Monatsarchiv: September 2022

Der Bibliothekar, der sein Leben riskierte


Als Mali von islamistischen Milizen überfallen wurde, machte sich Abdel Kader Haidara auf eine gefährliche Reise. Er schmuggelte Tausende Schriften aus Timbuktu. Nun sind sie im Internet einsehbar. Ein Besuch in seiner Werkstatt in Bamako – und in einem Land, das wieder zwischen die Fronten gerät.

Wir sind in Mali, Bamako, Baco Djocoroni. Auf einem ungeteerten Weg, vorbei an Ziegen und spielenden Kindern erreicht man einen unscheinbaren malvenfarbenen Flachbau. „Savama-DCI“ steht auf einer Banderole im Eingangsbereich: so heißt die Organisation, die Dr. Abdel Kader Haidara einst gegründet hat, um die Manuskripte von Timbuktu zu retten und konservieren.
Im Internet lassen sich jetzt über 40.000 nach Themen geordnete Manuskriptseiten einsehen. Begleitend sind den arabischen Originalen englische Übersetzungen der Hauptaussagen beigefügt. In seinem Büro im ersten Stock empfängt der Chef-Bibliothekar Haidara in traditioneller, bestickter Tunika.


Herr Haidara, Ihr Schreibtisch ist voller Bücher und Papierstöße, in den Regalen daneben türmen sich in Lederkladden gefasste Originalmanuskripte. Wie sieht Ihre tägliche Arbeit aus?
Abdel Kader Haidara: Ich kontrolliere einerseits die schon konservierten Manuskripte. Andererseits durchforste ich noch nicht erfasste Schriften: Was berichten sie, wie alt sind sie, sollen wir sie übersetzen lassen? Wir sind nach zehn Jahren mit dem Gros der Konservierung und Digitalisierung durch. Nur noch einige tausend der Schriften lagern zur Bearbeitung in unseren klimatisierten Lagern.

Für die Online-Präsentation von 40.000 Seiten, die vom 11. bis zum 20. Jahrhundert reichen, haben sie sieben Jahre lang gearbeitet. Was hat so lange gedauert?
Haidara: Zunächst war die Konservierung ein langwieriger Prozess. Und dann ging es darum, eine repräsentative Auswahl zu treffen, Schlüsselpassagen zu identifizieren und zu übersetzen. Sodass die Leser nachvollziehen können, warum diese Manuskripte das kollektive Gedächtnis Afrikas und der Menschheit repräsentieren.

Vor genau zehn Jahren haben Sie diese Manuskripte aus dem von Dschihadisten besetzten Timbuktu herausgeschmuggelt und 285.000 von ihnen in Sicherheit nach Bamako gebracht. Wie kam es dazu?
Haidara: Ich war damals Leiter einer der größten Familienbibliotheken von Timbuktu, der Mamma Haidara Memorial Library. Zusammen mit anderen Bibliothekaren kümmerte ich mich bereits seit 2007 darum, die oft seit Jahrhunderten in Häusern eingemauerten oder gar in der Wüste versteckten Manuskripte zusammenzutragen und digital zu erfassen. Als die Dschihadisten 2012 Bibliotheken plünderten und Manuskripte verbrannten, mussten wir dringend handeln: Wir Bibliothekare konnten mit der
Unterstützung der Einwohner Timbuktus unvorstellbaren Schaden von diesem UNESCO-Weltkulturerbe abwenden. Nachts katalogisierten und verpackten wir die alten Handschriften in über 1000 Metallkisten und schmuggelten sie unter Obst- und Gemüsekisten versteckt aus Timbuktu heraus. Von dort aus transportierten sie Kuriere mit Pirogen auf dem Niger und anschließend mit Lkws bis Bamako.

Wegen dieser waghalsigen Aktion werden Sie von westlichen Medien gern als eine Art Superheld-Bibliothekar, der „badass librarian of Timbuktu“ betitelt. Gefällt Ihnen das?
Haidara: Nun ja, meine Mitstreiter und ich haben für diese Aktion auf jeden Fall unser Leben riskiert. Aber war das wirklich übermenschlicher Mut? Damals schienen wir gar keine andere Wahl zu haben, wenn wir die Zeugnisse unserer großen alten Zivilisation nicht für immer verlieren wollten….

Sie haben das aus Liebe zur Wissenschaft getan?
Haidara: Sie müssen eines verstehen: Die Manuskripte, die meine Familie und andere Familien aus Timbuktu seit Generationen hüten, gelten nicht als Teil des elterlichen Erbes. Sondern der am meisten interessierte Sohn wird mit der Pflege und Instandhaltung der Bibliothek betraut. In meiner Familie war ich derjenige. Damit geht eine große Verpflichtung einher.

Sie wurden andererseits auch kritisiert und vom britischen Journalisten Charlie English in seinem Buch „The Booksmugglers of Timbuktu“ verdächtigt, die Gefahr übertrieben und westliche Hilfsgelder veruntreut zu haben.
Haidara: Ich kenne die Anschuldigungen. Aber ich habe mir nichts vorzuwerfen. Jeder kann unsere Buchhaltung kontrollieren, da ist alles ordentlich festgehalten.

Wie erklären Sie sich dann die Vorwürfe?
Haidara: Sie stammen im Wesentlichen von einem einzigen Journalisten. Charlie English war enttäuscht, dass ich nicht mit ihm zusammenarbeiten wollte. Ich hatte bereits eine exklusive Kooperation mit dem Autor Joshua Hammer (für dessen Buch „The Bad Ass Librarians of Timbuktu“) vereinbart.

Zurück zur zweifellos verdienstvollen Arbeit, die Sie mit Ihrem Savama Institut geleistet haben: Nach welchen Kriterien haben Sie die Manuskripte ausgewählt, die nun im Netz veröffentlicht werden?
Haidara: Ich habe zuerst die umfangreichsten und gewichtigsten Bücher berücksichtigt. Und dann noch einmal nach den Inhalten sortiert: Die ausgewählten Bücher handeln von Religion, Rechtsprechung, Sozialkunde, Medizin, Geschichte und Geografie. Vieles daraus wirkt bis heute brandaktuell. Darunter etwa eine Schrift über die Korruption und ihre negativen Auswirkungen auf den Staat aus dem 19. Jahrhundert.

Welche Rolle hat Deutschland bei der Restaurierung gespielt?
Haidara: Wir haben Deutschland sehr viel zu verdanken. 2014 kam ein Team von Restauratoren von der Uni Hamburg, um uns auszubilden – in Hochzeiten waren es bis zu 140 Angestellte, die in diesem Haus an der Konservierung und Digitalisierung arbeiteten. Zusätzlich kam etwa von der Gerda-Henkel-Stiftung eine Menge technische Hilfe. Ohne deren Entfeuchtungsgeräte drohten die aus Timbuktu geretteten Manuskripte während der Regenzeit in Bamako zu verrotten.


Sie haben vor acht Jahren vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier den Afrikapreis entgegengenommen und dabei auch mit deutschen Bibliothekarskollegen Kontakt aufgenommen. Was ist Ihnen davon geblieben?
Haidara: Mich hat ein Besuch des historischen Archivs der Staatsbibliothek in Berlin schwer beeindruckt. Mit welchem Aufwand in Ihrem Land Kulturgüter geschützt werden! Um zu den alten Büchern zu gelangen, musste ich durch mehrere Schleusen hindurch, Sicherheitstüren wurden geöffnet und geschlossen bis hin zu einem Aufzug in einen voll klimatisierten Keller…

Das Gegenteil von den Zuständen in Mali?
Haidara: Nun ja, wenn man gerade aus Bamako kommt und Hunderttausende historischer Manuskripte provisorisch in Metalltruhen und Koffern gelagert hat, ist das natürlich ein harter Kontrast. Wir hatten damals Garagen zur Lagerung angemietet. Aber die Gefahr für die Manuskripte bestand nicht nur durch das feuchte Klima, sondern auch durch ihren Wert. Die Orte waren folglich geheim und rund um die Uhr bewacht. Heute kann ich sagen: Wir haben 95 Prozent der insgesamt über 450.000 Manuskripte aus Timbuktu und Umgebung für die Nachwelt gerettet

Welches der vielen Manuskripte hat Sie persönlich am meisten beeindruckt?
Haidara: Dazu gehört auf jeden Fall ein medizinisches Buch aus dem 15. Jahrhundert: Es handelt von der Kunst des Operierens, speziell Operationen der Geschlechtsorgane. Das hatte ich nicht erwartet. Die Beschreibungen gehen bis hin zu Analysen der Gewebezellen und der Blutwerte…

Die Zeugnisse der alten Universitätsstadt Timbuktu scheinen in vieler Hinsicht dem Mythos von der Rückständigkeit der islamischen Welt zu widersprechen.
Haidara: Tatsächlich gibt es da ein weiteres Lieblings-Manuskript von mir. Es stammt aus dem 18. Jahrhundert und behandelt die Menschenrechte aus der Perspektive der Frauenrechte. Das beginnt mit der Heirat: Die Frau muss ein Mindestalter haben, der Bräutigam muss die Respektierung ihrer Rechte garantieren, und sie, wenn sie schwanger ist, schonen und versorgen. Als Nächstes kommt das Recht des Neugeborenen und Kindes auf Zuwendung, Nahrung, Erziehung. Von ihm aus werden die allgemeinen Menschenrechte entwickelt. Sie enden nicht mit dem Tod. Denn auch der Verstorbene hat das Recht auf seine Würde.

Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Und die Konservierung der Manuskripte kostet hunderte Millionen von Euro. Warum halten Sie es trotzdem für wichtig, diese Schriften für die Menschheit zu erhalten?
Haidara: Wir können bis heute viel aus diesen alten Schriften lernen. Sie sind – weil sie bisher in Familienbesitz waren und weder Universitäten noch Bibliotheken zur Verfügung standen – eine noch nicht erschlossene Fundgrube für die Wissenschaft. Und dann korrigieren sie auch ein Weltbild: Lange glaubte man im Westen, dass das präkoloniale Afrika ein unzivilisierter Flecken auf der Landkarte war. Nun wird klar: Wir besitzen eine reiche Schriftkultur, Afrikaner haben schon seit einem Jahrtausend ihre Geschichte und Wissenschaft in Büchern festgehalten.

Kommen viele Forscher zu Ihnen, um sich mit den Inhalten der Manuskripte zu beschäftigen?
Haidara: Anfangs riss der Strom der Journalisten, Historiker und Wissenschaftler kaum ab. Aber heute kommt kaum noch jemand nach Bamako. Der Militär-Coup, das Embargo der Nachbarländer und die Nachrichten über die Attentate der Dschihadisten schrecken die meisten Besucher ab. Aber Sie merken das bestimmt selbst: Bamako bleibt friedlich. Jeder geht hier seinem Alltag nach wie immer.

Mir ist aufgefallen, dass die ganze Welt über die Manuskripte von Timbuktu berichtet, in Bamako aber wissen viele Menschen kaum etwas darüber. Wie wollen Sie das ändern?
Haidara: Das ist der nächste Schritt: Wir sind gerade mit dem Kulturministerium dabei, die Manuskripte auch für lokale Schulen und Universitäten aufzubereiten. Schließlich kann die Beschäftigung mit ihnen nicht nur unser Wissen erweitern – sondern malischen Studenten auch ein ganz neues geschichtliches Selbstverständnis verleihen. Inshallah! So Gott es will!

Interview: Jonathan Fischer

Die Welt 7.9.2022

bsh