New Orleans nicht nur neue Stämme gegründet. Seit Neuestem nähmen die Stämme auch Mädchen auf – bislang war der Karneval der Schwarzen reine Männersache. Auch so eine Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, wie Sylvester Francis erklärt. „Um ein Black Indian zu werden, muss dich der Big Chief akzeptieren. Schon die Kinder lernen dafür. Denn nur wer die Chants kennt und sein Kostüm selbst näht, darf mitmachen.“

  Der Karnevalszug selbst wirkt wie eine trotzige Vergewisserung der eigenen Identität. Und er funktioniert nach eigenen Regeln: Während verschiedene Stämme tanzend und singend zum vereinbarten Treff ziehen, dem Battlefield, folgt ihnen das ebenfalls tanzende Fußvolk, die sogenannte Second Line. Viele schlagen Tamburins und Kochtöpfe, andere auf Verkehrsschilder am Straßenrand. Die Begeisterung geht manchmal in Anarchie über.

  Der eigentliche Showdown ist das Aufeinandertreffen der Big Chiefs: ein Chanten und Kreiseln und Tanzen bis zur totalen Erschöpfung. Wer mitziehen will, fragt am besten Einheimische nach der Route. Touristen sind den Black Indians generell willkommen. Allerdings führen diese Umzüge durch die ärmeren Viertel der Stadt, wo man während eines Umzugs sicher ist, ansonsten aber besser nicht spazieren gehen sollte.

  Inzwischen zeigen sich die Black Indians nicht nur an Mardi Gras in vollem Ornat auf der Straße, sondern auch ein paar Wochen später am St. Joseph’s Day und dem sogenannten Super Sunday. Immer noch zehren sie von ihrem einst furchterregenden Ruf. Einem Spyboy etwa kam traditionell die Aufgabe zu, die Route auszuspähen, bevor ein Stamm vorrückte. In früheren Jahrzehnten war das eine nicht ungefährliche Aufgabe, denn Prügel und Messerstechereien gehörten dazu. Das sollte sich erst in den 1940er-Jahren ändern, als Big Chief Allison „Tootie“ Montana den gewalttätigen Wettbewerb zu einem gewaltlosen machte. „Montana“, sagt Banister, „brachte alle dazu, die Messer und Waffen niederzulegen. Seitdem messen wir uns nur noch symbolisch. Heute geht es darum, wer der schmuckste Big Chief ist. Und wer das originellste Kostüm trägt.“

  Als wir den Spyboy der Creole Wild West am nächsten Tag im Stadtteil Marigny treffen, trägt er einen verdreckten Overall. Seine Arbeitskleidung. Wie Superman besitzt auch ein Black Indian stets eine zweite, unspektakuläre Geheim-Identität. Big Chief Bo Dollis etwa arbeitete lange als Autowäscher, Honey Spyboy Banister verdient sein Geld als Maler. Derzeit streiche er Wände und Decken eines Clubs, erzählt Banister. Dort, im Cafe Istanbul, tritt er zudem abends regelmäßig mit der Band Voices of New Orleans Revue auf.

  „Musik gehörte schon immer zu unserer Identität“, sagt Banister. „Es heißt, dass der Jazz und der Funk unserer Stadt ohne uns nicht so klingen würden, wie sie klingen.“ Tatsächlich bezogen sich, von Louis Armstrong bis zu den Neville Brothers, viele Popstars der Stadt auf die Rhythmen der Black Indians. Selbst die Rapper zollen ihnen Respekt. Und viele Musiker kooperieren mit ihnen auf der Bühne. Im Cafe Istanbul trägt Banister heute einen Kopfschmuck aus rosa Straußenfedern und spektakuläre, dreidimensionale Perlenstickereien auf der Brust. Seine Shouts dröhnen roh und wuchtig. „Said Jak e Ma fino Ma Ho Tan Dey“, singen alle mit. Ethnologen vermuten, dass Sätze wie diese westafrikanische Wurzeln haben, aber niemand weiß mehr genau, was das schwarze Patois wirklich bedeutet.

  Später zeigt Banister seine vernarbten Fingerkuppen: „Das kommt vom Nähen“, sagt er. Er hat den Anspruch, sich jedes Jahr ein neues Kostüm zu fertigen. Banister deutet auf das Brustteil, seine Beinkleider, die zehn Kilo schwere Federkrone. „Sie haben mich mehr als 10 000 Dollar gekostet. Vor allem aber viel Zeit.“ In den drei Monaten vor Mardi Gras sitze er täglich an seinem Kostüm, erzählt er.

  Es ist zehn Uhr abends, als Banister sich verabschiedet. Er muss ja noch nähen, bis halb drei Uhr morgens macht er das für gewöhnlich. „Dann schlafe ich drei, vier Stunden, stehe auf und nähe weiter“, sagt Banister. „An Mardi Gras wird das Kostüm fertig sein.“

JONATHAN FISCHER

SZ 12.2.2015