Da tänzelt sie wieder! Jeder Discogänger hat sie schon mal gehört, diese federnde, hart synkopierende Funk-Gitarre. Und während Daft Punks neuester Hit „Get Lucky“ weltweit die Tanzflächen füllt, raunen es sich die Hipster ins Ohr: Nile Rodgers. Oder: „Erkennst du die Gitarre?“ Schließlich kennt man dieses elastische Geriffe über einer knochentrockenen Bassfigur von den großen Hits der Spät-Disco-Phase: „Le Freak“, „Good Times“, „We Are Family“.
War dieser Sound, der Chic-Sound, eigentlich in den vergangenen 35 Jahren jemals aus der Mode gekommen? Nein. Er hatte nur ein bisschen unter dem jahrzehntelangen Dauereinsatz als DJ-Allzweckwaffe gelitten. Schließlich lassen sich mit dem wuchtigen Groove von Bassist Bernard Edwards und Gitarrist Nile Rodgers selbst Halbtote und deren Großeltern zum Hüftschwung animieren. C’est chic, le freak!
Das hat einerseits schon viele Familienfeste und Betriebsfeiern gerettet. Andererseits hat die unverschämte Ansteckungskraft dieser Tanzrhythmen eine gewisse Skepsis befördert: Kann wirklich intelligent sein, was so instinktiv in die Beine geht? Man erinnert sich an T-Shirts mit dem Aufdruck „Disco Sucks“ und Discoplatten-Scheiterhaufen in amerikanischen Sportstadien – und schüttelt das alles nach ein paar Takten Chic-Groove wieder ab.
Nun hat Nile Rodgers persönlich in einer kundig zusammengestellten Vier-CD-Box den Zauber der „guten Disco“ aufs Neue eingefangen: „The Chic Organisation – Box Set Vol.1“ Die Zusammenstellung von Chic-Produktionen zwischen 1976 bis 1983 macht begreiflich, warum bis heute sowohl Dancefloor- wie auch Elektro- und Hiphop-Produzenten sich von deren Sound beflügeln lassen. Genial, wie reduktive Ästhetik und Massenappeal zusammenfinden: „Unsere Formel“, so hat Nile Rodgers einmal erklärt, „war es, einen Song in seine Basis-Elemente zu zerlegen, um ihn dann vor den Ohren der Zuhörer wieder aufzubauen.“
Dabei zeigte die Plattenindustrie Chic – so benannt zu Ehren von Josephine Baker und dem exotischen Nachtclub-Ambiente von Paris – erst einmal die kalte Schulter. Zu hart klang dieser Groove, zu spartanisch für die gewollt überladenen Chart-Arrangements. Rodgers und Edwards (der Bassist verstarb 1996) blieb nur der Untergrund. „Ein Freund und früher Fan von uns“, schreibt Nile Rodgers im Booklet, „wollte uns helfen, unsere Vision zu verwirklichen. Robert Drake arbeitete in einem professionellen Aufnahmestudio und zahlte dem Liftboy zehn Dollar, um uns hoch- und runterzufahren, so dass er uns abends nach Dienstschluss heimlich im Studio aufnehmen konnte.“ Das war im September 1976. Das erste Ergebnis ihrer nächtlichen Jamsession nannten Rodgers und Edwards „Everybody Dance“, ein Jazz-Funk-Stück mit einem unwiderstehlichen Break. Robert Drake, der als DJ in einem gehobenen New Yorker Club namens „The Night Owl“ arbeitete, hatte sich zwei Platten von der Nummer gepresst.
Ein paar Wochen später lud er das nichtsahnende Chic-Duo in seine Disco ein. Nile Rodgers erinnert sich, dass der Türsteher ihn wegen seines Hippie-Outfits erst nicht einlassen wollte – bis er sich als der Musiker hinter „Everybody Dance“ zu erkennen gab. Darauf bahnte man ihm – mit der Ansage, dass alle Getränke auf Kosten des Hauses gingen – einen Weg durch den von Zigarettenrauch verhangenen Club zur DJ-Kanzel. Der DJ hatte nur auf diesen Moment gewartet: Er ließ die Nadel fallen, und in das Schlagzeug-Intro fädelte sich das monströse Bassriff von Bernard Edwards ein. Nile Rodgers hatte das Stück schon einen Monat nicht mehr gehört: „Die Besucher des Clubs schrieen, dass mir beinahe das Blut gerann. Dann kam meine Gitarre zusammen mit dem Piano, dem Vibraphon und Clavinet ins Spiel. Der Raum füllte sich mit Stimmen ,Da-ance, do- do- do- do-, clap your hands, clap your hands …'“. Die entfesselte Menge von Tänzern hielt sieben Wiederholungen des Stückes durch und tanzte eine Stunde lang zu einem Song, der als Zehn-Dollar-Demo aufgenommen worden war.
Der Rest ist Geschichte: Nachdem Atlantic Records zuerst nur einen Single-Vertrag anbot, folgten in immer kürzeren Abständen neue Maxis, Alben und Aufträge für andere Stars. Aus dem Disco-Untergrund-Duo erwuchs eine Hitfabrik. Zeitweise arbeiteten Rodgers und Edwards an drei Produktionen in drei verschiedenen Studios gleichzeitig. Und ein Klassiker jagte den nächsten: „We Are Family“ und „Lost in Music“ von Sister Sledge, „Upside Down“ von Diana Ross oder Norma Jeans „Saturday“. Auch Debbie Harry, Sheila & B. Devotion, Teddy Pendergrass und Crooner Johnny Mathis ließen sich vom „good groove“ befeuern.
Ergänzt wird die Werkschau durch ein paar unveröffentlichte Chic-Outtakes – und fünf Neu-Remixen von DJ Dimitri From Paris. Die hätte es allerdings als Aktualitätsausweis gar nicht gebraucht. Denn von David Bowie („Let’s Dance“) bis Madonna („Like a Virgin“) und nun Daft Punk blieb Nile Rodgers‘ Gitarre immer präsent. Wer wollte bezweifeln, dass dem Chic-Sound die Zukunft gehört? Wer sich in der Euphorie ihres federnden Grooves verliert, kann immer noch süchtig werden und die Welt für eine Viertelstunde in Rhythmus auflösen. Eleganter geht Eskapismus nicht!
JONATHAN FISCHER
FAZ 30.7.2013