Monatsarchiv: September 2021

Für zwei Säcke Reis

Das Mädchen mit der lauternen Stimme“: Der Debutroman der Nigerianerin Abi Daré erzählt vom Überlebens-Kampf eines Hausmädchens in Lagos

Abi Daré

„Das Mädchen mit der lauternen Stimme“: Der Debutroman der Nigerianerin Abi Daré erzählt vom Überlebens-Kampf eines Hausmädchens in Lagos

Kann das Leben mit 14 Jahren schon zu Ende sein? Adunni scheint keine Wahl zu haben. Das Dorf- Mädchen aus Nigeria muss alles, was sie sich im Leben wünscht, aufgeben: Die Schule besuchen, Lehrerin werden, ein selbstbestimmtes Leben führen. Abi Darés Debutroman nimmt den Leser mit an einen Ort, wo archaische Traditionen mehr zählen als Frauenrechte, wo Greise sich Teenager als Zweit- und Drittfrauen nehmen und das Gesetz in der Hand der Dorfältesten liegt. „Wenn du zur Schule gehst, wird dich keiner in diesem Dorf zwingen, irgendeinen Mann zu heiraten… Deine Schulbildung ist deine Stimme Kind. Sie spricht für dich, auch wenn du gar nicht den Mund aufmachst“. Das war die letzte Ansprache der schwerkranken Mutter. Nach deren Tod aber hält der Vater sein Versprechen nicht, die Tochter in der Schule zu lassen: Stattdessen bietet er Adunni dem sehr viel älteren Taxifahrer Morufu als Drittfrau anbietet: Gegen die Hausmiete, ein paar Ziegen, und zwei Säcke Reis.

Schulbildung, entgegnet der Alkoholiker-Vater auf die verzweifelten Bitten seiner Tochter, sei nur das Rezept für einen „aufmüpfigen Charakter“. Für Adunni beginnt eine lange Flucht: Vor Morufu, der sie vergewaltigt, vor dessen eifersüchtiger Erstfrau, die sie schlägt, vor einem Leben, in dem erwartet wird, dass junge Mädchen Ehemännern zu Diensten sind und ihnen – möglichst männlichen – Nachwuchs gebären. Als Hausangestellte einer reichen Familie kommt sie nach Lagos. Doch auch hier wird sie ausgebeutet. Jung, weiblich,arm: Das scheint für jemanden, der etwas im Leben erreichen will, eine unüberwindbare Hürde. Und doch gibt Adunni ihren Traum nie auf: Endlich gesehen zu werden. Sich über schulische Bildung Gehör zu verschaffen. Kurzum: „eine lauterne Stimme“ zu haben.

Die tragische Heldin von Abi Darés Debutroman „Das Mädchen mit der lauternen Stimme“ steht für das Schicksal Millionen junger Mädchen in Nigeria und ganz Westafrika. Hausmädchen zählen dort kaum mehr als Leibeigene. Oft werden sie von armen Eltern beziehungsweise Kupplern an vermögendere Familien „verkauft“. Viele finden sich dabei in ähnlichen Höllen wie Adunni wieder. Sexuell belästigt , beschimpft, geschlagen. Und was ist mit ihrem Lohn? Adunni wird gewarnt, sich nicht zu beschweren, wenn es ihr nicht so ergehen soll, wie ihrer verschollenen Vorgängerin.

Abi Darés Roman – das englischsprachige Original titelt „The Girl With The Louding Voice“ – spielt im Jahre 2014: Präsidentschaftswahlen führen zu Spannungen, im selben Jahr erregt Boko Haram mit der Entführung von 276 Schulmädchen international Aufsehen. Adunnis Lebenswelt spiegelt die Spaltung der Gesellschaft wieder: Nigeria, eines der reichsten Länder Afrikas, hat seine urbane Mittel- und Oberschicht in die kapitalistische Moderne katapultiert, während die arme Mehrheit in patriarchalen, mittelalterlichen Verhältnissen gefangen bleibt. Vor diesem Hintergrund gewinnt Adunnis Kampf, zur Schule gehen zu dürfen, an gesellschaftlicher Brisanz.

Abi Daré, die selbst in einer reichen Mittelschichts-Familie in Lagos aufwuchs, Jura und kreatives Schreiben studierte und heute in England lebt und arbeitet, sollte erst durch eine Diskussion mit ihrer achtjährigen Tochter auf ihr Thema kommen. Als diese sich weigerte die Geschirrspülmaschine auszuräumen, habe sie ihr von den nigerianischen Hausmädchen erzählt. Nur dass die Tochter anders reagierte als erwartet: „Kann ich nicht auch dafür bezahlt werden, wenn ich Hausarbeit mache?“ In der Folge habe sie sich erstmals intensiv mit den Lebensbedingungen von Hausmädchen auseinandergesetzt – um auf Berichte voller Gewalt, Misshandlung und unbezahlter Arbeit zu stoßen. Wie, fragte sich die Autorin, könnte sie deren Welt überzeugend einfangen?

Einer von Darés stärksten Kunstgriffe ist Adunnis Sprache: Ihre Erzählstimme nimmt den Leser in einfachem, oft falschem Englisch an der Hand, macht ihn zum intimen Komplizen ihrer kindlichen Gefühlswelt. Naiv aber ist Adunni nicht wirklich. Sie stellt alles in Frage, beobachtet mit Verwunderung die Machtspiele ihrer Arbeitgeber, deren ostentativ zur Schau gestellten Reichtum, die falsche Freundschaften, ja den ganzen Standesdünkel der nigerianischen Oberschicht. Ihre – von der Übersetzerin Simone Jakob wunderbar ins Deutsche übertragenen – Neologismen sorgen dabei immer wieder für Situationskomik: Fernseher heißt für Adunni Fernseh, Ausland nennt sie Außenland, ein Flugzeug Aeloplane. Es ist gerade diese vermeintliche „Kindersprache“, die als Folie umso mehr das Gekünstelte und Korrupte ihrer Umwelt spürbar macht.

Dass Adunni doch noch einen Weg zur Realisierung ihrer Träume findet, aber verdankt sie nicht allein ihrer Intelligenz und Beharrlichkeit. Es ist Frauen-Solidarität, die sie immer wieder rettet. Und das Glück, auf eine Gönnerin und Freundin aus der Oberschicht zu stoßen, die Adunnis Unschuld anrührt. Die die „lauterne Stimme“ des Mädchens als Teil ihrer eigenen Menschlichkeit hören kann. .

JONATHAN FISCHER

gekürzt in SZ 28.9.2021

„Die Gier ist überall dieselbe“ – Von der Kleinstadt Kita zur New Yorker Galerie: Über den rasanten Aufstieg des malischen Malers Famakan Magassa.

Nichts messe deinen Erfolg besser als die Zahl deiner Neider, heißt es in Westafrika. Und wenn Neid auch eines der größten Hindernisse für den gesellschaftlichen Fortschritt in Mali sein mag, dann kann Famakan Magassa zumindest sicher sein, dass er es geschafft hat. „Bei Ausstellungen in Bamako muss ich mir oft harte Worte anhören“, sagt der 24-jährige Maler und Shootingstar der Kunstszene. „Meist kommen sie von älteren Künstlerkollegen. Sie sagen mir: Deine Kunst hat keine Bedeutung. Oder: Komm mal zu mir ins Atelier, dann zeig ich dir, wie man richtig malt.“

Älteren widerspricht man in Mali nicht so ohne Weiteres. So darf jeder mit ein paar grauen Haaren auf dem Kopf an allen anderen vorbei zum Schalter vortreten, auch wenn sich dort schon seit Stunden eine Warteschlange formiert hat. Wie er dann reagiert? Magassa, ein schlaksiger Typ mit Brille und einem neugierigen Blick, hebt ein Taschenbuch in die Höhe. Marshall B. Rosenbergs „Gewaltfreie Kommunikation“ in der französischen Übersetzung. „Ich will die Situation richtig bewerten, analysieren und dann angemessen reagieren.“

Magassa lächelt einen entwaffnend an. Dann legt er das Buch zurück auf den Glastisch in der Wohnung einer holländischen Kunstsammlerin in einem Geschäftsviertel Bamakos. Mangels Atelier bleibt ihm nur dieser Ort, um sein Werk angemessen zu präsentieren. An der Wand hängt eines seiner großformatigen Acryl-Gemälde. Den Rest seines Werks hat Magassa im vergangenen Jahr an europäische Sammler verkauft oder die Bilder hängen in Galerien jenseits des Atlantiks. Seit ein paar Monaten hat er einen internationalen Agenten: die Albertz Benda Gallery in New York.

„Ich gehöre der ganzen Welt. Und sie mir.“

Magassa ist dort der jüngste vertretene Künstler. Und der einzige Afrikaner. Das ist – für die Galerie – sicher auch als Zukunftsstrategie zu verstehen, zeitgenössische Kunst aus Afrika ist gerade angesagt zwischen Paris, New York und Berlin. Vor allem in Europa eröffnen Galerien, die sich auf die Vermarktung junger afrikanischer Künstler spezialisieren. „Aber was passiert, wenn diese Welle vorbei ist?“, fragt Magassa. „Ich möchte nicht allein als Afrikaner wahrgenommen werden, und auch nicht als afrikanischer Künstler, sondern als Künstler. Ich gehöre der ganzen Welt. Und sie mir.“

„Von Kita nach New York.“ So titelte eine malische Zeitung über den rasanten Aufstieg des jungen Malers. Kita, das ist eine Kleinstadt im Westen Malis und Magassas Geburtsort. Hier spazierte er als Kind ständig mit Stift in der Hand umher. In der Schule war Magassa deshalb für das Tafelbild zuständig: Im Biologieunterricht zeichnete er Pflanzen und Tiere, in Geographie ganze Landkarten. Später, als er für sein Abitur und ein Studium am Conservatoire des Arts et Métiers Multimédia nach Bamako kam, nutzte der Teenager sein Talent zum Geldverdienen: „Ich habe Ladenschilder gemalt, Banderolen, T-Shirts und Werbeplakate entworfen. Vor allem aber machte ich Porträts.“ Magassa wischt auf seinem Smartphone und präsentiert eines seiner frühen Werke. Ein recht fotorealistisches Porträt einer älteren weißen Frau. „In Bamako besuchte ich regelmäßig die Künstlerkommune Ateliers Badialan und Amadou Sanogo, einen unserer berühmtesten Maler. Er sagte mir jedes Mal: Lass die Porträtmalerei und suche dir lieber etwas Eigenes.“

Bei einem Kulturfestival im Städtchen Segou, etwa 200 Kilometer nördlich am Nigerufer, wurde Magassa fündig. Er sah Männer in Frauenkleidern und vice versa, Erwachsene, die auf Holzpferdchen ritten oder mit bizarren Brillen und Hüten im Kreis tanzten. Die Koredugaw. Er hatte vorher noch nie von dieser Geheimgesellschaft der Bambara gehört. Noch mehr als das Spektakel faszinierte ihn ihre gesellschaftliche Funktion: „Sie denken anders als die anderen und machen, was sie wollen. Diese unbegrenzte Freiheit des Ausdrucks hat mich sofort angesprochen.“ Dass die Koredugaw alle Konventionen des Alltags aufbrechen, sei nicht Selbstzweck. Nein, sagt Magassa, „sie gebrauchen den Humor, um soziale Konflikte zu lösen. Ihr Ziel ist das friedliche Miteinander in der Gesellschaft“.

Auf comicartige Weise kehrt der junge Maler die Triebe seiner Figur nach außen

Seitdem beherrschen die Koredugaw Magassas Leinwände. Sie inspirieren seine deformierten menschlichen Körper, deren Gesichtspartien und Gliedmaßen oft ein Eigenleben zu führen scheinen. Magassa zeigt auf das großformatige Gemälde an der Wand gegenüber: aufgerissene Augen, gierige Lippenwulste, unförmig ausgreifende Hände. Die Frauengestalt sitzt auf einem modernen Wohnzimmersessel, die Beine übereinandergeschlagen, ein Glas Wein neben sich. Auf comicartige Weise kehrt der junge Maler das Triebleben seiner Figur nach außen – bis sie wie ein lebenshungriger Zombie erscheint.

Man könnte Magassas Gemälde irgendwo zwischen Brueghel, Dubuffet und Basquiat einordnen, wenn sie nicht aus einem ganz eigenen animistisch-afrikanischen Kontext kommen würden. Die Koredugaw, das sind immer auch Trickster, Wegöffner, die zwischen göttlicher Weisheit und menschlichem Wahn vermitteln. Magassas Material passt zu deren Idee, alles wiederzuverwerten: Er malt mit Wandfarbe, mit der man in Bamako üblicherweise Häuserwände streicht. Einmal habe er auch teure importierte Farben aus Abidjan probiert – war aber mit dem Ergebnis unzufrieden.

Wie vermarktet sich ein junger Künstler in einem Umfeld, wo es kaum Museen oder Galerien gibt?

Umso mehr investiert er in das Konzept seiner Kunst. Seine Serien, sagt er, seien „strikt formatiert“. Er lese Bücher zu Psychologie, Soziologie und Kunstgeschichte, und wenn er ein Thema gefunden habe, schreibe er erst mal einen Text. Dann bestimme er, aus wie vielen Bildern die Serie bestehen solle. „Ich überlege mir vorab für jedes Bild einen Titel – erst wenn das alles steht, fängt für mich die eigentliche Malerei an.“

Und wie vermarktet sich ein junger Künstler, wenn er aus einem Land wie Mali kommt? Wenn es in seinem Umfeld- wie im Gros Afrikas – kaum Museen oder Galerien gibt? Er kenne in Mali zwar genug reiche Menschen, sagt Magassa. Ein Kunstmarkt aber fehle. „Das ist eine Frage der Bildung. Die meisten würden sich wohl lieber ein drittes Auto kaufen als ein Kunstwerk.“

Der junge Maler lächelt. Seine erste Ausstellung hatte er 2019 im Institut français in Bamako. Sie habe ihm schlagartig Kontakte nach Europa verschafft. Kontakte, die für ihn alles ändern sollten – und das auch dank seiner Kommunikationsstrategie. „Viele meiner Kollegen hier warten nur, dass sie über Facebook oder Instagram von einem Käufer entdeckt werden. Ich aber schreibe Personen, die ich für potentielle Interessenten halte, aktiv an. Wer mir antwortet, dem schicke ich regelmäßig Nachrichten und Bilder meiner neuesten Arbeiten. Egal, ob er jemals etwas kauft oder nicht.“ So habe er sich ein Netzwerk an Unterstützern geschaffen.

Es waren europäische Sammler, die Magassa 2020 mehrere Ausstellungen in Paris organisierten. Sie ebneten ihm auch den Weg nach New York. Zuvor hatte Magassa zusammen mit seinem Bildhauer-Kollegen Ibrahim Kébé – die beiden sind Gründer des Künstlerkollektivs Sanou’Art in Bamako – eine dreimonatige Residenz am Cité Internationale des Arts in Paris absolviert. Magassa erweiterte dort sein Sujet: Seine neue Serie nannte er „Soif“, Durst. Die Figuren lehnten sich zwar an seine Koredugaw-Serie an, nun aber symbolisierten sie mit aufgerissenen Mündern und fordernden Gesten die menschliche Gier. „Ich möchte“, sagt Magassa, „das unstillbare Verlangen nach Vergnügen, Macht, Liebe, Lust und Anerkennung darstellen. Nie kann der Mensch zufrieden sein. Immer findet er noch etwas, das ihm fehlt.“

Die 21 Leinwände der „Soif“-Serie hat Magassa inzwischen alle der Albertz Benda Gallery in New York geschickt. Das Thema hat, gerade in Zeiten des für die Umwelt und den sozialen Frieden geforderten Verzichts, universalen Appeal: Mali, sagt Magassa, sei eines der ärmsten Länder der Welt. Die Menschen dort aber hegten dieselben Träume wie Europäer oder Amerikaner – nur die Mittel zur Erfüllung dieser Wünsche seien ungerecht verteilt. Magassas ureigener Wunsch aber hat weder mit Ruhm noch Geld zu tun: „Ich hoffe, nie wieder hören zu müssen, ich solle erst mal malen lernen.“

JONATHAN FISCHER

SZ 7.9.2021

rpt