Monatsarchiv: August 2010

Das dreckige Dutzend Reggae : Alttestamentarisches Feuer

Reggae hat immer schon als Brücke zwischen Trommelritual und Popmusik funktioniert, das zeigen auch die neuesten Alben

DJ Bob Sinclar ist gen Kingston gepilgert, um seine Dance-Hits zu reinterpretieren – und zwar mit exakt der Mannschaft, die damals seinen Landsmann Serge Gainsbour g auf dessen Reggae-Album „Aux Armes Et Caetera“ begleitete. Sinclar wusste was er wollte: Gitarren statt Synthesizer, Kinderchöre statt Sprechgesang. Nun hat er zusammen mit Sly & Robbie das unwiderstehlichste Reggae-Album dieses Sommers aufgenommen: „Made In Jamaica“ (Ministry Of Sound/Warner). Der warme, klassische Sound der siebziger Jahre schmiegt sich auf der Platte elegant an die Vokalparts von Sinclairs Songs. Die Arrangements bringen eingängige Melodien mit der Bass-Wucht des Roots-Reggae und so manchen Dub-Spielereien zusammen. Und wenn Queen Ifrica ihr Blues-Timbre in „I Feel You“ legt, dann lassen Bob Marleys Klassiker grüßen!

Frederick „Toots“ Hibberts besucht unterdessen die eigenen Wurzeln im Rhythm’n’Blues: Nicht nur wegen seiner heiseren Soulstimme gilt Toots schon lange als Otis Reddings Bruder im Geiste. Nun unterfüttert der Jamaikaner auf „Flip And Twist“ (D&F Music) Stevie Wonders „Higher Ground“ mit Achtziger-Jahre Keyboard-Riffs und bringt den Gamble-and-Huff-Song „Hope That We Can Be Together Soon“ zum Schunkeln. Doch die Cover wären gar nicht nötig gewesen: Toots kann selbst fantastische Soulsongs schreiben, die immer dann am stärksten wirken, wenn er zugunsten einer richtigen Band auf programmierte Drums und Synthesizer verzichtet. Mit welchem alttestamentarischem Feuer er Hymnen wie „Reconcile“ oder „An Eye For An Eye“ gospelt! Bisweilen fehlt nur ein etwas stilsicherer Produzent.

So einen hat Horace Andy auf seinem neuen Album „Serious Times“ (Minor7Flat5) an der Seite. Der deutsche Roots-Spezialist Andreas „Brotherman“ Christopherson war für die trockenen und dubby abgemischten Riddims verantwortlich. Sie stellen Andys berückende Falsetto-Stimme – sie zierte in den neunziger Jahren einige der größten Hits von Massive Attack – ins Zentrum, lassen seinen Gesangslinien viel Platz. Den klassischen Groove liefern dabei Veteranen wie Drummer Leroy Wallace, Saxophonist Dean Fraser oder Perkussionist Bongo Herman. Ein wenig von deren Erdung würde auch Busy Signals neuem Dancehall-Album „D.O.B“ (VP Records) guttun. Der Mann kann trickreich toasten, keine Frage. Doch wer erträgt die alles überklappernden Digitalbeats auf Albumlänge?

Angesichts der Ödnis des gegenwärtigen, hauptsächlich am Computer programmierten Dancehall mag man es Jon Baker und Mark Jones vom Electro-Label Wall Of Sound, nicht verdenken, dass sie eine jamaikanische Band aus den fünfziger Jahren wieder ausgegraben haben: The Jolly Boys . Die alten Herren spielen noch den Reggae-Vorläufer Mento, eine Musik die auf Banjos, Maracas und Rumba-Kisten basiert. Ihre britischen Produzenten haben nun für „The Great Experience“ (Wall Of Sound) nicht nur die Beats modernisiert, sondern dem Buena Vista Social Club Jamaikas auch noch Rocksongs von The Clash , The Stooges , The Stranglers oder New Order untergejubelt. Eine hippe Idee, die am Ende doch recht schmalbrüstig tönt. Wie jamaikanisierte Cover besser funktionieren, zeigen einige historische Sampler: Etwa „Sounds & Pressure: Mod Reggae“ (Trojan) mit seinen von Bläserriffs und souligen Orgeln getragenen Rocksteady-Fingerschnippern. Oder für Fans von noch schnellerem, schrillerem Um-ta-Um-ta: „Ska-Ing West!“ (Trojan).

Ausgerechnet in Afrika dagegen fusioniert gerade die jamaikanische Old School gekonnt mit neueren Hip-Hop-Moden: So legen die senegalesischen Rapper Daara J Family auf „School Of Life“ (Wrasse) ihre Regierungskritik über ein warmes Bett aus Reggae und afrikanisch perkussive Rhythmen. Während „Les Dirigeants Africains“ (Because) der malischen Hip-Hop-Combo Smod die Mitwirkung Manu Chaos nicht verleugnen kann.

Der Franzose hat dem Trio um den Sohn von Amadou & Mariam das eigene Hit-Rezept verordnet: Mitsing-Chants, Rebellenromantik und eine karge Instrumentierung mit Beatbox und akustischer Gitarre. So könnte ein urbanes und seiner Folktraditionen verpflichtetes Afrika klingen.

Die Sierra Leone’s Refugee Allstars dagegen haben aus ihrer Not eine Tugend gemacht: Als Unterhaltungsband in einem Lager für Bürgerkriegsflüchtlinge gegründet, reisen sie für ihr zweites Album „Rise And Shine“ (Exil) nach New Orleans, wo sie mit Hilfe lokaler Musikern ein transatlantisches Gumbo anrührten: Unter der Regie des Los Lobos-Produzenten Steve Berlin fusionieren da Soukous-Gitarren mit Funkbläsern, swingende Reggae-Rhythmen mit westafrikanischer Palmweinmusik. Ein Mix, der bei aller Melancholie eine überraschende Leichtigkeit ausstrahlt und daran erinnert, wie viel großartige Popmusik seit jeher der Leidenserfahrung der verschleppten und vertriebenen Söhne und Töchter Afrikas entsprungen ist.

JONATHAN FISCHER
SZ 6.8.2010