Monatsarchiv: November 2012

Chloe Charles: Gott als Kröte

Wenn eine Sängerin als Stiefschwester von Julian Lennon und folglich weitläufige Verwandtschaft des Songwriter-Gottes John Lennon vorgestellt wird, geht ein großes Fenster der Erwartungen auf. Man denkt an die Beatles und Imagine – und ist erst einmal überrascht, es mit einer schwarzen Folk-Soul-Chanteuse aus Toronto zu tun zu bekommen. Dabei wäre der Hinweis komplett überflüssig gewesen: Chloe Charles weiß von ganz allein zu überzeugen. Die Songs ihres Debütalbums Break The Balance sind von einer Delikatesse und Eigenständigkeit, als wollten sie dem Hörer im Vorübergehen zuwispern: Trau dich ruhig, ein bisschen kompliziert zu sein. Um das Komplizierte dann ungemein natürlich über die Rampe zu bringen.

Experimente, so die Autodidaktin und ehemalige Psychologiestudentin, bewahrten sie nun einmal vor Langeweile, und nichts sei langweiliger, als andere zu kopieren. Nein, all die Vergleiche mit Joni Mitchell, Feist oder Joanna Newsom in Ehren: Charles’ helle Kopfstimme und die leicht verzickten, von Geigen-Stakkati, Cello-Brummen und akustischen Gitarren untermalten Arrangements entwickeln eine ganz eigene, nervöse Aura. Statt aufs Eingängige zu spekulieren, sind sie von einer elektrischen Unterkühltheit, die zunächst so gar nicht zur Anmutung von Chloe Charles als üppiger Hippie-Braut passen will. »Demons rock me from the inside of my body« , singt sie im Titeltrack, und das ist mehr als so dahingesagt: Immer wieder schleicht sie um die dunklen Ränder der Seele, selbst beim feenhaften Soon On A Snowflake sind die Schatten zu spüren.

Charles’ erklärtes Vorbild? Björk! Und tatsächlich, deren pantheistische Spiritualität klingt durch, wenn sie, mal bloß vom Geiger Davide Santi, mal von einer Folk-Combo im Stop-and-go-Rhythmus begleitet, die dunklen Wälder Kanadas durchstreift. Kein Zufall, dass die kleine Chloe das Singen am Teich ihres Großvaters erlernt haben will: Auf Break The Balance gibt es viel Naturmystik, Gott kommt als Kröte zu uns und die Soulsängerin als Schamanin – Let’s Get Naked! Aber auch diese offensiv vorgetragene Einladung bleibt vertrackt, denn das scheinbar Simple ist hier soundtechnisch wie kompositorisch mit allen Wassern gewaschen. Schon Oscar Wilde wusste: »Die einfachen Dinge sind der letzte Trost komplizierter Menschen.«
Jonathan Fischer
DIE ZEIT 29.11.2012

Vaters Dominosteine – Alltägliche Szenen aus dem Leben eines Rappers: Mit »Good Kid, M.A.A.D City« hat Kendrick Lamar das Hip-Hop-Album des Jahres gemacht

Alltag in Compton: Junge Mädchen gehen an einer Straßenkreuzung mit Eimern von Auto zu Auto und sammeln Spenden für die Beerdigung eines ermordeten Jugendlichen. Das Viertel gilt als Kriegsgebiet inmitten einer der wohlhabendsten Metropolen der Welt. Es gibt Kinder aus diesem Viertel von Los Angeles, die in ihrem Leben noch nie den gerade mal zehn Meilen entfernten Strand gesehen haben: zu gefährlich, durch die umliegenden feindlichen Gang-Territorien zu fahren. Wenn »made in Compton« dennoch weltweit als Gütesiegel gilt, dann wegen seiner Hip-Hop-Helden. NWA, Ice Cube, Dr. Dre, zuletzt The Game machten den Gangster-Rap aus Compton seit Ende der achtziger Jahre zu einem Exportschlager: böse Action-Märchen vor dem Hintergrund von staatlicher Vernachlässigung, Polizeiwillkür und Crack.

Nun liefert ein 25-jähriger Rapper aus ebendiesem Compton das beste Hip-Hop-Album des Jahres – und enttäuscht doch alle Erwartungen. Gut so! Good Kid, M.A.A.D City versucht sich erst gar nicht an der Gangster-Sause. Lamar setzt vielmehr den Schlussakkord unter ein zuletzt zur bloßen Protzerei verkommenes Genre. Keepin’ it real – mit diesem Mantra bemäntelte der Hip-Hop die Tatsache, dass seine Szenerien längst mehr an Seifenopern als an echte Straßenkultur erinnerten. Kendrick Lamar kehrt zu den Anfängen zurück, indem er die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der inmitten einer rauen, von Machoposen beherrschten Welt mit seinen guten Vorsätzen ringt. »Früher«, sagt der reserviert, aber freundlich auftretende Rapper im Interview, »habe ich wie alle anderen geglaubt, ich müsse mich supertough geben, um Platten zu verkaufen. Aber es fühlt sich sehr viel besser an, von meinen eigenen Erlebnissen zu erzählen.«

Zu denen gehört das Privileg, mit Vater und Mutter aufgewachsen zu sein: Das gab ihm genug Selbstvertrauen, um sich keiner Gang anschließen zu müssen. »Ich habe als Jugendlicher in Compton die besten und schlechtesten Erfahrungen meines Lebens gemacht: Die schlechtesten, dazu gehörte, mit den Homies auf der Straße abzuhängen und ziemlichen Mist zu bauen. Die besten lagen in der Sicherheit, die mir meine Familie gab.« Auf Good Kid, M.A.A.D City erzählt Lamar von beiden Welten. Ein Tag im Leben eines Rappers: Wir begleiten Lamar beim gemeinsamen Abhängen mit einem Haufen junger Männer, wir sind mit dabei, wenn sie im geliehenen Van seiner Mutter durch das Viertel kreuzen. Lamar wechselt in Rollenspielen immer wieder zwischen Biografie und Fiktion, zieht seine Zuhörer tief in seine inneren Kämpfe hinein. Ein Film läuft ab, vor unseren Augen und Ohren, der von Ruhmsucht, Alkoholmissbrauch und Gruppenzwang handelt.

»Wir sind nicht ignorant geboren, sondern dazu gemacht worden«

Das passende Ambiente besorgt Sherane a.k.a. Master Splinter’s Daughter: Ein 17-jähriger gerät auf der Suche nach einem Sex-Abenteuer in ein fremdes, bedrohliches Viertel. Dazwischen eine Anrufbeantworter-Ansage von Lamars Mutter, die erste von vielen, die den Plot interpunktieren. Halt dich von der Straße fern, mahnt sie, komm lieber nach Hause, um nach Vaters fehlenden Dominosteinen zu suchen. The Art Of Peer Pressure berichtet vom Plan zu einem Raub. In einem großen inneren Monolog beschreibt Lamar, wie er sich vor Freunden brüstet, um seine Unsicherheit zu überspielen. Doch ob Polizeisirenen erklingen oder Schießereien für Adrenalinkicks sorgen, überall lauert ein moralisches Dilemma: Martin had a dream, ruft Lamar einmal – um gleich darauf Martin Luther Kings Traum mit der Schäbigkeit der eigenen bitches and dollars- Fantasien zu konterkarieren. »Das ist meine Art der Selbstkritik«, erklärt er. »Uns fehlen die Führerfiguren, Menschen, die uns vorleben, was wichtiger sein könnte als Geld und Luxusgüter.«

Schon Lamars 2011 erschienenes, nur über iTunes vertriebenes Albumdebüt Section 80 riss die Kritiker hin. Dieser distanziert-detaillierte Erzählstil, diese rhythmische Raffinesse! Lamars Qualitäten als Rapper erregten die Aufmerksamkeit von Dr. Dre, dem Paten des Gangster-Rap, dessen Produktionskünste bereits Eminem, 50 Cent, Snoop Dogg und The Game ins Rampenlicht beförderten. Dr. Dre nahm Lamar unter Vertrag, im Sommer des vergangenen Jahres rief er ihn auf einer Bühne in Los Angeles gar zum neuen »König des Westküsten-Hip-Hop« aus. Nur Begeisterung löste das nicht gerade aus: Der Wechsel vom Underground in den Mainstream ging schon zu oft mit Qualitätsverlusten einher. Würde der bescheidene junge Mann zum Star für alle hochgepimpt werden? Zum Glück erwiesen sich solche Befürchtungen als grundlos.

Die Beats auf Good Kid, M.A.A.D City kommen angenehm trocken und mit federnder Eleganz daher. Was die Raps anbelangt, hat Dr. Dre bloß hervorgehoben, was Lamar am besten kann: in wechselnden Tempi zu erzählen, um zwölf Ecken herum gedachte Wortspiele auszuhecken und mit einem Wahnsinns-Flow abzuliefern. Nein, dieser junge Meistererzähler braucht keine Gimmicks. Gangster-Rap war der Aufstand der angeblich schlecht erzogenen, aufmüpfigen, hoffnungslosen Ghetto-Jugend, Kendrick Lamar sagt: »Wir sind nicht ignorant geboren, sondern dazu gemacht worden. Meine Raps zeigen, wie wir wirklich ticken.«

Das Hip-Hop-Album als Entwicklungsroman: Compton mag nicht zu retten sein, der Sprechgesang aber lebt.
Jonathan Fischer
DIE ZEIT, 29.11.2012

Voll Fett: Für afroamerikanische Sklaven und ihre Nachfahren war die Zubereitung von minderwertigem Fleisch notgedrungener Alltag. Heute steht „Soulfood“ für das Lebensgefühl des schwarzen Amerika – und wird auch in Deutschland gerne nachgekocht

Zu viel Fett, zu viel Zucker, zu viel Fleisch! Soulfood, die traditionelle afroamerikanische Küche, hatte in letzter Zeit einen schweren Stand. Das gewachsene Ernährungsbewusstsein vieler Amerikaner drohte ihr den Garaus zu machen. Kochen wie die Großmutter aus den Südstaaten? Innereien in Fett ausbacken, Blattkohl mit viel Speck dünsten, dazu Maisbrot mit Butter und stark gezuckerten Eistee servieren: Das galt vor allem als Cholesterinbombe. Und doch entdeckt gerade eine gehobene kulinarische Klientel den Reiz von Soulfood, bekennen sich amerikanische Prominente von LL Cool J über Oprah Winfrey bis zum wahlkämpfenden Barack Obama zur Küche ihrer Ahnen. Dieser Tage erscheint auch ein neues deutschsprachiges Soulfood-Kochbuch: „Soulfood – Fat & Yummy“ im Trikont Verlag, verfasst vom Münchner Koch und Journalisten Sven „Katmando“ Christ. „Das fettige Essen der afroamerikanischen Küche kommt zurück“, behauptet der Autor. Einerseits rücken neuere ernährungswissenschaftliche Untersuchungen das Fett in ein besseres Licht – andererseits trägt die afroamerikanische Küche immer auch den Stolz auf die eigene Geschichte mit sich. Soulfood gehört in dieser Hinsicht genauso selbstverständlich zum Lebensgefühl des schwarzen Amerika wie Basketball und Gospelgottesdienst. Es geht, wie der Name schon sagt, um Seelennahrung.

Ihren Namen erhielt die afroamerikanische Küche in den 1960er-Jahren, zu Zeiten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Soulmusik, Soulmode, Soulfood. Plötzlich stand auch das Essen für Unbeugsamkeit und Zusammenhalt. Tatsächlich versprachen die oft unfassbar großen Portionen Fried Chicken, Chitlins genannte Schweine-Innereien oder Barbecue-Rippchen, die in afroamerikanischen Küchen traditionell mit glasierter Jamswurzel, Käse-Makkaroni, roten Bohnen und Maisbrot serviert werden, Generationen von Schwarzen etwas Opulenz im Alltag. Und obwohl die Deftigkeit undzeitaufwendige Zubereitung vieler Soulfood-Gerichte anachronistisch erscheinen mag, reizt – wie bei einem diesermit Bläsern und Streichern orchestrierten Soulsongs – gerade ihre sinnliche Überfrachtung.

Schon die richtige Zubereitung eines fettgebackenen Hühnchens kann da quasi-religiöse Züge annehmen: Soll man es lieber ausbacken oder panieren? In Schweineschmalz oder Öl frittieren? Und wie viel Salz, Pfeffer und Tabasco darf in die Marinade? Oft sind es überlieferte Familienrezepte, die von den Soulfood-Köchen mit eigenen, neuen Ideen kombiniert werden. So legt ein Koch in Atlanta die Hühnchen einen Tag lang in Salzlake ein, um sie den darauf folgenden Tag in Buttermilch zu marinieren. Andere Kollegen glasieren das Hühnchen in Honig- und Senf-Marinaden. Oder braten es wie Mamie’s Spoonbread in Harlem mit nur wenig Öl in der Pfanne. „Soulfood“, sagt Norma Jean Darden, einst eines der ersten afroamerikanischen Supermodels und heute New Yorks bekanntester Soulfood-Caterer, „ist unsere persönliche Fahrkarte in die Vergangenheit.“

Die hohe Kunst der einstigen Arme-Leute-Küche aus dem amerikanischen Süden: Veredeln, was andere wegwerfen. Die Sklaven und ihre Nachfahren mussten oft mit den Teilen vom Tier vorliebnehmen, die als minderwertig galten und bei der Schlachtung abfielen. Schweinsfüße, -ohren und -schnauzen, Hühnerflügel, Rippen, Kutteln und Innereien. Aber was man daraus zaubern konnte! Um das Fleisch schmackhafter zu machen, buken die Köche es entweder in Fett aus oder kochten es über längere Zeit, während sie viele Gewürze, Zucker und Fett als Geschmacksträger zugaben.

Ergänzt wurde die Kost durch selbst gezogenes Gemüse wie Blattkohl und das, was die heimischen Seen, Bäche und Wälder hergaben. So gehörten Eichhörnchen, Waschbär oder Beutelratte bis in die 1960er-Jahre hinein zu den Standardgerichten der ländlichen afroamerikanischen Bevölkerung. Viele der Lebensmittel gehen dabei auf die Küche der Sklaven zurück. So sollen etwa scharfe Pfefferschoten, Melonen, Okra, Reis und Sesam einst von Afrika in die Südstaaten eingeführt worden sein. Wie auch die langsam mit Speck gegarten Gemüseeintöpfe. Und wenn im „Soulfood“-Buch ein in Erdnussbutter, Tomatenmark und Chili gekochtes Hühnchen als Groundnut Stew vorkommt, findet man das gleiche Rezept unter dem Namen Maffé in Senegal.

Auch für Anleihen von den Nachbarn waren die schwarzen Südstaatler offen: Angeblich geht die Angewohnheit, Hühnchen und anderes Fleisch in Fett zu frittieren, auf schottische Siedler zurück, die diese Tradition in die Südstaaten mitbrachten, wo sie auf ähnliche afrikanische Kochmethoden stießen. Ebenso hat die italienische Küche ihre Spuren hinterlassen: Sie zeigen sich besonders in den beliebten Käse-Makkaroni, die als Sättigungsbeilage Süßkartoffeln und Jamswurzeln Konkurrenz machen. Andere Gerichte gehen auf die indianischen Ureinwohner zurück. Etwa Cornbread, ein leicht gesüßter, krümeliger Blechkuchen aus Maismehl, der warm serviert wird und dessen Überreste am nächsten Tag als Panade verwendet werden können.

Bisher ist Soulfood – im Gegensatz zur Schwester Soulmusik – kaum über Amerika hinausgelangt. Gut, jeder kennt Fastfood-Derivate wie Chicken Wings und Spare Ribs. Aber Chitlins, Gumbo, Hoppin’ John? Umso bemerkenswerter, dass Sven Christ nun in seinem „Soulfood“-Kochbuch nicht nur vier Dutzend Standardrezepte, sondern auch einige Eigenkreationen zusammengetragen hat – begleitet von einer CD mit alten „Rhythm ’n’ Blues“-Nummern wie „Pig Snoots“, „Cornbread“ oder „Roast Possum“ bis zu thematisch verwandten Hip-Hop-Tracks. Schließlich ist Christ über seine DJ-Leidenschaft zur Soulfood-Küche gekommen. „Wenn man ,Ham Hocks and Beans‘ zum fünften Mal gespielt hat“, schreibt er im Vorwort seines Kochbuchs, „will man schließlich wissen, was denjenigen inspiriert hat, diesem Essen ein Lied zu widmen.“ Bot er aber entsprechende Gerichte in seinen Caterings und Kochkursen an, musste er viel erklären. Soulfood? Das sei schon immer das Gegenteil zu Kaviar und Premiumstücken gewesen. Christ hat die Rezepte auf Reisen zwischen der South Bronx und New Orleans gesammelt, oft vor dem Herd befreundeter Hip-Hopper. Vieles erinnerte ihn dabei an die heimische bayerische Küche. Etwa das Prinzip „nichts umkommen lassen“: es spiegelt sich in Rezepten wie Hirn und Ei oder Potlikker, einer aus dem Gemüse gekochten und mit gepökeltem Schweinefleisch angereicherten Soße, wider. Auch eingelegte Ferkelklauen, die vielbesungenen „Pickled Piglets Feets“, landen da schnell mal mit Sternanis, Ingwer und Senfkörnern im Glas.

Daneben nehmen sich Hummer- und Shrimp-Gumbo, der frittierte Wels auf Kürbisgemüse oder die mit Maisbrot, Jalapeno und Rosinen gefüllte Rinderzunge fast wie High-End-Küche aus. Bei vielen der Gerichte allerdings reicht bereits die Rezeptlektüre für einen gewissen Schauer: Alligator-Eintopf etwa klingt unheimlich. Schmeckt aber kaum anders als zartes Kalbfleisch. Oder doch lieber geröstetes Eichhörnchen? Nicht jedes Soulfood-Gericht lässt sich hierzulande eins zu eins nachkochen. Aber mit etwas Phantasie findet man meist Ersatz. Für die als Gemüsebeilage so beliebten Collard Greens hat Christ unter dem Vorwand, er brauche Kaninchenfutter, die Kohlrabiblätter vom Gemüsestand eingesammelt. „Dann etwas Schwarte von einem Schinken, Essig und Schweinenacken stundenlang im eigenen Saft garen, für die leichte Schärfe zwei Pfeffersorten verwenden, und schließlich noch das Grünzeug dazu.“ Vom Original kaum zu unterscheiden! Und wenn man geräucherten Truthahn statt Speck nimmt, auch für den Cholesterinspiegel verträglich. Die entfetteten und moderneren Varianten von Soulfood, die Christ am Ende seines Buchs vorschlägt, in Ehren. Doch die Südstaaten-Oma-Küche wird immer ihre Anhänger finden. Wie hatte Sammy Davis Jr. sich einmal mokiert? „Ich mag ja den Luxus der Waldorf-Türme ganz gut leiden, aber der Zimmerservice bringt einfach kein Soulfood.“
JONATHAN FISCHER
SZ 16.11.2012

Die hipsten Rattenfänger des Planeten Der Afrobeat pulsiert heute in New York: Das Brooklyner Kollektiv Antibalas changiert zwischen Fela Kuti, Hiphop und globaler Protestmusik.

Nirgendwo leben wohl mehr Hipster auf einem Haufen als in Williamsburg. Ein Konzert in dem von Medienmachern, Künstlern und Musikern frequentierten Bohème-Viertel von Brooklyn bedeutet immer auch eine Nagelprobe für die eigene Hipness – wie auch die Chance, die Popmusik mit neuen Klangfarben und Rhythmen voranzutreiben. So jedenfalls lautet die selbstgestellte Mission von Antibalas. Hätte Miles Davis nicht schon vor drei Jahrzehnten behauptet, der Afrobeat sei die Musik der Zukunft, würde es wohl schnell jedem klar, der heute die zwölfköpfige Formation aus Brooklyn hört.

An einem milden Abend im Williamsburg Park – noch vor dem Hurrikan Sandy – haben sich gut zehntausend Zuschauer mit Decken und Klappstühlen auf dem ehemaligen Parkplatz am East River eingefunden. Der Duft von Marihuana liegt in der Luft. Vollbärtige Typen und Frauen in Patchwork-Kleidern stehen für Zen-Burger oder „Big-Gay“-Eiscreme an, andere Stände verkaufen grünen Tee oder bewerben Bürgerinitiativen. Sobald die sechs Antibalas-Bläser auf der Bühne das erste schmutzige Riff anblasen, geht eine sanfte Bewegung durch die Menge. Der Afrobeat hämmert nicht, sondern wirkt wie eine unterstützende Sprungfeder. Hüftschwung und Wiegeschritt – auch auf der Bühne: Schlagzeuger und Conga-Spieler treiben ihre gegenläufigen Rhythmen voran, eine psychedelische Orgel verzahnt sich mit dem Beat, während die Gitarren ihren funky „Chicken-Scratch“ unterlegen. Das mag man so schon mal bei Fela Kuti gehört haben. Aber diese dicken Bässe? Und die so dicht wie Hiphop-Samples gestaffelten Riffs? Was bei dem nigerianischen Afrobeat-Gründer einst in zwanzigminütigen Jams dahinplätscherte, komprimieren seine Jünger aus Brooklyn auf kompakte fünf bis sechs Minuten. Entsprechend schieben die Rhythmen! Bisweilen wirkt es, als würden die Antibalas-Musiker einen Druckkochtopf notdürftig unter Verschluss halten, mit ihren Riffs die Energie gerade mal so im Zaum halten – bevor das Raumschiff abhebt und ganz Williamsburg auf eine neue Bewusstseinsstufe hievt, in die Afrosphäre schießt. Schließlich ist der Afrobeat heute längst ein globales Leitmedium des Protests. Wenn Fela Kuti noch gegen das korrupte Militärregime in seinem eigenen Land ansang, hat heute jede westliche Großstadt ihre Afrobeat-Combo.

Wenngleich der amerikanisch-nigerianische Sänger Abraham Amayo bisweilen ein paar Brocken Yoruba in seine englischen Texte mischt, dringt die politische Botschaft doch unmissverständlich durch: „Him no go catch the rat / Him no get security“, chantet er den Refrain des neuen Stücks „The Rat Catcher“. Es geht um einen Rattenfänger: Der baut immer größere, perfektere Fallen, doch er fängt nur Katzen, Hunde oder Eichhörnchen, während die Ratten sich munter vermehren. Die Parallelen zur amerikanischen Sicherheits-Paranoia, dem Kampf gegen das Bedrohliche und Fremde, das verstehen hier alle.

Bei Antibalas spielen Musiker asiatischer, lateinamerikanischer, angelsächsischer und afrikanischer Herkunft. Als die Gruppe, deren Name der spanische Ausdruck für „schusssicher“ ist, sich vor fünfzehn Jahren gründete, war nach Ansicht des Bandleaders Martin Perna die Sozialkritik im Hiphop und alternativen Rock so gut wie verstummt. „Wir aber wollten Musik für die Front machen. Und was lag da näher, als weiterzumachen, wo Fela Kuti einst aufhörte?“

1997 schien Afrobeat so gut wie vollständig von der Szene verschwunden. Mit Ausnahme von Kutis Sohn Femi führten allein Antibalas das Erbe dieses großartigen Musik-Bastards fort. Perna hatte zuvor jahrelang bei den Dap-Kings – der Begleitband von Sharon Jones und später auch Amy Winehouse – mitgespielt, doch in dieser geschlossenen Welt des alten Soul und Funk fehlte ihm etwas. „Ich selbst bin mexikanischer Herkunft, und habe in Kuba Querflöte studiert“, sagt der Antibalas-Saxophonist. „In diesen Gesellschaften dient Musik eher als soziales Bindemittel – während man sich im Westen gerne Identität über Abgrenzung sucht“. Pernas Weltoffenheit beschränkt sich nicht auf die Musik: Er hat Lehmarchitektur bei einem iranischen Professor studiert, praktiziert in einer Santeria-Gemeinde und betreibt nebenbei Gartenbau, um seine Familie so weit wie möglich selbst zu versorgen. Mit Antibalas, sagt er, sollten verschiedene Welten zusammen finden. Afrobeat und Salsa, Soul, Hiphop und karibischer Funk. Frühen Alben wie „Talkativ“ und „Who Is This America“ hört man diesen Anspruch an. Am experimentellsten klingt das 2007 von John McEntire (Tortoise) produzierte Opus „Security“ mit seinen Jazzrock- und Electro-Anwandlungen.

Nun geht die Reise wieder zurück: Das neue, schlicht selbstbetitelte Album „Antibalas“ wurde wieder auf Daptone Records veröffentlicht und gleicht eher einer Forschungsreise in die große Afrobeat-Tradition. „Wir haben innerhalb der traditionellen Grammatik eine Menge Freiheit entdeckt. Zwischen 80 und 180 Beats per Minute, einem Sechsachtel- und einem Viervierteltakt lassen sich jede Menge neue Texturen finden“, sagt Perna. Stücke wie „Dirty Money“ schaffen es mühelos, Protestbotschaft und elektrisierende Rhythmuswalze zu verbinden.

Schon seit Jahren sind Martin Perna und Kollegen vielgefragte Studiogäste: etwa auf Alben von TV On The Radio. Selbst die Hiphop-Szene schätzt das Brooklyner Kollektiv und rekrutiert daraus gern Live-Musiker. Zwar verdienen Antibalas noch immer nicht genug, um allein von ihrer Band zu leben. Dennoch haben sie es geschafft, dass Afrobeat nicht mehr nur mit nigerianischen Musikern wie Tony Allen und Fela Kuti assoziiert wird. Perna sieht im Afrobeat eine „globale hybride Musik“, die “ zur DNA der amerikanischen Großstadt gehört“. Jedenfalls ließen sich die Parolen der Occupy-Bewegung, all die Rattenfänger- und Schmutzgeld-Fabeln noch nie so gut tanzen wie zu diesem Album. Selbst Moral kann manchmal verdammt sexy klingen.
JONATHAN FISCHER
FAZ 17.11.2012

Land der Gewinner: Der Drehbuchautor David Simon über Großstädte, das Ende des Rassismus und die Kultur der Armut in Amerika

Kaum ein Autor hat die amerikanischen Städte so gut verstanden wie der Drehbuchautor David Simon. In der Serie „The Wire“ beschrieb er am Beispiel Baltimore den Niedergang der amerikanischen „Inner City“. In „Treme“ erzählt er die Geschichte von der Wiedergeburt New Orleans’ nach den Verwüstungen des Hurrikans Katrina . Beide Serien stehen für Entwicklungen, die sich in jeder amerikanischen Großstadt finden. Und nach dem Hurrikan Sandy hat gerade die Wiederaufbaugeschichte von „Treme“ eine beunruhigend aktuelle Bedeutung.

SZ: Sind die optimistischen Erzählungen vom Neuanfang im New Orleans nach „Katrina“ in „Treme“ ein Bruch mit Ihren Langzeitrecherchen bei der Polizei und den Drogenhändlern von Baltimore für Ihre Bücher und „The Wire“?

David Simon: „Treme“ ist eigentlich die logische Ergänzung zu „The Wire“. Es geht darum, was die amerikanische Stadt leisten kann. Und ihr Potenzial als Schmelztiegel. In New Orleans hat die Unterschicht einen Gemeinsinn über alle ethnischen Grenzen hinweg entwickelt, aus dem einst die größte kulturelle Errungenschaft Amerikas hervorging: der Jazz. Er wäre nicht ohne die Weißen und ihre europäischen Instrumente passiert und nicht ohne die trommelnden Sklaven auf dem Congo Square mit ihren pentatonischen Melodien.

Hat sich in New Orleans nach „Katrina“ nicht auch ein kräftiger Pessimismus gehalten?

Sicher. Die Politik der Bush-Regierung wirkt bis heute. Nach Katrina kam die Hilfe nur zögerlich. Einige republikanische Politiker wollten die Stadt sogar ganz aufgeben und nicht wieder aufbauen lassen. Nicht zuletzt, weil sie mehrheitlich schwarz und demokratisch war, eine liberale Insel in einem sehr konservativen Staat. In der Folge ist die Stadt nun seit Katrina viel weißer geworden. Und sie wählt zuverlässiger republikanisch.

Kann man so eine demografische Veränderung in so kurzer Zeit denn steuern?

Die Stadt ließ die Sozialwohnungsblocks schleifen, um dem Drogengeschäft Herr zu werden. Angeblich – nach dem Abriss stieg die Kriminalität nämlich an. Aber es wird viel für das wirtschaftliche Wachstum getan. New Orleans ist eigentlich arm und hat wie viele der amerikanischen Großstädte aus der zweiten Reihe ein riesiges Drogen- und Gewaltproblem. Doch je mehr Mittelstand dorthin zieht, desto besser für die städtischen Steuereinnahmen. Also werden die Armen vertrieben. Auch wenn es eigentlich die Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft sein sollte, die Ursachen der Armut anzugehen.

Das ist ja auch eines der Leitmotive von „Treme“: Dass die einfachen Leute vergeblich auf Hilfe von oben warten. Hat Ihre Fernsehserie der Straßenkultur von New Orleans in Amerika eine gewisse Anerkennung verschafft?

Ich bin kein Missionar. Diejenigen, die New Orleans lieben, lieben es. Diejenigen, die die ewige Party auf den Straßen hassen, hassen sie noch immer. Diese Stadt spaltet Amerika. Weil sie uns mit unserer Angst vor dem Fremden konfrontiert.

Kann man das in Amerika denn so klar definieren – das Fremde?

Die Angst vor dem anderen hat schon zu vielen Massenmorden in der amerikanischen Geschichte geführt. Und ich bezeichne den sogenannten Krieg gegen die Drogen mit seinen Zehntausenden Toten und Millionen gewaltlosen Kleindealern, die unsere Gefängnisse füllen, als Genozid. Die armen Schwarzen in den Inner Citys sind Überschuss-Amerikaner. Unsere Wirtschaft braucht sie nicht mehr. Deshalb sollen sie verschwinden.

Aber hat nicht die Wahl Obamas zum Präsidenten gezeigt, dass ein überwiegender Teil der Amerikaner den alten Rassismus hinter sich gelassen hat?

Die große Mehrheit der Amerikaner entwickelt eine Art Farbenblindheit. Und das ist gut so. Für mich war es selbstverständlich, in eine Schule mit 20 Prozent Angehörigen von Minderheiten zu gehen. Wir waren überzeugt, dass wir uns zu einer immer besseren, toleranteren Gesellschaft entwickeln. Tatsächlich hat dieses Land seit meiner Jugend die schlimmsten rassistischen Exzesse und Animositäten überwunden.

Heißt das, der Klassenkampf hat sich vom Rassismus abgelöst?

Ja, deswegen können wir uns jetzt als Gesellschaft moralisch erst einmal besser fühlen. Oder wie die Republikaner auf ihrem Parteitag auch ein paar braune und schwarze Gesichter um uns scharen und gemeinsam auf die Armen schimpfen: Sind doch selbst schuld an ihrer Arbeitslosigkeit und Kriminalität!

Viele der einstigen Obama-Wähler waren enttäuscht, weil er angeblich nicht genug für die Armen getan hat. Sehen Sie eine Perspektive für die amerikanische Unterschicht?

In Amerika reden wir immer über die Gewinner. Niemand redet über diejenigen, die es nicht geschafft haben. Aber es muss auch Platz in Amerika für diejenigen geben, die keine Gewinner sind. Die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben.

Das klingt nach klassischer Kapitalismuskritik.

Ich habe überhaupt nichts gegen den Kapitalismus. Er ist das einzige System, das bisher dazu in der Lage war, Wohlstand für die Massen zu schaffen. Nur sollte er im Dienste gesellschaftlicher Gerechtigkeit bestimmte Rahmenbedingungen erfüllen. Schließlich war das auch mal Teil des Mythos: Wenn du dich an die Regeln hältst, wirst du vielleicht nicht reich, aber du wirst genug zum Leben haben. Vielleicht kannst du dir keine Reservierung in einem Edelrestaurant leisten, aber für eine Pizza reicht es. Und am Ende der Woche hast du etwas Geld übrig und musst dich nicht vor der Mietzahlung fürchten. Dieses Versprechen gilt heute nicht mehr.

INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ, 6.11.2012

In Deutschland laufen „ The Wire “ und „ Treme “ derzeit auf Sky Atlantic. Die fünfte Staffel von „The Wire“ erscheint am 9. November als deutsche DVD.