Im Boxring lehrte er seine Gegner das Fürchten, mit seinem Privatleben machte er Schlagzeilen. In seinem Buch „Unbestreitbare Wahrheit“ erzählt Mike Tyson, wie er vom Ghetto-Jungen zum jüngsten Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten aufstieg und wie er vom koksenden Partyschreck zum fürsorglichen Familienvater wurde.
Drogen, Schmerzen und Brutalität – so schreiben Sie – seien Ihnen seit Ihrer Kindheit so vertraut, dass Sie sich damit zu Hause fühlten: „Du kannst in der Hölle schmoren und dennoch glücklich sein.“
Mike Tyson:
Wenn man nichts anderes als die Hölle kennt, beginnt man sie zu lieben. Schon als Kind habe ich mich regelmäßig betrunken. Und ich habe bestimmt mehr Koks geschnupft und geschleckt als andere Leute Eiscreme. Erst als ich den anonymen Alkoholikern beitrat, erkannte ich, dass ein Leben ohne Drogen möglich ist.
Sie haben Ihre kriminelle Karriere schon als Kind begonnen. Mit einer Bande haben Sie Wohnungen aufgebrochen, Passanten ausgeraubt. Dabei galten Sie lange als schüchterner, pummeliger Außenseiter…
In meiner Familie hat mir niemand beigebracht, mich zu wehren. Irgendwann bin ich dann nicht mehr zur Schule gegangen, weil ich da dauernd ausgenommen und geschlagen wurde.
Bis Sie merkten, dass Sie sich mit Gewalt Respekt verschaffen konnten und selbst zum Schläger wurden…
So funktioniert nun mal das Gesetz der Straße. Mir hatte ein älterer Junge eine meiner Tauben geklaut. Da habe ich Rot gesehen und drauflos geschlagen. Zum ersten Mal. Ich bekam dafür von den Umstehenden Applaus.
Sie sind später für die rücksichtslose Aggression berüchtigt gewesen, mit der Sie innerhalb und außerhalb des Rings agierten. Nun beschreiben Sie sich jenseits aller Gewalt-, Sex- und Drogen-Exzesse als unsicheren und liebebedürftigen Menschen…
Ich will niemanden bekehren. Die Menschen, die mich gerne als Monster darstellen, die daran glauben wollen, dass ich nichts als ein kaputter und Frauen schändender Gossen-Nigger bin, werden das weiterhin tun. Aber glauben Sie mir: Es war hart, nichts von den Dingen auszulassen, für die ich mich heute schäme.
Cus D’Amato, Ihr erster Trainer und Mentor, hat Ihnen die Regeln der psychologischen Kriegsführung beigebracht. Wären Sie ohne ihn je ein so erfolgreicher Boxer geworden?
Charakter ist im Ring wichtiger als jedes Talent. Cus hat mir beigebracht, meine eigene Angst auf meine Gegner zu projizieren. Er hat mir diese dunkle Persönlichkeit übergestülpt. Innerlich habe ich mich oft wie ein Stück Scheiße gefühlt, aber nach außen war ich der bösartigste Puncher der Welt. Boxen ist mit physischen Schmerzen verbunden. Dagegen kann man sich abhärten. Mich hat es viel mehr Mut gekostet, mich auf meine Frau und unsere Kinder einzulassen.
Weil Sie weich sein mussten?
Weil es mir gezeigt hat, wie verletzlich und abhängig ich bin. Was die Kombination von aufgeblähtem Ego und fehlendem Selbstbewusstsein anrichten kann. Ich werde es meiner Frau nie vergelten können, dass sie immer zu mir gehalten hat – trotz aller Alkohol- und Drogen-Rückfälle. Wissen Sie, Mitgefühl habe ich bis dahin gar nicht gekannt. Da, wo ich aufgewachsen bin, hat jeder für sich selbst sorgen müssen.
Sie haben schon als Kind angefangen, Tauben auf einem Hausdach in Brooklyn zu halten, und gelten bis heute als leidenschaftlicher Züchter. Haben Sie bei den Tauben etwas gefunden, was Sie bei den Menschen vermissten?
Ich weiß schon, was Sie meinen. Sie wollen darauf hinaus, dass die Vögel sanftmütiger sind als die Menschen. Sorry, aber dieses Friedenstauben-Geschwätz ist Humbug: Tauben hacken sich, sie kämpfen unerbittlich um die Weibchen. Da geht es ganz schön brutal zu.
Ich hatte erwartet, dass Sie vielleicht von der Schönheit des Formationsflugs schwärmen würden…
Diese Schönheit hat nichts Sentimentales. Eine Taube ist der Führer, die anderen folgen in strenger Disziplin. Diese Ordnung hat mich immer sehr getröstet.
Sie haben selbst Ihr ganzes Leben um Disziplin gerungen, waren zigmal auf Alkohol- und Kokainentzug oder in Therapie wegen Ihrer Sexsucht. Was bedauern Sie am meisten?
Ich dachte immer, ich hätte alles im Griff, aber wenn du viel Geld hast, sind die Blutsauger nicht weit. Am übelsten hat mir Don King mitgespielt. Er hat mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans.
Don King war Ihr Manager. Aber lag es wirklich nur an ihm, dass ein Boxsuperstar wie Sie – der in zehn Jahren über 400 Millionen Dollar verdient hat – finanziell so abstürzen konnte?
Da, wo ich herkam, herrschte ein ungeschriebenes Gesetz: Wer zu Geld kommt, teilt mit seinen Freunden. Also habe ich Bündel von Hunderterscheinen verschenkt, die Geschäfte von Kumpels finanziert, Champagner für alle geordert. Ich hatte nie ein Verhältnis zu Geld: Dir gefällt mein Auto? Kein Problem, ich bestell‘ mir morgen gleich ein neues…
Nach dem Ende Ihrer Boxer-Laufbahn haben Sie Filmrollen etwa in „Hangover“ I und II angenommen und – mit Hilfe von Spike Lee und der One-Man-Show „The Undisputable Truth“ – einen Neustart als Comedian versucht. Dabei waren Sie vorher nicht gerade als Witzbold aufgefallen…
Doch, doch, ich hatte schon immer Spaß daran, andere zu unterhalten! Wenn ich in Brownsville einen Straßenkampf gewann, versuchte ich den Ali-Shuffle. Später hat mir Cus beigebracht, wie man Geschichten erzählt. Trotzdem habe ich bis heute Lampenfieber, wenn ich auf die Bühne steige: Weil ich das Gefühl habe, meine Seele zu entblößen.
Hip-Hop-Stars wie Kanye West und 50 Cent saßen im Publikum Ihrer Broadway-Show. Sie waren der erste Boxer seit Muhammad Ali, der zur weltweiten Poplegende aufgestiegen ist. Was denken Sie: Warum taucht Ihr Name in Dutzenden von Rap-Hits auf?
Das passierte parallel zum Siegeszug des Gangsta-Rap. Als ich jüngster Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten wurde und alle Titel auf mich vereinigte, also in den späten Achtzigern bis Mitte der Neunzigerjahre, klang Hip-Hop noch viel härter als heute. Die Lyrics drehten sich um Straßenkämpfe, Dealereien und die größten Egos. „Iron Mike“ passte da perfekt ins Bild.
Heute kommt nicht nur der Hip-Hop zahmer daher, auch im Boxring ist Ihre Art von Gewalttätigkeit kaum noch anzutreffen. Bedauern Sie das?
Die Boxer heute träumen nicht mehr davon, dem Gegner Schmerzen zuzufügen. Sie riskieren nichts. Und das macht sie zu Langweilern. Ich nehme nur zwei Boxer davon aus: Floyd Mayweather und Manny Pacquiao.
Ist Boxen denn nur interessant, wenn man seinen Gegnern androht, ihnen „das Nasenbein ins Hirn zu rammen“?
Die Wahrheit ist: Boxen und Sterben liegen nahe beieinander.
Sie haben sich vorgenommen, die Gewalt und Lieblosigkeit, die Sie in Ihren frühen Jahren erlebt haben, zu überwinden. Werden es Ihre Kinder einmal leichter haben als Sie selbst?
Ich lebe heute vor allem zu Hause mit meiner Familie, hole meine Kinder von der Schule ab und hoffe, dass sie sich nicht für mich zu schämen brauchen. Gut, manchmal werden sie mit meinen alten Geschichten aufgezogen – etwa, dass ich Evander Holyfield das Ohr abgebissen habe. Ich kann meine Kinder auch nicht davor beschützen, irgendwann selber ihre schlechten Erfahrungen zu machen. Aber sie haben meine Geschichte vor Augen. Sie wissen, dass sich Hochmut nicht auszahlt.
JONATHAN FISCHER
Die Welt 25.2.2014