Monatsarchiv: Februar 2014

„Ich bin kein kaputter Gossen-Nigger“ – Mike Tyson war der Boxer, der einem Gegner das Ohr abbiss. Jetzt hat der Ex-Champion seine Memoiren geschrieben.

Im Boxring lehrte er seine Gegner das Fürchten, mit seinem Privatleben machte er Schlagzeilen. In seinem Buch „Unbestreitbare Wahrheit“ erzählt Mike Tyson, wie er vom Ghetto-Jungen zum jüngsten Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten aufstieg und wie er vom koksenden Partyschreck zum fürsorglichen Familienvater wurde.

Drogen, Schmerzen und Brutalität – so schreiben Sie – seien Ihnen seit Ihrer Kindheit so vertraut, dass Sie sich damit zu Hause fühlten: „Du kannst in der Hölle schmoren und dennoch glücklich sein.“

Mike Tyson:

Wenn man nichts anderes als die Hölle kennt, beginnt man sie zu lieben. Schon als Kind habe ich mich regelmäßig betrunken. Und ich habe bestimmt mehr Koks geschnupft und geschleckt als andere Leute Eiscreme. Erst als ich den anonymen Alkoholikern beitrat, erkannte ich, dass ein Leben ohne Drogen möglich ist.

Sie haben Ihre kriminelle Karriere schon als Kind begonnen. Mit einer Bande haben Sie Wohnungen aufgebrochen, Passanten ausgeraubt. Dabei galten Sie lange als schüchterner, pummeliger Außenseiter…

In meiner Familie hat mir niemand beigebracht, mich zu wehren. Irgendwann bin ich dann nicht mehr zur Schule gegangen, weil ich da dauernd ausgenommen und geschlagen wurde.

Bis Sie merkten, dass Sie sich mit Gewalt Respekt verschaffen konnten und selbst zum Schläger wurden…

So funktioniert nun mal das Gesetz der Straße. Mir hatte ein älterer Junge eine meiner Tauben geklaut. Da habe ich Rot gesehen und drauflos geschlagen. Zum ersten Mal. Ich bekam dafür von den Umstehenden Applaus.

Sie sind später für die rücksichtslose Aggression berüchtigt gewesen, mit der Sie innerhalb und außerhalb des Rings agierten. Nun beschreiben Sie sich jenseits aller Gewalt-, Sex- und Drogen-Exzesse als unsicheren und liebebedürftigen Menschen…

Ich will niemanden bekehren. Die Menschen, die mich gerne als Monster darstellen, die daran glauben wollen, dass ich nichts als ein kaputter und Frauen schändender Gossen-Nigger bin, werden das weiterhin tun. Aber glauben Sie mir: Es war hart, nichts von den Dingen auszulassen, für die ich mich heute schäme.

Cus D’Amato, Ihr erster Trainer und Mentor, hat Ihnen die Regeln der psychologischen Kriegsführung beigebracht. Wären Sie ohne ihn je ein so erfolgreicher Boxer geworden?

Charakter ist im Ring wichtiger als jedes Talent. Cus hat mir beigebracht, meine eigene Angst auf meine Gegner zu projizieren. Er hat mir diese dunkle Persönlichkeit übergestülpt. Innerlich habe ich mich oft wie ein Stück Scheiße gefühlt, aber nach außen war ich der bösartigste Puncher der Welt. Boxen ist mit physischen Schmerzen verbunden. Dagegen kann man sich abhärten. Mich hat es viel mehr Mut gekostet, mich auf meine Frau und unsere Kinder einzulassen.

Weil Sie weich sein mussten?

Weil es mir gezeigt hat, wie verletzlich und abhängig ich bin. Was die Kombination von aufgeblähtem Ego und fehlendem Selbstbewusstsein anrichten kann. Ich werde es meiner Frau nie vergelten können, dass sie immer zu mir gehalten hat – trotz aller Alkohol- und Drogen-Rückfälle. Wissen Sie, Mitgefühl habe ich bis dahin gar nicht gekannt. Da, wo ich aufgewachsen bin, hat jeder für sich selbst sorgen müssen.

Sie haben schon als Kind angefangen, Tauben auf einem Hausdach in Brooklyn zu halten, und gelten bis heute als leidenschaftlicher Züchter. Haben Sie bei den Tauben etwas gefunden, was Sie bei den Menschen vermissten?

Ich weiß schon, was Sie meinen. Sie wollen darauf hinaus, dass die Vögel sanftmütiger sind als die Menschen. Sorry, aber dieses Friedenstauben-Geschwätz ist Humbug: Tauben hacken sich, sie kämpfen unerbittlich um die Weibchen. Da geht es ganz schön brutal zu.

Ich hatte erwartet, dass Sie vielleicht von der Schönheit des Formationsflugs schwärmen würden…

Diese Schönheit hat nichts Sentimentales. Eine Taube ist der Führer, die anderen folgen in strenger Disziplin. Diese Ordnung hat mich immer sehr getröstet.

Sie haben selbst Ihr ganzes Leben um Disziplin gerungen, waren zigmal auf Alkohol- und Kokainentzug oder in Therapie wegen Ihrer Sexsucht. Was bedauern Sie am meisten?

Ich dachte immer, ich hätte alles im Griff, aber wenn du viel Geld hast, sind die Blutsauger nicht weit. Am übelsten hat mir Don King mitgespielt. Er hat mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans.

Don King war Ihr Manager. Aber lag es wirklich nur an ihm, dass ein Boxsuperstar wie Sie – der in zehn Jahren über 400 Millionen Dollar verdient hat – finanziell so abstürzen konnte?

Da, wo ich herkam, herrschte ein ungeschriebenes Gesetz: Wer zu Geld kommt, teilt mit seinen Freunden. Also habe ich Bündel von Hunderterscheinen verschenkt, die Geschäfte von Kumpels finanziert, Champagner für alle geordert. Ich hatte nie ein Verhältnis zu Geld: Dir gefällt mein Auto? Kein Problem, ich bestell‘ mir morgen gleich ein neues…

Nach dem Ende Ihrer Boxer-Laufbahn haben Sie Filmrollen etwa in „Hangover“ I und II angenommen und – mit Hilfe von Spike Lee und der One-Man-Show „The Undisputable Truth“ – einen Neustart als Comedian versucht. Dabei waren Sie vorher nicht gerade als Witzbold aufgefallen…

Doch, doch, ich hatte schon immer Spaß daran, andere zu unterhalten! Wenn ich in Brownsville einen Straßenkampf gewann, versuchte ich den Ali-Shuffle. Später hat mir Cus beigebracht, wie man Geschichten erzählt. Trotzdem habe ich bis heute Lampenfieber, wenn ich auf die Bühne steige: Weil ich das Gefühl habe, meine Seele zu entblößen.

Hip-Hop-Stars wie Kanye West und 50 Cent saßen im Publikum Ihrer Broadway-Show. Sie waren der erste Boxer seit Muhammad Ali, der zur weltweiten Poplegende aufgestiegen ist. Was denken Sie: Warum taucht Ihr Name in Dutzenden von Rap-Hits auf?

Das passierte parallel zum Siegeszug des Gangsta-Rap. Als ich jüngster Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten wurde und alle Titel auf mich vereinigte, also in den späten Achtzigern bis Mitte der Neunzigerjahre, klang Hip-Hop noch viel härter als heute. Die Lyrics drehten sich um Straßenkämpfe, Dealereien und die größten Egos. „Iron Mike“ passte da perfekt ins Bild.

Heute kommt nicht nur der Hip-Hop zahmer daher, auch im Boxring ist Ihre Art von Gewalttätigkeit kaum noch anzutreffen. Bedauern Sie das?

Die Boxer heute träumen nicht mehr davon, dem Gegner Schmerzen zuzufügen. Sie riskieren nichts. Und das macht sie zu Langweilern. Ich nehme nur zwei Boxer davon aus: Floyd Mayweather und Manny Pacquiao.

Ist Boxen denn nur interessant, wenn man seinen Gegnern androht, ihnen „das Nasenbein ins Hirn zu rammen“?

Die Wahrheit ist: Boxen und Sterben liegen nahe beieinander.

Sie haben sich vorgenommen, die Gewalt und Lieblosigkeit, die Sie in Ihren frühen Jahren erlebt haben, zu überwinden. Werden es Ihre Kinder einmal leichter haben als Sie selbst?

Ich lebe heute vor allem zu Hause mit meiner Familie, hole meine Kinder von der Schule ab und hoffe, dass sie sich nicht für mich zu schämen brauchen. Gut, manchmal werden sie mit meinen alten Geschichten aufgezogen – etwa, dass ich Evander Holyfield das Ohr abgebissen habe. Ich kann meine Kinder auch nicht davor beschützen, irgendwann selber ihre schlechten Erfahrungen zu machen. Aber sie haben meine Geschichte vor Augen. Sie wissen, dass sich Hochmut nicht auszahlt.

JONATHAN FISCHER

Die Welt 25.2.2014

„Homophobie ist eine Folge des Kolonialismus“ – Wie reagieren afrikanische Künstler auf Gesetze, die Homosexualität unter Strafe stellen? Kuratorin Koyo Kouoh über Instrumentalisierung, Rassismus und einen afrikanischen Frühling

Koyo Kouoh ist eine der wichtigsten Kuratorinnen für afrikanische Kunst. In Dakar hat die gebürtige Kamerunerin, die sich selbst nur als „Afrikanerin“ bezeichnet, 2008 die Raw Material Company gegründet. „Zentrum für Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft“ steht auf dem Schild vor dem olivgrünen Haus im Universitätsviertel Amitié 2.

Koyo Kouoh SZ

 

Koyo Kouoh gilt als eine der wichtigsten Kuratorinnen für afrikanische Kunst. In Dakar hat die gebürtige Kamerunerin, die sich selbst nur als „Afrikanerin“ bezeichnet, 2008 die Raw Material Company gegründet. „Zentrum für Kunst, Wissen und Gesellschaft“ steht auf dem Schild vor dem olivgrünen Haus im Universitätsviertel Amitié 2. Hinter hohen Mauern befinden sich ein Ausstellungsraum, eine Bibliothek, Künstlerateliers, Café und Versammlungsräume, wo regelmäßig theoretische und analytische Diskussionsforen stattfinden. Kouoh, eine energische Frau mit kurz geschorenem Haar, empfängt die Besucher in ihrem Arbeitszimmer, wo sie abgeschirmt von Hitze, Staub und dem Knattern der Mofas an ihrem nächsten Ausstellungskatalog arbeitet.

 

SZ: Frau Kouoh, Sie haben gerade unter dem Titel „Who Said It Was Simple“ eine einjährige Ausstellungsreihe zum Thema persönliche Freiheiten eröffnet, die sich insbesondere auf den Umgang mit Homosexualität und Homophobie fokussiert. Hat Homophobie in Afrika einen anderen Stellenwert als im Westen?

 

Kouoh: Leider ja. Im Westen wurde nach langjährigen Kämpfen, die mehrere Jahrzente dauerten, Homosexulität gesellschaftlich toleriert, und ich betone toleriert, denn akzeptiert ist sie nach wie vor nicht ganz in mehreren kreisen. Die Debatte um die gleichgeschlechtliche Ehe in Frankreich hat dies nochmals schockierend in Erinnerung gerufen. In Afrika ist Homosexualität heutzutage generell verteufelt und dies war nicht immer so. Anthropologie und Geschichte belegen dies in vielen Schriften. Ohne alles immer der kolonialzeit anzukreiden wollen, darf man jedoch nicht vergessen, daß die meisten Länder Afrikas die Strafgesetzbücher ihrer ehemaligen Kolonialmacht eins zu eins übernommen haben. In den Strafgesetzbücher Englands und Frankreich war Homosexualität in den sechziger Jahren (und dies bis in den 80er Jahren) strafrechtlich verfolgt. Ich persönlich glaube jedoch, daß es keinen spezifisch afrikanischen oder europäischen Umgang mit Homosexualität geben sollte, denn es geht niemanden was an was man mit seiner Sexualität treibt solange niemand dabei zu schaden kommt. Der erste Teil der Ausstellungsreihe dokumentiert, wie die Medien in Senegal und anderen afrikanischen Ländern das Thema aufbereiten. Im Mai zeigt die Raw Material Company eine weitere Austellung mit dem Titel Precarious Imaging: Visibility surrounding African queerness mit Fotographie, Video und Installationen von Künstlern wie Kader Attia, Zanele Muholi, Andrew Esiebo und andere.zum Leben sexueller Minderheiten.

SZ: Geht es Ihnen darum, die Menschenrechte zu verteidigen?

Kouoh: Mir geht es vor allem darum Kunst zu zeigen und anhand der Arbeiten eine offene Diskussion auszulösen: In einem Begleittext zur Ausstellung erklärt der nigerianische Schwulen-Aktivist Ayo Sogunro, dass es in Nigeria über 250 verschiedene Gesellschaften gibt, von denen einige traditionell homosexuelle Handlungen praktizieren. Das gleiche gilt für Senegal und andere Länder Afrikas. Und dann beschließt die nigerianische Regierung, homosexuelle Praktiken mit langjährigen Gefängnisstrafen zu ahnden – angeblich weil sie der Kultur des Landes widersprechen. Das wirft natürlich Fragen auf: Woher kommt diese Radikalisierung der Gesellschaft? Wer steckt dahinter? Und warum? Da geht es vor allem um politische und religiöse Interessen. Die Homophobie wird instrumentalisiert, um die Menschen zu kontrollieren.

SZ: Mit der Raw Material Company behandeln Sie visuelle Kunst als Ort eines globalen gesellschaftskritischen und politischen Diskurses. Reagieren Sie mit Ihrer jetzigen Ausstellung auf die aktuelle politische Debatte zu Homophobie in Afrika?

Kouoh: Wir arbeiten viel zu langfristig, um auf Trends zu reagieren. So eine Ausstellung hat doch einen Vorlauf von mindestens einem Jahr. Andererseits beschäftigt sich unser Kunstzentrum grundsätzlich mit den Folgen des Kolonialismus: Und dazu gehört auch die Homophobie. Viele der diesbezüglichen Gesetze, die wir in Senegal anwenden, entstammen noch der vierten französischen Republik. Frankreich schaffte die Diskriminierung Homosexueller in den 1980er Jahren ab. Aber in Afrika lebt die alte Politik fort. Sie hat Identitäten geformt, die oft im Gegensatz zu traditionellen afrikanischen Freiheiten stehen.

 

Das Spannungsfeld „konstruierter Identitäten“ zwischen westlichen und afrikanischen Vorstellungen scheint Sie immer wieder zu beschäftigen. So haben Sie im letzten Jahr eine Ausstellung über die überall in Afrika präsenten holländischen Wachsdruckstoffe kuratiert.

Es ist spannend, wie hier eine Geschichte von Kolonialismus, Aneignung und Wiederaneignung geschrieben wird. Warum akzeptieren Afrikaner diese Stoffe, die ja weder in Afrika noch von afrikanischen Designern gefertigt wurden, als „typisch afrikanisch“? Warum glauben die Leute an solche projizierten Ideen? Mir geht es darum, Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen, nachzufragen, was „afrikanisch“ heute bedeutet.

Erwarten westliche Betrachter von afrikanischen Künstlern nicht einen Rückbezug auf tribalistische Traditionen?

Ja, es gibt diese Liebhaber afrikanischer Masken und Skulpturen in Europa, die zeitgenössischer Kunst das authentisch Afrikanische absprechen. Um es mal zu übersetzen: Bleibt bei euren Masken und Skulpturen. Diese Haltung ist rassistisch.

Andererseits ist zeitgenössische afrikanische Kunst heute im Westen präsenter als je zuvor. Afrikanische Kuratoren wie Okwui Enwezor und Simon Njami werden weltweit gefeiert. Sie selbst haben im vergangenen Jahr eine Messe für zeitgenössische afrikanische Kunst in London kuratiert.

Es geht mir um die Anerkennung der kreativen Vielfalt in Afrika, von der Fotografie bis zur populären Musik. Hip-Hop etwa entwickelte sich letztlich aus afrikanischen Zutaten. Besuchen Sie eine Gegend 200 Kilometer südlich von Dakar und Sie hören traditionelle Rap-Gesänge. Schwarze Amerikaner haben das weltweit verbreitet, aber hier wird diese Kunst seit Jahrhunderten praktiziert. Stets wird Afrika verleugnet – bis in die politische Berichterstattung hinein. Tunesien und Ägypten liegen in Afrika, und dennoch wird vom „arabischen Frühling“ und nicht etwa vom „afrikanischen Frühling“ gesprochen.

Hat nicht der senegalesische Frühling ein Gegenbild zu vielen Afrika-Klischees geliefert, indem er zeigte, dass Demokratie und Zivilcourage über die Korruption siegen können?

Ich habe 2012 eine Foto-Ausstellung in Berlin kuratiert, um unsere demokratischen Ressourcen sichtbar zu machen. Demokratie und Mehrparteiensystem gehören seit Jahrzehnten zu Senegal. Als klar wurde, wie korrupt unsere Regierung ist und dass Präsident Wade verfassungswidrig eine dritte Amtszeit plante, gingen die Proteste los. Am Anfang standen öffentliche Debatten und politische Diskussionen. Schon bevor die Bewegung Y’en a marre die Massen auf die Straßen trieb, hatten Politiker, Rapper, Journalisten und Studenten zwei Jahre lang Aktionen veranstaltet. Aber ohne dass der Westen davon Notiz genommen hätte.

Soll Ihre Raw Material Company solche Diskussionen anstoßen?

Dazu brauchen die Senegalesen kein Kunstzentrum – schließlich hatten wir bereits 1968 Studentenproteste, die selbst diejenigen in Paris in den Schatten stellten. Aber ich will die Kunst aus ihrer Selbstreferenzialität holen: Kunst hat mehr zu sagen als Ästhetik und Formensprache. Künstler haben feine Antennen, um gesellschaftliche Prozesse sichtbar zu machen – und zwar auf andere Weise als etwa Kommerz und Politik. Kunst hat in Afrika schon immer kritische Positionen ausgedrückt. Viele der Tänze und Griot-Gesänge sind politisch. Und selbst die überlieferten Skulpturen tragen oft eine politische Botschaft. Wir sind nur manchmal nicht imstande, sie zu lesen.

Sie sind weltweit bestens vernetzt. Macht es da noch einen Unterschied, ob ein Künstler in Paris, Berlin oder Dakar arbeitet?

Ich tendiere zu einem Nein. Die Essenz des Kunstschaffens ist überall die gleiche. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass gerade die afrikanische Großstadt die Menschen – und mit ihnen auch die Künstler – herausfordert. Sie müssen hier, mehr als irgendwo anders, präsent, intelligent und schnell sein, um zu überleben. Hier wird man dauernd aus seiner Komfort-Zone geschleudert. Und das fördert den kreativen Prozess.

Welche Mittel hat denn ein senegalesischer Maler nach seinem Studium an der Kunstakademie, um seine Bilder einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren?

Wenn er Glück hat, kommt er in die Absolventen-Ausstellung in der Nationalgalerie. Dann aber fehlt ein Netzwerk von Galerien, die ihn fördern könnten. Es gibt kaum Sammler und Käufer für junge zeitgenössische Kunst – und noch weniger Kritiker, die über sie berichten würden. Der Absolvent der Kunstakademie wird sich also sehr einsam fühlen. Gerade die visuelle Kunst in Afrika leidet sehr unter der Abtrennung von den anderen Kunstformen. Traditionell kommt Kunst in Afrika immer in einer Vielfalt von Formen daher: Man ist nicht nur Tänzer oder Maskenbildner, sondern gleichzeitig auch ein Dichter, ein Schriftsteller und Maler. Hier gab es immer eine Simultanität. Die Raw Material Company will an einer Infrastruktur mitwirken, die diese Vereinzelung der Künste überwindet.

Wie weit engagiert sich der Staat? In den Jahren nach der Unabhängigkeit wurden viele afrikanische Künstler von ihren Regierungen gefördert, um über die visuellen Künste ein neues nationales Selbstverständnis auszudrücken.

Senegal ist in dieser Hinsicht vorbildlich. Kunst und Kultur haben ein stetiges Budget im Staatshaushalt, von dem Kunstakademie, kulturelle Zentren oder die Biennale in Dakar profitieren. Allerdings halte ich die Qualität der Kunstvermittlung für problematisch. Als ehemalige französische Kolonie haben wir die Haltung unserer Kolonialherren übernommen: Kunst dient zur Verherrlichung des Staates. Unser letzter Präsident Abdoulaye Wade hat etwa eine Menge Geld für die Errichtung eines monumentalen Theaterpalastes im Stadtzentrum verbraten. Nur: Es fehlt ein Programm, um dieses Theater zu bespielen. Direktor und Angestellte verwalten das Gebäude als reinen Selbstzweck. Ähnlich unqualifiziert werden viele Posten im Kultur-Management vergeben. Diese Vetternwirtschaft ist das wirkliche Problem Afrikas.

Und es bleibt privaten Initiativen wie Ihrer Raw Material Company überlassen, ein Gegenprogramm zu entwerfen?

Mit der Raw Material Company haben wir eine Blaupause für ganz Afrika geschaffen. Einen Ort der Freiheit, wo Kunst nicht nur Vergnügen, sondern auch Schmerz, Angst und Gesellschaftskritik ausdrücken kann. Noch aber fehlen vielerorts die nötigen Infrastrukturen. Deshalb haben wir bei unserem letzten Symposium Künstler, Kuratoren und Kunstfunktionäre über den Aufbau von Kunstinstitutionen in Afrika diskutieren lassen.

Haben Sie noch nie erwogen, wie Ihre Kuratoren-Kollegen Okwui Enwezor oder Simon Njami lieber im Westen zu arbeiten, um womöglich mehr Förderung und Öffentlichkeit für Ihre Projekte zu erhalten?

Nein, es ist mir viel wichtiger, hier in Afrika eine Ausstellung in einem 100 Quadratmeter großen Raum zu machen, als ein großes Kunstmuseum in New York zu bespielen. Wir Afrikaner müssen endlich lernen, auf unsere eigene Größe zu vertrauen. Die Nachwirkungen von Sklaverei und Kolonialismus haben sich tief in unsere Psyche eingegraben, als Gefühl der Minderwertigkeit. Wissen Sie, was der Name Raw Material Company besagt? Dass wir Afrikaner alles Lebensnotwendige, alle Rohstoffe im eigenen Land finden. Und ich spreche nicht nur von Gold, Öl oder Baumwolle. Auch Kunst ist ein Rohstoff für die menschliche Entwicklung.
INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ 18.2.2014

Rencontre avec un jeune griot

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