Monatsarchiv: Mai 2012

Hip-Hop lebt von Posen des Andersseins. Weltanschauliche und musikalische Differenzen werden grossgeschrieben. Die Musikerinnen von Thee Satisfaction (geschrieben: «THEESatisfaction») hätten in dieser Beziehung einiges zu bieten. Wann gab es zuletzt ein Hip-Hop- und R’n’B-Projekt zweier Afroamerikanerinnen – beide bekennende Lesben –, die sich von Sun Ra und Ella Fitzgerald inspirieren lassen? Und ihre Musik beim Grunge- und Indie-Label Sub Pop in Seattle, Washington, veröffentlichen?

Was Hipness betrifft, so erreichen die beiden Intellektuellen mit Afrofrisuren Catherine Harris-White und Stasia Irons – alias Stas und Cat – eigentlich schon die volle Punktzahl, noch bevor sie eine Silbe gerappt haben. Und dennoch scheint ihnen jedes Posieren fremd. Auf ihrem 34 Minuten kurzen Debütalbum «Awe Naturale» verzichten sie auf jede Art von Message-Skits, auf Polit-Botschaften oder auf autobiografische Selbstdarstellung. Umso schöner ist es zuzuhören, wie die Rapperinnen mit höchster soundtechnischer Ökonomie und mit Songs, die kaum länger sind als drei Minuten, souverän am heutigen…

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Tanz den Afro-Futurismus! Das Rapperinnen-Duo Thee Satisfaction

Hip-Hop lebt von Posen des Andersseins. Weltanschauliche und musikalische Differenzen werden grossgeschrieben. Die Musikerinnen von Thee Satisfaction (geschrieben: «THEESatisfaction») hätten in dieser Beziehung einiges zu bieten. Wann gab es zuletzt ein Hip-Hop- und R’n’B-Projekt zweier Afroamerikanerinnen – beide bekennende Lesben –, die sich von Sun Ra und Ella Fitzgerald inspirieren lassen? Und ihre Musik beim Grunge- und Indie-Label Sub Pop in Seattle, Washington, veröffentlichen?

Was Hipness betrifft, so erreichen die beiden Intellektuellen mit Afrofrisuren Catherine Harris-White und Stasia Irons – alias Stas und Cat – eigentlich schon die volle Punktzahl, noch bevor sie eine Silbe gerappt haben. Und dennoch scheint ihnen jedes Posieren fremd. Auf ihrem 34 Minuten kurzen Debütalbum «Awe Naturale» verzichten sie auf jede Art von Message-Skits, auf Polit-Botschaften oder auf autobiografische Selbstdarstellung. Umso schöner ist es zuzuhören, wie die Rapperinnen mit höchster soundtechnischer Ökonomie und mit Songs, die kaum länger sind als drei Minuten, souverän am heutigen Mainstream-Hip-Hop vorbeitänzeln.

Klare Alternativen

Vielleicht liegt es an der relativen Isolation des Duos im pazifischen Nordwesten, dass Thee Satisfaction aus Seattle so klare Alternativen zur herrschenden «Odd-Future»-Rotzigkeit bieten. Auf der Vorab-Single «Queens» legte Irons die Spielregeln fest: «Leave your face at the door / Turn off your swag / Check your bag» – da zeigt sich selbstlose Nüchternheit, die alle gängigen Hip-Hop-Trends umkehrt. Mit der grellen Make-up-Masche der momentan erfolgreichsten Rapperin Nicki Minaj jedenfalls haben die beiden Nordlichter nichts zu tun. Und noch weniger mit deren Bombast. Ihre Referenzen liegen eher im eklektischen Neo-Soul von Erykah Badus, Georgia Ann Muldrows und Jill Scotts. Oder in den optimistischen Wortspielereien von A Tribe Called Quest. Und last, but not least: Im Afro-Futurismus eines Sun Ra. «Er war einer der freiesten schwarzen Männer, die je lebten», schwärmt Stasia. Während Cat von Sun Ras Gefolgsleuten in Seattle wie Julian Priester berichtet und dem tiefen Eindruck, den ihr abstrakter Jazz auf sie hinterlassen habe.

Thee Satisfaction streift immer wieder die schwarze Space-Age-Esoterik: Die Musik bezieht sich auf den kosmischen Jazz der sechziger Jahre und auf George Clintons Mothership Connection. In surrealen Räumen sucht das Duo auch einen Ausweg aus den didaktischen Sackgassen des Polit-Pop. Queens of the Stoned Age oder Empresses Of Time nannten sich die beiden auf ihren ersten EP. Ihre selbstproduzierten Loops funktionieren als Klangwolken und Drones. Und warum sollten sie ihre Raps nun nicht wie leichte Mitsing-Mantras inszenieren?

Stas und Cat hatten sich vor fünf Jahren als Studentinnen auf einer Open-Mic-Bühne kennengelernt: Die eine bewunderte Billie Holiday. Die andere liebte Neunziger-Jahre-Gangsta-Rap. Zusammen begannen sie zu improvisieren, eigene Songs zu schreiben, die sie auf einem Laptop mit dem Garage-Band-Programm vertonten. So entstanden mehrere EP, die ihnen 2011 ein gefeiertes Gastspiel auf dem «Black Up»-Album von Shabazz Palaces eintrugen. Der exzentrische Hip-Hop dieser Kollegen aus Seattle ist ideell verwandt. Doch wo der Shabazz-Palaces-Rapper Ishmael Butler in seinen Sci-Fi-Phantasien ins Mathematische abdriftet, da feiert Thee Satisfaction eine Party.

Grosse Hip-Hop-Kunst

«Whatever you do / Don’t funk with my groove», singt Cat in «Queens». Das mag banal klingen. Und doch bleibt genau dieser schwirrende Loop beim Hörer hängen. Und wie die beiden Rapperinnen einander vorwitzig ins Wort fallen, wie sich ihre Stimmen in schrägen Harmonien überlagern, wie die Vokale R’n’B-Sounds verschmelzen – das ist ebenso grosse Hip-Hop-Kunst wie die gelegentlichen Stakkato-Raps. Die Tracks entwickeln eine berauschende Qualität. Einmal fungiert ein verzerrtes Trompeten-Sample als Grundmotiv eines tropisch swingenden Jams. Dann wiederum werden knisternde Beats in spiralförmige Vokal-Loops geworfen, oder Händeklatschen kontrastiert mit einem Monster-Bass. Angesprochen werden Themen wie die Relevanz von Melanin oder die fröhliche Wissenschaft afrikanischer Haarstile. Jenseits von jeder Vulgär-Anmache versprechen die hellen Stimmen der beiden Rapperinnen – bald seufzend, bald schmachtend – aber auch Verführung und viel sinnliche Wunder. Ihren Afro-Futurismus tanzen sie mit Lust.

Thee Satisfaction: Awe Naturale (Sub Pop).

JONATHAN FISCHER
NZZ 25.5.2012

Hip-Hop und Rum: Der englische Starproduzent und DJ Gilles Peterson hat mit kubanischen Musikern die junge Szene Havannas revolutioniert

Seit dem Erfolg des Buena Vista Social Club ist Kuba zu einem popkulturellen Sehnsuchtsort geworden. Der englische Star-DJ, Produzent und Trendscout Gilles Peterson hat nun die junge Szene Havannas um sich geschart und mit ihr eine Fusion aus Rap, Soul, Son und Dubstep gebraut. Nachzuhören am Donnerstag, 24. Mai, im Bob Beaman Club.

Kuba war lange kaum auf Ihrer DJ-Landkarte vertreten.Wie sind Sie zu Ihrer aktuellen Mission gekommen?

Vor ungefähr dreieinhalb Jahren bekam ich einen Anruf von einem Vertreter von Havana Cultura. Das ist ein Kultur-Ableger der halbstaatlichen Rummarke Havana Club, die junge kubanische Künstler, Tänzer und Musiker fördert. Ob ich mir denn vorstellen könnte, ein Album mit junger kubanischer Musik zusammenzustellen – so ähnlich, wie ich das zuvor schon in Afrika oder Brasilien gemacht hatte? Ich sagte sofort zu. Ohne Sponsoring-Gelder wäre so ein Projekt nicht möglich. Und Havanna gehörte zu den Orten, die ich schon immer besuchen wollte.

Was erwarteten Sie sich dort?

Nun ganz ehrlich. Ich hatte kaum eine Ahnung. Alles, was ich kannte, waren diese alten Latin-Jazz und Descarga-Platten, die ich für die Jazz-Dancer auflegte. Und die moderne Salsa hat mir nie viel bedeutet. Ich sah sie als Funktionsmusik für Tanzveranstaltungen. Cool jedenfalls klang für meine Begriffe anders.

Sie hatten noch nie etwas von der kubanischen Hip-Hop-Szene gehört?

Nein, mit Ausnahme der Orishas, und es wäre wohl so geblieben, wenn ich als Tourist durch Kuba gereist wäre. Die Hotel- und Barbands spielen doch alle die selben Oldies: von „Guantanamera“ bis Chan Chan. Aber dank meines Mentors, des Jazzers Roberto Fonseca, lernte ich im Schnelldurchgang die erstaunlichsten Musiker kennen: vom Rapper Edrey bis zur Sängerin Osdalgia oder Danay, eine Art kubanischer Erykah Badu. Sie alle machten tolle Musik. Waren hungrig. Nur ihre Aufnahmen klangen unbefriedigend, schlecht produziert, altbacken.

Deshalb kamen Sie von der Idee des reinen Samplers wieder ab und beschlossen, selbst mit den Musikern ins Studio zu gehen und alles noch einmal neu einzuspielen?

Ja, drei Monate nach meinem ersten Besuch buchte ich mit Roberto Fonseca und seiner Band die legendären Egrem-Studios. Wir hatten dreieinhalb Tage Zeit.

Erstaunlich, was Sie da angesichts aller Kulturbarrieren aus den Musikern herausgeholt haben.

Ich sprach so gut wie kein Spanisch, konnte mich oft nur über Dolmetscher verständigen. Fonseca dagegen fehlte jede Ahnung von Elektronik. So tasteten wir uns aneinander heran.

Das daraus entstandene Album „Havana Cultura“ bekam weltweit Kritikerlob, Sie gingen anschließend mit den Kubanern auf Club-Tournee. Wie reagierten die Westler?

Wir haben mit Sicherheit eine Menge Leute, die wie ich kaum etwas von den beteiligten Musikern wussten, für den kubanischen Untergrund-Pop erwärmt. Insofern hatte ich meinen Auftrag erfüllt. Bis ich für Teil zwei zurückgebeten wurde: „Havana Cultura – The Search Continues“. Ich wollte, dass es dunkler klingt als der Vorgänger. Elektronischer. Wenn wir beim ersten mal aus dem Geist des Jazz heraus improvisierten, mit Profis, die im Studio alles in kürzester Zeit festzurrten, wollte ich beim zweiten Album mehr Gewicht auf die Produktion legen. Ich flog also schon vor den Aufnahmen nach Havanna, um Background-Tracks fertig zu stellen.

Dazu brachten Sie einen berüchtigten Elektro-Produzenten aus London mit.

Mala ist ein Pionier der Londoner Dubstep-Szene. Mich faszinierte die Vorstellung, wie er sich mit seinem jamaikanischen Background die Energie vor Ort einverleiben würde. Um die Bässe hochzufahren. Und etwas ganz Neues aus den kubanischen Traditionen herauszuholen. Mala hat dann alle Musiker noch einmal durch sein eigenes Studio geschleust – und ein Jahr lang an den Aufnahmen gearbeitet. Gerade sind die Masterbänder fertig geworden.

Diese Dubstep-Aufnahmen sollen das junge Kuba ein wenig näher an die Clubs in London, Paris und Berlin rücken?

In den letzten 25 Jahren habe ich viele Platten produziert: Von den Young Disciples über Nu Yorican Soul bis zu Four Hero. Aber das hier ist die stärkste Fusion überhaupt.

Gibt es das nicht schon im Dutzend? Elektronische Musik mit tropischen Geschmacksverstärkern?

Oft bleibt das ja eine Kopfgeburt, zwei verschiedene Musikwelten auf einander prallen zu lassen. Diesmal funktioniert es. Weil Mala nichts aufsetzt, sondern die kubanischen Rhythmen in seine eigene Bass Music einbaut.

Hören die Kubaner auch entsprechende Musik? Oder sind die Havana Cultura-Aufnahmen letztlich genauso wie die ganze Buena Vista Social Club-Geschichte in erster Linie Produkte für den westlichen Markt?

Nein, da liegen Sie ganz falsch. Die jungen Kubaner lechzen förmlich nach neuem Stoff aus aller Welt. Das hat sicherlich mit ihrer relativen Isolation zu tun. Westliche Plattenaufnahmen, Musikfernsehen, Internet – das können sich nur die allerwenigsten leisten. Trotzdem findet die neueste Tanzmusik via Spanien oder Miami ins Land. Es gibt hier eine florierende Techno- und Elektro-Szene mit DJs, die auch selbst produzieren. Insofern passt Malas Gastspiel perfekt: Als wir letztes Jahr die erste Dubstep-Party in Havanna auf die Beine stellten, haben die Menschen sich euphorisch in die Musik gestürzt. Ein Tänzer spielte spontan auf einer mitgebrachten Trompete dazu. Das gefiel uns so gut, dass wir ihn am nächsten Tag gleich ins Studio baten.

Interview: Jonathan Fischer
SZ, 25.6.2012

New Orleans’ musikalische Wiedergeburt

Sieben Jahre nachdem Hurrikan Katrina New Orleans verwüstet hat, sind fiebrige Brassbands und tanzende und trommelnde Mardi Gras Indians populärer als je zuvor – und das weit über Louisiana hinaus.

Es ist Sonntag in New Orleans: Das kann man im Treme-Viertel weder überhören noch übersehen. Schwarze Männer in Anzügen und Melonen, Mitglieder eines örtlichen Social Aid and Pleasure Clubs, schwenken Girlanden, tanzen durch die von Schlaglöchern übersäten Strassen. Hinter ihnen das gewaltige Gebläse der Rebirth Brass Band. Tubaspieler Phil Frazier sieht man die Anstrengung an – er ist mit seiner Combo bereits mehrere Stunden über den brennenden Asphalt marschiert, die schwüle Luft droht ihm den Atem zu nehmen.

Und doch drückt er einen gewaltigen Basslauf nach dem anderen aus seinem Rohr: Adaptierte Dancefloor- und Jazz-Standards, zu dem das vielhundertköpfige und zunehmend betrunkene Gefolge – die Second Line – ausgelassen springt, vorwärtsschiebt, auf Autodächern trommelt oder einen dieser eindeutig zweideutigen Tänze inszeniert, bei der die einen auf allen vieren kriechen, während die anderen breitbeinig und mit schwingenden Beckenbewegungen über sie hinwegsteigen. Angesichts eines solchen Umzugs stillzustehen heisst, sich gegen den Feiergeist zu stellen – in New Orleans ein kapitales Verbrechen, wie jeder Einheimische bestätigt. «Man kann Häuser und Wohnblocks zerstören», sagt Phil Frazier. «Aber man kann die Musik in uns nicht auslöschen.»

Trompete spielen statt rappen

Sieben Jahre nach Hurrikan Katrina feiert New Orleans eine musikalische Wiedergeburt. Nicht nur, dass die Rebirth Brass Band endlich mit einem Grammy die überfällige Anerkennung der Musikindustrie bekommt, dass mit Trombone Shorty ein Nachwuchsmusiker der örtlichen Bläserszene zum internationalen Star aufläuft, dass David Simon, der gefeierte Autor und Fernsehproduzent von «The Wire», mit der HBO-Serie «Treme» auch Rest-Amerika am Enthusiasmus und Improvisationsgeist der örtlichen Clubs und Strassenparaden teilhaben lässt. Nein, die eigentliche Sensation findet täglich auf den Strassen des Mississippi-Hafens statt: Es ist die stolze Inszenierung der eigenen Folk-Kultur.

Selbst fast schon begrabene Traditionen feiern eine Renaissance: Da gründen sich neue Stämme der Mardi Gras Indians, erhalten die Voodoo-Tempel Zulauf aus allen Bevölkerungsschichten, machen sich Dutzende von jungen Brassbands die Strassen streitig. Sieben Jahre nach dem verheerenden Wirbelsturm gibt es in der Stadt mehr Livebühnen und Clubs als je zuvor. Und obwohl im French Quarter die Strassenmusik offiziell verboten ist, hört man ständig von irgendwoher eine Brassband schmettern. No-Names meist, die ihren Vorbildern von der Rebirth, den Soul Rebels, der Hot 8 oder Stooges Brassband nacheifern.

Jugendliche aus den Projects, für die der Bläserjob oft die einzige Alternative zu einer Karriere im Drogenhandel ist. «Überall in Amerika», hat Frazier erzählt, «wollen die Kids Rapper werden. In New Orleans träumen sie von einer eigenen Trompete.» Der Improvisations-geist des Jazz lebt: Neue Alben von Trombone Shorty oder Dr. John geben einen Eindruck, wie vital der New-Orleans-Groove immer noch ist, wie selbstverständlich er alle Einflüsse von afrikanischem Highlife bis Hip-Hop-Beats, von Funk-Bässen bis Free Jazz absorbieren kann.

Lange bevor Hip-Hop kam

Der drohenden Gentrifizierung von Traditionsvierteln wie Treme, dem Abgrund an Armut und Kriminalität, der sich in Mid City immer noch auftut, steht ein wachsendes Bewusstsein für den eigenen kulturellen Reichtum entgegen. So mischen sich vermehrt politische Stimmen in den musikalischen Gumbo: «New Orleans hat immer anders getickt als Rest-Amerika», sagt der afroamerikanische Beat-Poet Chuck Perkins. «Unser Lebensstil feiert den sinnlichen Genuss, die kulturelle Vielfalt. Deshalb verhielten sich Teile Amerikas sehr zwiespältig, was den Wiederaufbau nach Katrina betrifft.»

Perkins hat mit seiner bunt gemischten Truppe Voices of New Orleans gerade das Album «Love Song for Nola» eingespielt, eine Mischung aus Gesellschaftskritik und Liebeserklärung an seine Heimatstadt: «Der Mythos vom Melting Pot, das ist hier tägliche Realität. In welcher anderen Stadt findest du schon Rapper mit goldverblendeten Zähnen, die jede Zeile von Louis Armstrong zitieren können?» Auf der Bühne des Clubs Istanbul lässt Perkins mit seiner Band die verschiedensten lokalen Stile aufeinandertreffen: Jason Marsalis, der jüngste Bruder von Wynton Marsalis, spielt da Schlagzeug. Uganda Roberts schlägt die Congas. Der Brassband-Veteran Corey Henry steuert die Posaune bei, und neben einem Bounce Rapper chantet mit Irving «Spyboy Honey» Banister ein waschechter Mardi Gras Indian kreolische Mantras: «Handa wanda oh mama.»

Darüber rappt Chuck Perkins seine mal zärtlichen, mal wütenden Zeilen. Erzählt von einer irrwitzigen Stadt, die gleichzeitig die höchste Mordrate und die höchste Musikerdichte Amerikas hervorbringt.

Nach Katrina umarmten die New Orleaner trotzig, was sie vorher als Selbstverständlichkeit gesehen hatten: Die Second Lines, die Brassbands, die Mardi Gras Indians. An jedem anderen Ort der Welt würde Irving «Spyboy Honey» Banister in dem perlenbestickten, neonrosa Federkostüm wie eine Jahrmarktfigur wirken. In New Orleans ist er ein Held der Strasse. Seine Auftritte mit Chuck Perkins stellen schon den kommerziellsten Aspekt seiner Musik dar.

Sonntägliche Proben und Strassenparaden

Ansonsten spielen sich die sonntäglichen Proben und Strassenparaden miteinander rivalisierender Mardi-Gras-Indian-Stämme in armen schwarzen Nachbarschaften ab, in die sich nur selten Touristen verirren: «Wir heissen Mardi Gras Indians», erklärt Irving Banister, Vize-Häuptling des Stammes Creole Wild West, «weil man uns früher nur während Mardi Gras zu Gesicht bekam. Damals war es Schwarzen nicht erlaubt, am Mardi Gras teilzunehmen. Also ernannten sich schwarze Männer selbst zu Indianern, auf diese Weise zollten sie den eingeborenen Amerikanern Tribut. Die Indianer hatten einst entlaufene Sklaven bei sich aufgenommen und ihnen die Kunst des Perlenstickens beigebracht.»

Die Mardi Gras Indians sind heute populärer als je zuvor. Die Americana-Chanteuse Emmylou Harris oder der Jazzer Donald Harrison bringen sie auf die Bühne. Und der Bürgermeister Mitch Landrieu dankte ihnen im Namen des offiziellen New Orleans: Ohne ihre Rückkehr wäre New Orleans ärmer, sagte er. Zwar nahmen bereits Dr. John, die Meters und die Neville Brothers in der Vergangenheit die Chants der Indians auf. Aber erst jetzt interessiert sich eine breite Öffentlichkeit für die dahinterstehenden Traditionen.

Zwischen Geist und Geld

Ihrem Wesen nach sind die Mardi Gras Indians Zusammenschlüsse schwarzer Arbeiter. Teils dienen sie als spirituelle Geheimgesellschaft, teils erfüllen sie soziale Aufgaben in ihrer Nachbarschaft. In New Orleans gibt es rund 15 Stämme, und in letzter Zeit wurden sogar neue gegründet. Und das trotz des enormen Zeit- und Geldaufwandes: Jeder Mardi Gras Indian muss nicht nur lernen, die alten Voodoo-Chants zu trommeln und zu tanzen. Er muss auch Tausende von Dollars und unzählige Stunden für das Nähen seines Federkostüms investieren – und das jedes Jahr aufs Neue.

Die Brassbands und die Mardi Gras Indians waren die erste Strassenmusik – lange bevor Hip-Hop kam. Wenn es bis vor wenigen Jahren noch so aussah, als würden sie lediglich als Folk-Relikte überleben, hat der Melting Pot beide Traditionen wieder nach oben gespült. So befeuert der Mardi-Gras-Indian-Funk zahllose Combos im Mississippi-Hafen, während die Brassbands jenseits der traditionellen Second Lines und Jazz Funerals als unabdingbarer Party-Treibstoff gelten. Egal, ob Geschäftseröffnung oder CD-Release eines Bounce-Rappers: Irgendwo wippt der Riesenschalltrichter einer Tuba durch die Menge. Ihre vibrierenden Funkläufe unterfüttern das riffende Crescendo der Saxofone und Posaunen, befeuern eine plötzlich explodierende Trompete, halten den Rhythmus, wenn alle in einer wilden Schlacht über- und nebeneinander herblasen. Und dann fallen plötzlich alle in denselben Beat.

Wie hatte es Chuck Perkins doch in einem seiner Gedichte formuliert: «We’ll work today/If you play tonight/ That makes us alright/ The sounds of your horns/ Gives us strength to fight.»
JONATHAN FISCHER
Tagesanzeiger 2.5.2012