Monatsarchiv: Juli 2015

Durch den Stacheldrahtverhau des Lebens: Das Testament des Soulsängers Mighty Sam McClain

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Wenn vokale Intensität, emotionales Timing und künstlerischer Wagemut den Weg zum Soul-Olymp pflastern würden, dann wäre Mighty Sam McClain längst ein Hausgott der weltweiten Black-Music-Gemeinde. Dann müsste sein postum – McClain verstarb Mitte Juni – veröffentlichtes Meisterwerk «Tears Of The World» in den Charts stehen. Und zur offiziellen und ewig gültigen Messlatte erklärt werden: dafür, was Soul heute noch bedeuten kann. Wie seine grossen Vorbilder Bobby Blue Bland und O. V. Wright sang Mighty Sam McClain am intensivsten, wenn es um die Verluste im Leben ging. Der flauschige Teppich des zeitgenössischen R’n’B war ihm suspekt. Ihn interessierten die Brandlöcher, Tränenflecken und der Schmutz darunter. Er suchte stets den Kurzschluss von der Gosse in den Himmel, «den Geschmack von Gott», wie ihn O. V. Wrights Songwriter Roosevelt Jamison vor fünfzig Jahren postulierte. War es nicht immer diese Mischung aus Ekstase und Verzweiflung, die den schmerzhaften Suchtcharakter des Soul ausmachte? Und wer vermochte die metaphysische Erregung einer 1960er-Jahre-Blues-Hymne so nahtlos in unsere Zeit zu transferieren wie dieser Sänger? Man könnte viel über das Mysterium von Mighty Sam Mc Clains bald gurrender, bald heiser grunzender Stimme sagen: dass sie ein Leben widerspiegelte etwa, das sich weitgehend auf der der Sonne abgewandten Seite abspielte. Denn Mighty Sam McClains Musik steht für eine universale afroamerikanische Erfahrung. Was jüngst in Ferguson, Baltimore oder South Carolina geschah – das mag wie eine späte Fussnote erscheinen für eine im Blues verwurzelte Generation, der das Überleben so viel abforderte, dass für das Leben kaum noch etwas übrig blieb. 1943 in Monroe, Louisiana, geboren, fing McClain – wie sollte es auch anders sein – in der Kirche an zu singen. Mit 13 Jahren riss er vor dem gewalttätigen Stiefvater aus. Ein lokaler Rhythm’n Blues-Gitarrist nahm den Jugendlichen unter seine Fittiche. Später überliess er dem 15-Jährigen das Mikrofon. 1966 dann ein erster Hit. Der DJ und Produzent «Papa Don» Schroeder liess den Soulsänger Patsy Clines Country-Nummer «Sweet Dreams» aufnehmen – mehrere Singles, die in den legendärem Muscle-Shoals-Studios aufgenommen wurden, folgten. Doch McClain hatte noch nicht seine ureigene Stimme gefunden. Der Soul-Mann, dessen Name bereits vom Apollo-Theater in Harlem strahlte, hangelte sich von Job zu Job, verkaufte sein Blut und schlief 15 Jahre lang auf den Parkbänken von New Orleans. Es waren schliesslich die Neville Brothers, die Mighty Sam McClain eine zweite Chance boten. Das Blues-Revival der neunziger Jahre spülte ihn als Teil der Hubert Sumlin Band nach Boston. Hier fand der Soulsänger College-Klubs, Festivals und eine Plattenfirma, für die er ein halbes Dutzend hochkarätige Soul-Alben einspielte. Sie atmeten die Erdigkeit der sechziger Jahre; überdies geizte der Sänger – etwa auf dem 2012er Album «Too Much Jesus (Not Enough Whiskey)» – auch nicht mit lässigem Humor. Doch McClain blieb nicht stehen: 2009 spielte er ein Duett-Album mit der iranischen Folksängerin Mahsa Vahdat ein, später nahm er mit dem norwegischen Bluesgitarristen Knut Reiersrud Filmmusik auf. Reiersrud hat auch Mighty Sam McClains letztes Album produziert. «Tears Of The World» erscheint zu Recht auf dem Jazz-Label Act. Assoziierte man mit McClains Songs bisher Bier, Soulfood und von billigen Parfums geschwängerte Blues-Kaschemmen, dann brach er hier nun in neue Räume auf. Auf «Tears Of The World» vermengen sich vierzig Jahre schwarzer Musikgeschichte. Es werden Klassiker wie «Que Sera, Sera» mit Chor und Bläsersätzen «gepimpt», Willie Hales «Wish I Had A Girl» ertönt als Funk-Hymne. Reiersrud spielt geschickt mit der Dynamik. Zwischen kargen Gitarren-Licks und köchelnder Rhythmik entfaltet McClains Stimme – etwa im Country-Song «Too Proud» – das Drama unglücklicher Liebe. Die Akkordwechsel folgen nicht immer dem Blues-Schema. Glockenspiele setzen aparte Akzente. Und in der Eigenkomposition «Apples» glaubt man Quincy Jones am Werk, wenn der Blues-Shuffle plötzlich in Streicher-Arrangements mündet. Bei McClain klingt nichts alt oder vernarbt. Seine Tränen sind sein Gebet. «Tears Of The World» ist das würdige Vermächtnis eines Sängers, der sein Herz durch den Drahtverhau des Lebens trug. Mighty Sam McClain: Tears Of The World (Act/Musikvertrieb) JONATHAN FISCHER NZZ 31.7.2015

Rhythmus der Rebellion – Entdeckungen beim Jazz Sommer im Bayerischen Hof: Tibor Bozi und die Afrobeat-Legende Tony Allen

hh03 Es lohnt sich, dieses Gesicht genauer zu betrachten: Tony Allen, einst Bandleader von Fela Kuti, Miterfinder des Afrobeat und heute vor allem als rhythmische Kraft hinter Damon Albarns diversen Pop-Formationen berüchtigt, hat schon Hunderte von Foto-Sessions über sich ergehen lassen. Doch kaum jemand hat die Ausstrahlung des Mannes so überzeugend eingefangen wie der Münchner Fotograf Tibor Bozi: In grünliches Licht getaucht, strahlen die Gesichtszüge des 74-jährigen Meistertrommlers die Würde einer Yoruba-Maske aus. Unnahbar, hermetisch verschlossen – und doch spürbar mit Aura aufgeladen, einer langen Geschichte, die von Misstrauen, Widerstand und Stolz erzählt. Das Porträt entstand vor zwei Jahren vor einem Konzert von Tony Allen im Bayerischen Hof. Nun zeigt es Tibor Bozi zusammen mit zwei Dutzend weiteren großformatigen Musikerporträts im Festsaal des Münchner Hotels.

  „My Shooting Gallery“ heißt die Ausstellung. Eine Hommage an die Porträtierten wie auch den Corbis-Fotografen und Pop-Kenner Bozi, der in den 90er Jahren von New York nach München zog und nicht nur einen Hauch von Pop-Abenteurertum an die brave Isar-Metropole mitbrachte. Sondern auch einen Punk-inspirierten Arbeitsstil: „Ich laber’ die Künstler am liebsten ins Koma“, sagt Bozi, „dann sind sie verwirrt und wehrlos – und ich kann mit ihnen arbeiten“. Anthony Kiedis und Dr. Dre hat er auf diese Weise abgeschossen, er hing mit den Black Eyed Peas im Tourbus ab, und spielte Schach mit Wu-Tang-Clan-Mastermind RZA. Und wenn etwa der schwule Rapper Le1f angesichts von Bozis Idee, ihn mit Frauenperücken abzulichten, sprichwörtlich davonrannte: Am Ende hat der Fotograf die Irritation stets für sich genutzt. Was könnte das unorthodoxe Aufgebot des Münchner Jazzsommers also besser ergänzen als Bozis kreisförmig von der Decke des Festsaals hängende Porträts?

  Auch dieses Jahr hat Programm-Chefin Katarina Ehmki wieder ein paar große Namen (Al Jarreau, Tony Allen) mit wagemutigen und hierzulande kaum bekannten Nachwuchskünstlern zusammengespannt: Unter anderen die äthiopisch-israelische Sängerin Ester Rada mit ihrem Ethio-Jazz-getränkten Rhythm’n Blues, Bossa Negra, die neue Band des brasilianischen Mandolinen-Virtuosen Hamilton de Holanda oder der Metal-Artrock des jungen Franzosen Guillaume Perret.

  Den dramatischen Paukenschlag aber setzt Tony Allen diesen Mittwochabend. Mit einer jungen, experimentierfreudigen Band wird Fela Kutis Weggenosse sein neues Album „Film of Life“ präsentieren – und diejenigen, die glauben, schon alle Rhythmen gehört zu haben, eines Besseren belehren: „Afrobeat“, hat der Veteran einmal erklärt, „bedeutet Grenzen einzureißen. Aber eben nicht durch Vereinfachung. Sondern durch Komplexität“.

  Brian Eno nennt ihn den großartigsten Schlagzeuger der Welt, Damon Albarn ein „lebendes Weltwunder“. Und doch braucht man geschulte Ohren, um Allens Originalität voll und ganz zu würdigen, des Mannes, der behauptet, „das gleiche Pattern nie zweimal zu spielen“, durch Endlosschleifen voller minimaler rhythmischer Verschiebungen zu folgen. Nur wer tanzt, begreift sofort: dieses nervöse Zischeln, Tippen und Schlurfen; die Elastizität, mit der Becken und Hi-Hats den Beat umschwirren; Allens stetig anschiebende Basstrommel B-Boom, B-Boom, B-Boom – zu dieser Musik kann man nicht im Gleichtakt marschieren – mit ihr aber sehr wohl Rebellionen anzetteln.

  „Ich lerne immer noch, ich ruhe mich nie aus“, sagte Allen, als er vor sechs Jahren sein letztes Konzert im Bayerischen Hof gab. Das Interview in einem Hotelzimmer hatte mehr gestischen als verbalen Inhalt. Stetig kreisten die Stöcke in Allens Hand: Seine lakonische Wortkargheit stand in krassem Kontrast zur Geschmeidigkeit und dynamischen Energie seiner Handarbeit. Welche zeitgenössischen Kollegen er schätze? „Die Drummer von heute bequemen sich mit Maschinen. Sie arbeiten nicht so hart wie die Giganten der Vergangenheit.“ Nein, Allens Schule, das waren Platten von Art Blakey, Max Roach und dem Highlife-Trommler Guy Warren.

  Anhand einer Anleitung des Jazz-Magazins Downbeat hatte sich der junge Nigerianer selbst das Spielen beigebracht. Dann hörte ihn Fela Kuti: Und wusste sofort, dass dessen Fusion aus Highlife und Jazz das Fundament eines ganz neuen Musikstils liefern würde. Tony Allen führte fortan die Band. Er lieferte die flirrenden Rhythmen unter den scharfen Bläsersätzen und Pidgin-English-Chören, er war es auch, der nach einer Amerika-Tour im Jahre 1969 James Browns Funk in die Call-and-Response Schleifen von „Africa 70“ einarbeitete.

  Nach 15 Jahren, in denen Fela Kuti weltweit zu einer Ikone der Gegenkultur herangewachsen war, aber ging Tony Allen eigene Wege. „Alles spielte damals verrückt“, erinnert er sich an das Jahr 1978, „die Armee hatte Felas Compound überfallen, und ich folgte ihm ins Gefängnis, weil ich mich wie sein Bruder fühlte“. Mitte der Achtzigerjahre zog Allen erst nach London, dann nach Paris um. Und während Fela bis zu vier Schlagzeuger gleichzeitig engagierte, um die Lücke, die Allen hinterlassen hatte, zu füllen, köchelte jener weiter an der Rezeptur des Afrobeats. Unter anderen Jimi Tenor, Sebastien Tellier und Elektro-Produzent Doctor L suchten sein Genie. Am fruchtbarsten aber erwies sich die Partnerschaft mit Damon Albarn. Der Blur-Sänger hatte bereits im Jahr 2000 die Zeile „Tony Allen got me dancing“ gesungen, bevor sich jener mit einer Einladung nach Lagos revanchierte. Seitdem befeuern Allens Beats Albarns Pop-Projekte wie die Gorillaz, The Good, The Bad and The Queen oder Rocket Juice and the Moon. Hauptsache anders, Hauptsache neben dem Mitklatsch-Beat.

  Auch auf Tony Allens mittlerweile zehn Solo-Alben ist alles erlaubt. Außer Schlagzeug-Soli. Und Sentimentalitäten. „Bloß kein Ballast, bloß kein Ballast“, sagt Allen, nach dem Gewicht der Tradition befragt. Seine Loops leben von ihren Verzögerungen und Variationen. Kein Sampler bekommt die minimalen Abweichungen so hin wie er. Kein Wunder, wenn immer öfter Techno- und Hip-Hop-Produzenten Tony Allens Arbeit buchen. Der menschliche Faktor: Er stellt heute das größte Kapital des 74-jährigen. Zuletzt hat ihn das französische Produzenten-Trio The Jazz Bastards ins Studio geholt. Zusammen haben sie „Film of Life“ produziert, einen eklektischen Afrobeat-Entwurf, der mit orientalischen Akkordfolgen, Philly-Soul und einer Reihe von Selbstzitaten spielt. Es geht zurück in die Zukunft. Auch politisch. Auf „Boat Journey“ und „Go Back“ singt Allen über Flucht und Exil. „Nehmt nicht das Boot, Schwestern, nehmt nicht das Boot, Brüder“, warnt er seine afrikanischen Landsleute. Ein Thema das aktueller nicht sein könnte.

  Eineinhalb Jahrzehnte nach Fela Kutis Tod feiert der Afrobeat eine Renaissance. Mit Plattenwiederveröffentlichungen, Musicals – oder dem großartigen, im Rahmenprogramm des Jazzsommers gezeigten Dokumentar-Film „Finding Fela“. „Alles was Fela über die Situation Afrikas sang“, sagt Allen, „ist eingetroffen. Er hat die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zusammen gesehen. Ich bin nicht Fela. Dennoch fühle ich mich verpflichtet, die Botschaft weiterzutragen“.

  Afrika als ewige Mission. Es wird die längste Redepassage von Tony Allens halbstündigem Interview bleiben. Sein dazugehöriger Blick aber sagt mehr als alle Ausrufezeichen. Wer das nachprüfen will, sollte sich noch mal Tibor Bozis Porträts anschauen.

JONATHAN FISCHER

SZ 22.7.2015

Auferstanden aus Reimen – Deutsche Entwicklungshilfe, senegalesische Ideen: Zu Besuch bei der Hip-Hop-Akademie in Dakar

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Pikine, ein Viertel am östlichen Stadtrand von Dakar: Viele der Häuser hier sind unverputzte Ruinen, die Straßen voller Schlaglöcher, gesäumt von Eselskarren und Wellblechständen. Wenn der Senegal auch als Hoffnungsträger Westafrikas gilt, ein paar Kilometer weiter teure Restaurants, Boutiquen und Elektronikläden von nationalem Wirtschaftswachstum zeugen – in Pikine wohnen diejenigen, die mit Sonnenbrillen, Handtüchern und Plastikgeschirr an den Autofenstern der Reichen hausieren gehen. Viele von ihnen investieren ihr bisschen Profit irgendwann in einen Schlepper Richtung Europa.

  An einem weiß getünchten Betonkasten hängt die Reklametafel einer lokalen Radiostation. Dass hier auch die Hip-Hop-Akademie residiert, Afrikas einzige Einrichtung dieser Art, lässt sich höchstens an den Graffiti-verzierten Mauern erahnen. Schwere Beats klatschen durch den zweiten Stock. Zwischen Hip-Hop-Postern, Computertischen und Bücherregalen stehen Grüppchen von Studenten beieinander und diskutieren. Von Weitem betrachtet, könnte es fast eine Szene aus New York, London oder Paris sein: Dieselben Käppis, dieselben Apple-Computer, derselbe Hip-Hop-Handschlag. Nur der Blick auf die Müllbrachen vor den Fenstern ernüchtert.

„Wir haben zum Glück einige ausländische Sponsoren gewonnen“, sagt Amadou Fall Ba, der Manager der Hip-Hop-Akademie. „Aber unsere Idee, unser Konzept entstand hier in Pikine.“ Gerade sind – finanziert durch das Goethe-Institut – ein paar deutsche Hip-Hop-Kollegen zu Besuch. Der Münchner Produzent Sepalot demonstriert senegalesischen Jugendlichen, wie man Bass-Files druckvoller gestaltet, während die Rapper David P, Roger Rekless und Cajus mit lokalen Rappern einen Deutsch-Wolof-Freestyle improvisieren. Am Tag darauf werden sie ihn auf die Bühne von Festa 2H, dem größten Hip-Hop-Festival in Dakar, bringen. „Der senegalesische Hip-Hop“, begeistert sich David P, „stiftet vor allem eine politische Gemeinschaft. Bringt alle zusammen, die die Gesellschaft verändern wollen. Dieser Spirit ist uns in Deutschland leider abhandengekommen“.

Der Akademie-Manager Amadou Fall Ba, ein unaufgeregter junger Mann im Karohemd, schaut auf seine Armbanduhr: „Ich setze 40 Minuten für unser Interview an.“ „L’allemand“ nennen ihn die Studenten im Scherz: Wegen Amadous selbstloser Disziplin, aber auch weil er über ein Stipendium des Goethe-Instituts eine Ausbildung zum Kulturmanager in Deutschland absolviert hat. Resolut führt er durch die Klassenzimmer. Ein Multimedia-Raum mit Videoschnittplätzen. Ein professionelles Tonstudio. Eine Hip-Hop-Bibliothek. Auf einer Bühne im Innenhof stehen einige Jugendliche noch etwas unbeholfen vor zwei Plattenspielern und einem Mischpult. „Tschikki, tschikki, tschikk, kchchrr, tschikk . . .“ Der Grundkurs Scratchen.

  „Wir bilden Jugendliche aus, die sonst keine Chance hätten“, sagt Amadou, „damit sie als DJs leben können, als Tontechniker, Grafiker, Videofilmer.“ Professionalität sei oberstes Gebot – vom korrekten Finanzierungsantrag bis zum Studium der Hip-Hop-Geschichte. 80 Studenten sind derzeit eingeschrieben. Der Dachverband Africulturban, der auch Grundkurse in Event-Management anbietet, hat sogar 1200 Mitglieder. „Früher blieb dir in Pikine nur eine Wahl: Bauchladen-Händler oder Krimineller“, sagt Amkane. Der 27-jährige Akademie-Student lebte lange auf den Straßen des Viertels, kam wegen Drogenbesitzes ins Gefängnis und ging 2007 bei Africulturban in einen Kurs, der sich an Strafentlassene richtete. „Ich habe hier Lesen und Schreiben gelernt – und wie man Videos filmt. Vor allem aber wurde mir hier Hoffnung gegeben.“

  Amkane bekommt inzwischen Aufträge als Videoproduzent und kann davon leben. Damit ist er unter den Absolventen kein Einzelfall. Mehr als die Hälfte der 15 Millionen Senegalesen sind unter 18 Jahre alt. Die Arbeitslosigkeit beträgt je nach Berechnung zwischen 46 und 75 Prozent. Die Wirtschaft kann mit dem Bevölkerungszuwachs kaum Schritt halten. Da bedeutet Hip-Hop nicht nur die größte Jugendkultur, sondern auch: potenzielle Jobs.

  Im Direktorenzimmer tippt Matador auf seinem Laptop. Der drahtige Rapper mit dem tief ins Gesicht gezogenen Chicago-Bulls-Käppi ist einer der größten HipHop-Stars des Senegal. 2011 hat er zusammen mit Amadou Fall Ba die Hip-Hop-Akademie initiiert: „Unsere Studenten lernen, mithilfe der neuen Medien die Gemeinschaft zu mobilisieren. Denn wenn man über die Demokratie im Senegal redet, dann fängt sie mit dem Hip-Hop an.“ Matador erzählt das so selbstverständlich, wie ein Meteorologe die Regenzeit im Juli ankündigen würde. „Bis in die 90er-Jahre hatten wir hier kaum kritische Medien und kaum eine ernstzunehmende Opposition. Es waren die Rapper, die es als Erste gewagt haben, die Regierenden offen zu kritisieren. Wir waren die Ersten, die sich zur Demokratie bekannt und die Freiheit des Wortes verteidigt haben.“

  Matador spielt seinen neuesten Track vor. Eine Ansprache an den Präsidenten: „Du genießt die Macht, weil du nicht dein Wasser und deinen Strom zahlst. Du genießt die Macht, weil du nicht dein Telefon, deine Villa und deinen Chauffeur zahlst. Du nimmst dir Urlaub und reist in fremde Länder. Aber wer bezahlt dir den Luxus? Wir!“ Die Bevölkerung, sagt Matador, traue den Politikern nicht mehr. Wer hören will, was die Leute auf der Straße denken, müsse den Hip-Hoppern folgen.

  Bereits seit den 90er-Jahren gelten die senegalesischen Rapper als Vorreiter des politischen Hip-Hop in Afrika. Ihre Konzerte in den Vierteln gleichen wilden Wahlversammlungen. Ihre Beats und Parolen haben die Kraft, Regierungen zu stürzen. Zum Beispiel lag es vor allem an der jungen, mit Hip-Hop sozialisierten Generation von Erstwählern, dass bei den Wahlen im Jahr 2000 das 30 Jahre alte sozialistische System weggefegt wurde. Und Rapper initiierten auch die sogenannte „Zweite Revolution“: Das Hip-Hop-Trio Keur-Gui schloss sich im Januar 2011 mit drei Journalisten zu einer Bürgerinitiative zusammen: Y’en a Marre. Zu Deutsch: Uns reicht’s. Es ging gegen die korrupte Bürokratie, die ständigen Stromausfälle, die unzureichenden Schulen. Andererseits forderte man aber auch mehr Engagement der Bürger. Die Parole vom selbstverantwortlichen Bürger machte die Runde: „nouveau type senegalais“, kurz: NTS.

  Als Präsident Abdoulaye Wade ein Jahr später eine verfassungswidrige dritte Kandidatur anstrebte, protestierte Y’en a Marre und mobilisierte Senegals Jugend zur Wahl. Mit Erfolg: Der Wechsel zum jungen Amtsnachfolger Macky Sall ging relativ demokratisch über die Bühne, wenn auch begleitet von sechs Toten und Hunderten verletzten Demonstranten. Doch mit dem neuen Präsidenten, sagt Matador, sei der Auftrag von Y’en a Marre und Hip-Hop nicht beendet: „Macky Sall suchte die Macht. Wir aber kämpfen für Gerechtigkeit und Gleichheit. Deshalb müssen wir uns Unterstützung im Ausland suchen.“ Eine Bronzetafel vor seinem Büro weist auf die US-Botschaft als einen der Geldgeber hin. Deutsche und französische Partner sollen nun die Erweiterung der Akademie ermöglichen – den Sozialbrennpunkt Pikine zu einem Vorreiter der neuen Medien in Westafrika machen.

  Matador selbst stammt, wie viele seiner Studenten, aus dem Viertel. Die offizielle Arbeitslosenstatistik gilt als gnadenlose Schönfärberei, doch auf einen anderen Rekord ist man stolz: 2000 der rund 3000 senegalesischen Rap-Bands stammen von hier. Damit brüstet sich sogar der Bürgermeister des Zwei-Millionen-Vororts. „Wenn andere Städte ihre Identität über ihre Jazzfestivals beziehen, dann wollen wir Pikine zu einem weltweiten Wahrzeichen des Hip-Hop machen.“ Das klingt großspurig – doch Bürgermeister Abdoulaye Thimbo ist der Onkel des aktuellen Präsidenten und hat beste Kontakte nach ganz oben. Und: Er weiß genau, dass er ohne die HipHop-Jugend keine Wahl gewinnen kann.

  Im Bürgermeisterbüro sitzen Matador und der Münchner Kulturmanager Dietmar Lupfer. Bürgermeister Thimbo hat ihnen soeben ein Grundstück für das neue Kulturzentrum in Aussicht gestellt. Ab 2017 soll hier – mit deutscher Entwicklungshilfe – Kunst entstehen. Nicht so eurozentrisch selbstbezogen wie in Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso. Sondern von den Senegalesen selbst geplant. Und, das betont Lupfer immer wieder, verbunden mit einer soliden IT-Ausbildung. „Wir wollen Kultur und Wirtschaft gleichermaßen anschieben. Denn egal, welche Kunst dabei herauskommt: Am Ende bleiben ein paar gut ausgebildete Webdesigner.“ Matador ballt seine Faust zum Zeichen des Einverständnisses: „On est ensemble“ – „Wir sind zusammen“. Er glaubt, das Zentrum werde einen Bewusstseinswandel beschleunigen. „Du musst nicht nach Europa gehen, um dein Glück zu suchen.“ Fast alle Studenten der Hip-Hop-Akademie folgten schon Einladungen zu Austauschprogrammen in den Westen. Alle sind zurückgekommen. „Wir haben uns entschlossen, zu bleiben. Weil uns niemand anders retten kann als wir selbst!“

JONATHAN FISCHER

SZ 24.6.2015

Es ist nicht weit von Lagos nach New Orleans: Sagt ein Pass etwas darüber aus, wo die Heimat ist? Der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole über Afrika, Brooklyn und Hip-Hop

TejuSein Roman „Open City“ machte Teju Cole 2011 schlagartig berühmt. Mittlerweile ist auch das ursprünglich nur in Nigeria publizierte literarische Debüt „Jeder Tag gehört dem Dieb“ des 39-jährigen nigerianisch-amerikanischen Autors bei uns erhältlich. Darin kehrt der Ich-Erzähler aus den USA in seine Heimatstadt Lagos zurück. Es ist auch der Versuch Coles, seine Biografie aufzuarbeiten: Kurz nach seiner Geburt in Amerika ging er mit seinen Eltern zurück nach Nigeria. Mit 17 Jahren nutzte Cole seine amerikanische Staatsbürgerschaft, um im Westen Medizin und Kunstgeschichte zu studieren. Heute lebt er als Schriftsteller und Journalist in New York.

SZ: In „Jeder Tag gehört dem Dieb“ zeigen Sie das Leben in Lagos als verstörend-gewalttätige Tragödie. Wie haben die Bewohner Ihrer Heimatstadt darauf reagiert?

Teju Cole: Nur westliche Leser finden das Buch tragisch. Nigerianer finden es eher lustig. Sie kennen alltägliche Szenen, wie sich etwa zwei Polizisten um das Bestechungsgeld streiten, natürlich – aber nun hat es zum ersten Mal jemand in einem Buch festgehalten. Und das macht es komisch. Aus demselben Grund lieben Nigerianer Horrorfilme, diese krass überzeichneten Hexer-Dramen, die seit den 90er-Jahren zu einer Groß-Industrie angewachsen sind. Seine eigene absurde Welt gespiegelt zu bekommen, kann stresslösend wirken.

Wie gehen Sie mit dem Stress um?

Als ich noch in Lagos lebte, haben wir uns vor allem durch Tanzen abreagiert. Mit Songs, die mehr als 30 Minuten dauern, oder manchmal sogar zwei Stunden. Exzessive Feiern und exzessive Gottesdienstbesuche – das sind die Medikamente der meisten Nigerianer. Meine Medizin allerdings ist es, zu schreiben. Ich nehme gerade ein Sachbuch über Lagos in Angriff.

Sie leben seit 20 Jahren in Brooklyn. Bezeichnen Sie Nigeria dennoch als Ihre Heimat?

Die Yoruba-Sprache erdet mich. Sie ist mein Anker in der Welt. Aber dann fühle ich dieselbe emotionale Wärme, wenn ich hier in Deutschland einen Buchladen betrete. Wenn ich eine Sportsbar in Brooklyn besuche und Stevie Wonder aus den Lautsprechern tönt. Wenn bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt der tiefe, weltumspannende Humanismus der afroamerikanischen Soulkultur aufscheint. Verwandtschaft und Zugehörigkeit: Das hat nichts mit meinem amerikanischen und nigerianischen Pass zu tun. Sondern mit einer Umgebung, die dasselbe Kulturverständnis, dieselben humanistischen Ideen teilt.

Sie werden trotzdem gerne als „junger afrikanischer Autor“ vorgestellt. Was ist afrikanisch an Ihnen?

Wir haben leider noch zu oft das Klischee, dass sich afrikanische Authentizität eher in Baströckchen als in Smartphones findet. Aber die afrikanischen digitalen Eingeborenen werden uns bald allein zahlenmäßig überrunden. Und Brooklyn wächst gerade zu einer der interessantesten afrikanischen Städte heran . . .

Sie meinen Brooklyn, New York?

Ja, und das liegt an einigen der Webseiten aus Brooklyn, wie etwa meinen Lieblings- Blogs „Africaisacountry“ und „Okayafrica“. Sie sind die wichtigsten Versammlungsplätze für die afrikanische Diaspora. Wer afrikanische Kultur heute verstehen will, sollte dort mal reinschauen.

Verstehen Sie sich als „Afropolitan“, als Teil der jungen urbanen Kulturschaffenden, die Taiye Selasi so taufte?

Nennen Sie mich lieber einen Panafrikanisten, das ist politischer. Es gibt eine marxistische Kritik an dem Begriff Afropolitan: Dass in der Regel nur reiche und gebildete Menschen in diese Klasse fallen. Da ist etwas dran. Dennoch mag ich die Gesellschaft anderer sogenannter Afropolitans: Uns verbindet das ständige Ringen um Zugehörigkeit.

Kann die weltläufige afrikanische Diaspora den schwarzen Kontinent vor Tribalismus und korrupten Clans retten?

Mich stört das Wort „retten“. Müssen Deutschland oder Italien vor ihren Problemen gerettet werden? Weil ich mich um Nigeria sorge, kämpfe ich für mehr Gerechtigkeit, für mehr Inklusion. Und ich sehe das positive Potenzial dort.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Der Ebola-Ausbruch war eine der größten Bedrohungen für mein Land. Und er rief sofort den weißen Retter-Komplex auf den Plan: Wie können wir diese hilflosen Afrikaner retten? Als die Seuche Lagos, eine der größten Städte der Welt, erreichte, prophezeiten manche ein absolutes Desaster. Aber es wurde kein Desaster. Es ist schlimm, dass elf Menschen starben, aber es waren keine Hunderte oder gar Tausende. Warum? Das hatte zum Großteil mit dem Engagement der Bürger zu tun. Ein Blogger lud eine Seite namens Ebolafacts hoch, verbreitete sie über Twitter, und weil die meisten jungen Nigerianer dieses Netzwerk teilen, wusste am Ende jeder in Lagos, was zu tun war. Niemand hat von außen geholfen. Nein, Afrikaner, die in Afrika leben, aber international denken, bleiben die Schlüsselfiguren für eine Veränderung.

Die großen Helden der Selbstbefreiung Afrikas – Kwame Nkrumah, Thomas Sankara oder Fela Kuti – sind Vergangenheit. Sehen Sie ähnlich charismatische Führungsfiguren in der Gegenwart?

Oh doch, es gibt sie. Typen wie Sankara hatten ja auch etwas Gewalttätiges an sich. Heute glauben wir nicht mehr an die Macht von Putschen. Und das ist gut so. Dafür zählen Literaten wie Binyavanga Wainaina und Chimamanda Adichie oder der kenianische Fotojournalist und Polit-Aktivist Boniface Mwangi zu unseren neuen Anführern. Und auch der nigerianische Bürger, dessen Website „Buharimeter“ die Amtsführung unseres neuen Präsidenten verfolgt und alle seine Wahlversprechen akribisch auflistet. Diese Aktivisten sind keine großen Helden. Aber sie sind Teil eines demokratischen Wandels.

Nigeria ist derzeit vor allem wegen der Gräueltaten von Boko Haram in den Schlagzeilen. Haben Sie rationale Erklärungen für das Chaos in Ihrer Heimat?

Nein, wirklich erklären kann ich mir das nicht. Zwar ist Nigerias Politikerklasse – ob Regierungs- oder Oppositionspartei – höchst korrupt und stellt so etwas wie einen geschlossenen Zirkel dar. Aber auch andere afrikanische Länder haben ähnliche Probleme, und finden doch zu mehr Normalität als meine Heimat.

Sie schreiben in Ihren Büchern viel über Brahms, Mahler, deutsche Klassik, aber so gut wie nie über nigerianische Musik. Spiegelt das Ihre eigenen Vorlieben?

Nun, das ist Julius in „Open City“ – ich wollte dadurch die innere Verbindung zu seiner deutschen Großmutter verdeutlichen. Ich selbst höre jede Menge nigerianische Musik und besuche auch in New York am liebsten afrikanische Clubs. Kennen Sie den neuen nigerianischen Hip-Hop? Wizkid, Davido, D’Banj – von diesem Stoff bekomme ich nicht genug.

Warum bringen Sie das nicht in Ihre Literatur ein?

Ich lasse das ganz bewusst aus – um Abstand zwischen mir und meinen Figuren herzustellen. Tatsächlich kenne ich mich mit Musik besser aus als mit Literatur. Ich höre nicht nur Gustav Mahler und John Coltrane – sondern auch nigerianischen Highlife, kenianischen Pop, Chimurenga aus Simbabwe, Mos Def und Kanye West. Ihm habe ich sogar einen kurzen Text gewidmet, „Dreezus“, eine Zusammenschau von Kanye West und Albrecht Dürer.

Sie ziehen gerne große Bögen, auch psycho-geografische. In „Jeder Tag gehört dem Dieb“ assoziieren Sie die Sklavenverschiffung in Lagos mit New Orleans, wo es um 1850 rund 25 Sklavenmärkte gab.

Ich sehe viele Gemeinsamkeiten zwischen den Häfen am Rande des Atlantiks, also Dakar, Lagos, Rio, Havanna, New Orleans, am Rande auch New York und Liverpool. Die Black Atlantic Cities sind mit ihrem Zirkel gegenseitiger Einflüsse fast so etwas wie eine eigene Nation. Kubanische Musik hat Nigerias Pop geformt. Die nigerianische Küche wiederum hat sich in New Orleans niedergeschlagen. Als ich den Mississippi-Hafen besuchte, fühlte ich mich wie in einer afrikanischen Stadt. Auch wegen dieser großartigen Partys für die Verstorbenen . . .

Sie meinen das feierliche Verschütten von Bier auf den Gräbern, die Brassbands, die beim Verlassen des Friedhofs die Tänzer anfeuern, den Zug durch die Lieblingskneipen des Verstorbenen . . .

All das verbindet die Stadt mit unserer Yoruba-Kultur. Die Rhythmen, die Blue Notes. Die Menschlichkeit. Ich kenne nur zwei Orte, wo Begräbnisse so überschwänglich gefeiert werden: Westafrika und New Orleans. Da liegt Dankbarkeit dahinter: Für alles, was ist. Genauso gut könnte doch auch nichts sein. Die Menschheit muss lernen, das Gute zu feiern. Im Westen wird immer alles zur Tragödie erklärt – egal ob jemand mit 25 an einer Drogenüberdosis oder mit 80 Jahren friedvoll im Kreis seiner Familie verstirbt.

„Arme Schwarze existieren nur noch, um Profit zu generieren“ – Ein Gespräch mit dem amerikanischen Filmemacher und Aktivisten Jamal Joseph

Jamal Joseph wurde vom inhaftierten „Black Panther“ zum Professor. Angesichts amerikanischer Polizeibrutalität spricht er über eigene Erfahrungen, die Gefängnis-Industrie und eine Renaissance der politischen Protestkultur.

In Baltimore herrschte jüngst nach dem gewaltsamen Tod eines schwarzen Mannes in Polizeigewahrsam bürgerkriegsähnlicher Aufruhr. Können Sie die wütenden Menschen auf der Straße verstehen?

Ja, ich kann die sogenannten Krawallmacher verstehen. Martin Luther King Jr. sagte, dass „Krawalle die Stimme der Ungehörten sind“. Armut und Gewalt rauben den Menschen in gewissen Vierteln jede Hoffnung auf eine Zukunft, während sie auf der anderen Seite ihrer Stadt Menschen sehen, die offensichtlich sehr viel bessere Chancen haben. So sieht es heute auch in meiner Heimat Harlem aus: Du überquerst von deinem teuren Eigenheim die Straße und steckst mitten in einem Sozialblock.

Sind Gewaltausbrüche alles, was den Menschen bleibt? Gibt es heute keine organisierte Bewegung, die sich politisch für die Rechte der armen Afroamerikaner einsetzt?

Doch, wir haben landesweit eine Bewegung namens „Black Lives Matter“. Ein Ende der Polizeigewalt ist nur eines unserer Anliegen: Schwarze Leben zählen auch dort noch nicht, wo Schwarze nur die schlechtesten Schulen besuchen können, ihre Wohnungen zerfallen und sie nur Jobs im Gefängnis bekommen. Die Cops sind da nur Erfüllungsgehilfen einer Ideologie, die suggeriert: Es ist okay, arme Schwarze zu erschießen, verhungern zu lassen, ihnen medizinische Hilfe zu verweigern.

Sie zählen gerade dieselben Missstände auf, die schon die Black Panther Party vor 40 Jahren kritisierte.

Wir sehen gerade die Wiedergeburt einer nationalen Bewegung angesichts der Probleme, die dieses Land seit der Sklaverei plagen: Polizeigewalt, legale Lynchjustiz, Diskriminierung der Armen. Ob Harry Belafontes gegen Polizeigewalt eintretende „Sankofa“-Vereinigung oder all die Studenten, die Druck auf ihre Universitäten ausüben, kein Geld mehr in die Gefängnis-Industrie zu investieren: Sie führen die Arbeit der Black Panther Party fort. Wir patrouillierten damals mit Gewehren und Gesetzbüchern. Aber uns ging es nicht um Krieg. Wir versuchten vielmehr, all das zu organisieren, was der Staat nicht auf die Reihe brachte: Etwa ambulante Gesundheitsfürsorge oder Küchen, die armen Schulkindern täglich ein Frühstück boten.

Hat sich in Amerika seitdem nichts verändert?

Die Black-Panther-Gründer Huey Newton und Bobby Seale formulierten vor 49 Jahren ihr Zehn-Punkte-Programm. Und wenn ich es heute lese, stutze ich: Denn es klingt wie eine aktuelle Reaktion auf unsere innenpolitische Situation. Unglücklicherweise ist keiner der Punkte bisher umgesetzt worden. Ein Ende der Polizeibrutalität. Geschworene, die sich aus der Umgebung der Angeklagten rekrutieren. Anständige Wohnungen. Vollwertige Bildung. Die Entlassung unnötig Inhaftierter. In den letzten Jahrzehnten haben wir vielmehr eine Zeit des politischen Schlafs erlebt. Man protestierte nur noch durch das Teilen von Mails. Jetzt merken die Menschen, dass es wichtig ist, physisch zu demonstrieren und nicht nur virtuell, sondern vor Ort zu diskutieren.

Sie haben als junger Black-Panther-Anführer Polizeibrutalität am eigenen Körper erlebt. Später wurden Sie mit den sogenannten „Panther 21“ unter dem Vorwurf, einen bewaffneten Überfall geplant zu haben, ins Gefängnis gesteckt. Hat sich die Häufigkeit und die Art der Gewalt gegen Schwarze seit den siebziger Jahren verändert?

In meiner Jugend akzeptierten wir es noch als unvermeidliche Tatsache, dass jeder Cop, der einen anhielt, erst einmal zuschlug. An eine Szene erinnere ich mich lebhaft: Ich war 11 Jahre alt und kletterte mit Gleichaltrigen nach der abendlichen Schließung eines Parks über den Zaun, um dort Basketball zu spielen. Einer von uns wurde dabei von der Polizei erwischt und brutal zusammengeschlagen. Als er weinte, zogen wir ihn noch damit auf: Du bist kein Mann! Wie kann man wegen so einer Sache nur heulen? So verinnerlicht hatten wir unsere ständige Misshandlung, dass wir gar nicht auf die Idee kamen, diese Polizisten, die von Steuergeldern bezahlt wurden, um uns zu beschützen, auf die Anklagebank zu setzen. Heute agieren die Polizisten in den Großstädten generell etwas vorsichtiger als damals. Und doch gibt es genug Fälle wie in Baltimore, wo offensichtlich gesunde junge Männer in Polizeihaft sterben.

Woher stammt die Gewaltaffinität der amerikanischen Polizei? In den Ländern Westeuropas gibt es nicht einmal einen Bruchteil von Todesfällen in Polizeigewahrsam.

Das hat mit der Militarisierung unserer Polizei zu tun. Wir rüsten unsere Polizei mit derselben Gerätschaft aus wie unser Militär, sie bekommen dasselbe Training wie das Militär, und sie reagieren wie Militärs, wenn sie einen Krisenschauplatz betreten. Man denkt, sie sollten Bürger beschützen. Aber sie benehmen sich wie eine Besatzungsarmee, die den Feind bekämpft. Manche Polizeireviere mussten sogar Memos für ihre Beamten aushängen: „Bitte die Leute nicht mehr als Feinde titulieren.“

Sind es speziell schwarze Menschen, die von der Polizei wie „Feinde“ behandelt werden?

Wenn man die horrende Zahl an Festnahmen betrachtet: Ja. Als ich in den siebziger Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, stand Amerika in der Statistik der Länder mit der höchsten Gefangenenrate noch an dritter Stelle hinter der Sowjetunion und Südafrika. Es saßen damals etwa 400 000 Menschen ein. Inzwischen zählen die amerikanischen Gefängnisse mehr als zwei Millionen Insassen, und die Hälfte von ihnen sind Schwarze – also mehr Inhaftierte, als es in der Blütezeit der Sklaverei Sklaven gab. Amerika ist seit der Privatisierung der Gefängnisse, prozentual gesehen, zur weltweit führenden Gefängnisnation aufgestiegen.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der Privatisierung der Gefängnis-Industrie und den Rekordzahlen an Insassen?

Gefängnisse sind heute eine Industrie wie jede andere. Das heißt, sie tun alles, um zu wachsen. Manche Kinder überlässt man lieber einer Gefängniszukunft, denn mehr Gefängnisse bedeuten eben mehr Geld durch Verträge mit Gefängnisfirmen und dem Staat. Hier ist eine Sklavenmentalität am Werk: Schwarze existieren nur, um sie einzuschließen und Profit aus ihnen zu ziehen. Wir lassen sie für 20 Cent pro Stunde arbeiten. Technologie- und Telefonunternehmen machen enormen Gewinn mit diesem Modell. Deshalb gibt es auch so wenig Proteste dagegen.

Haben denn ein schwarzer Präsident, schwarze Politiker und Bürgermeister keine Möglichkeit, hier grundsätzlich etwas zu ändern?

Sie alle können letztlich nur hier und dort etwas bremsen. Aber die Spielregeln des Systems ändern? Dazu brauchte es fundamentale soziale Reformen. Selbst wenn wir das Weiße Haus in den Farben des schwarzen Befreiungskampfes – also Rot, Schwarz und Grün – anmalen würden, bliebe es ein Ort der schmutzigen Deals.

Die Black Panther sahen in der Klassengesellschaft das Grundübel Amerikas. Damals wurden sie dafür dämonisiert, heute redet selbst Warren Buffett von einem „Klassenkrieg“, den seine, die reiche Klasse erfolgreich führe.

Der Krieg richtet sich gegen eine ganz bestimmte, im postindustriellen Amerika obsolet gewordene Klasse. David Simon hat das in seiner Fernsehserie „The Wire“ gezeigt. Ein Wandel ist möglich, wenn wir uns über Hautfarben hinweg zusammenschließen. Aber genau an diesem Punkt werden gewisse Kräfte nervös: Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Martin Luther King ermordet wurde, als er einen Streik schwarzer und weißer Müllarbeiter in Memphis organisierte. Er hatte sogar einen Marsch auf Washington geplant, um eine „poor people’s movement“ auf den Weg zu bringen. Die großen Konzerne aber profitieren doch von einer uneinigen, Schwarz gegen Weiß ausspielenden Unterschicht.

Sie selbst versuchen, mit Theater junge Afroamerikaner politisch zu erziehen.

Ich habe zusammen mit Voza Rivers 1999 das Impact Repertory Theatre gegründet, wo Jugendliche kostenlos Unterricht in Schauspiel, Tanz, kreativem Schreiben und Videokunst erhalten. Dazu gehört ein „Leadership-Training“. Hier diskutieren die Jugendlichen über Armut, Bildung, Gesundheitsvorsorge und können dann als Künstler, Journalisten oder Sozialarbeiter mit diesen Themen in Aktion treten. Viele der von uns ausgebildeten Jugendlichen arbeiten inzwischen selbst als Multiplikatoren.

Sie haben nicht nur ein Buch über Ihren Patensohn Tupac Shakur geschrieben, sondern nutzen heute dessen Songs und die Hiphop-Kultur, um Ihre Botschaften an die Jugendlichen zu bringen.

HipHop ist ein sehr mächtiges Medium. Und Menschen wie Tupac inspirieren die Menschen immer noch weltweit. Seine Mutter Afeni Shakur nahm mich als eine Art große Schwester in die Black-Panther-Partei auf. Ich kannte Tupac deswegen von klein auf. Er selbst war Teil der Panther-Bewegung, wir haben viel miteinander diskutiert, und er wurde später mein Karateschüler. Uns verband die Liebe zu den Menschen, die wir tagtäglich leiden sehen. Heute schreiben Impact-Jugendliche selbst Hiphop-Songs mit ähnlicher Botschaft: Wir treten damit auf Demos, in Gefängnissen oder Altersheimen auf.

Wenn man die letzten gefeierten Alben von D’Angelo oder Kendrick Lamar betrachtet, scheint der politische Hiphop gerade hoch im Kurs zu stehen. Sehen Sie ein Comeback der Protestkultur der Sechziger und Siebziger?

Ich bemerke tatsächlich eine Renaissance einer schwarzen kulturellen Bewegung in Film, Literatur und Musik. Es gab in den letzten Jahrzehnten natürlich immer politisch engagierte Hiphop-Künstler wie Dead Prez, Mos Def oder Talib Kweli. Aber nun hat eine jüngere Generation Feuer gefangen.

Hiphop entstand aus einer von Armut und Ausgrenzung geprägten Gemeinschaft. Sehen Sie Hiphop-Künstler heute in der Pflicht, ihre Stimmen für die Anliegen der armen schwarzen Bevölkerung zu erheben?

Das passiert heute immer öfter. Wir hatten eine Periode in den neunziger Jahren, in der die Leute gerne jede Verantwortung abstritten. Heute geben viele der erfolgreichen Künstler zu, Verwandte im Gefängnis zu haben oder eine Mutter, der die medizinische Versorgung verweigert wird. Ferguson markierte einen Wendepunkt.

FAZ 22.05.2015

Interview: JONATHAN FISCHERimages