Monatsarchiv: Juli 2017

ÜBERLEBENSHUMOR „Auch ohne tätliche Angriffe kann man das Gefühl der Bedrohung internalisieren“: Ein Gespräch mit dem jamaikanischen Schriftsteller Marlon James über Bob Marley, Homophobie und seinen Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“

Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ lautet der deutsche Titel des dritten Romans von Marlon James, erschienen im Heyne Verlag. Das englischsprachige Original gewann 2015 den Man Booker Prize. Auf mehr als 800 Seiten entfaltet der jamaikanische Schriftsteller ein Panorama der Gewalt und erzählt die Geschichte Jamaikas einschließlich der weltweiten Verwicklungen: von den brutalen Gangkriegen der Siebzigerjahre in Kingston und dem Reggae-Boom bis hin zur Crack-Epidemie in den Städten Amerikas. 15 Figuren kommen zu Wort, darunter Auftragskiller, Prostituierte, verstorbene Politiker und CIA-Agenten. Sie alle haben eine Verbindung zu einem historischen Ereignis. Im Jahre 1976 verübten sieben bewaffnete Männer kurz vor einem geplanten Friedenskonzert von Bob Marley einen Mordanschlag auf den zur Politfigur avancierten Sänger und verletzten ihn, seine Frau und seinen Manager schwer.

SZ: Ihr Buch kreist um Bob Marley, den Sie nur „den Sänger“ nennen, – dabei gibt der Mann nur eine Folie ab für die rassische, politische und soziale Komplexität der jamaikanischen Gesellschaft. Wie haben Sie als jamaikanischer Jugendlicher Marley erlebt?

Marlon James: Ich habe ihn nicht als das goldene Kalb erlebt, das er für viele seiner Fans im Westen darstellte. Vielmehr spaltete er die jamaikanische Gesellschaft. Meine Eltern etwa, sie arbeiteten beide bei der Polizei, konnten ihn nicht ausstehen.

Warum?

Die jamaikanische Mittelschicht hasste die Rastafaris. Mit ihrem bewusst ärmlichen Äußeren und der Mutter-Afrika-Philosophie widersprachen sie der Idee, dass man einen guten Job finden und hart arbeiten musste, um aufzusteigen und respektiert zu werden. Viele schwarze Intellektuelle verachteten Bob Marley dafür, dass er nicht mal einen High-School-Abschluss hatte. Und der soll als Stimme Jamaikas gelten? Andere misstrauten ihm als Halb-Weißem – auch in Jamaika gibt es Rassismus. Erst nach seinem Tod kam der Marley-Kult nach Jamaika.

Heute tragen nicht nur Sie selbst Rasta-Locken. Sie kontrastieren die Brüderlichkeits-Ideen der Rastafaris wie einen dünnen Lichtstrahl gegen die moralische Verkommenheit von Regierung, Polizei und dem hemmungslosen Morden auf der Straße.

Die Rastafaris waren in den 60er- und 70er-Jahren einer brutalen Verfolgung ausgesetzt. Sie wurden oft willkürlich verhaftet oder von der Polizei misshandelt. Als armer Jugendlicher hattest du damals oft nur eine Wahl: Entweder heuerst du bei den Gangs an oder du gehst zu den Rastas und widmest dein Leben etwas Größerem. Dass Marley weltweit soviel Ruhm erntete, bescherte seinen Rasta-Ideen schließlich auch in Jamaika Respekt.. Ohne die Rastas hätte mein Land jedenfalls nicht diese großartige Reggae-Kultur hervorgebracht.

Kritiker haben die Gewaltschilderungen Ihres Romans mit einem Quentin-Tarantino-Film verglichen. Woher kommt der Nihilismus der jamaikanischen Gangster und Gunmen, wenn sie von ihrer Perspektive auf die Welt erzählen?

Hier geht es weniger um Nihilismus als um politisch kalkulierte Gewalt: Die jamaikanischen Regierungen und Parteien glaubten, sie könnten Wahlen dadurch gewinnen, indem sie die Armen gegeneinander aufhetzten. Ihnen Angst einjagten. Niemand im Ghetto kann sich ein Gewehr leisten. Wer aber hat ihnen dann diese Gewehre gegeben? Wir hatten eine Situation, in der der CIA die eine Seite belieferte und die Kubaner die andere.

Sie haben mal gesagt, Sie hätten ursprünglich weniger eine globale Geschichte als einen in Kingston spielenden Schwulen-Roman schreiben wollen.

Ich würde es eher eine Kriminalgeschichte nennen, in der der Held schwul ist. Mein Vorbild waren Jean Claude Izzo und seine in Marseille angesiedelten Kriminalromane. Und dann verfolgte ich meine Geschichte wie ein Detektiv. Am Anfang war da nur Jamaika. Aber je tiefer ich grub, umso mehr internationale Verwicklungen kamen zum Vorschein.

Manche Ihrer Figuren wie Weeper, ein schwuler Gangster, der Literatur zitiert, wirken beinahe surreal.

Ich habe all meine Figuren – bis auf einige Politiker – fiktiv gestaltet. Mir war wichtig, ihnen die Kapazität zu verleihen, sich zum Guten oder auch zum Schlechten zu verändern. Das ist für mich viel wichtiger als historische Details.

Faszinierend ist die Perspektive des „Rolling Stone“-Journalisten Alex Pierce, der als Außenstehender glaubt, er habe die jamaikanische Wirklichkeit durchschaut. Ist auch er eine Fiktion?

Solche Typen treffe ich am laufenden Band. Die meisten Journalisten realisieren nicht, dass sie nur sehen, was man ihnen zeigen möchte – und seien es Gewalt oder Skandale. Ich habe fast mein ganzes Leben in Jamaika verbracht und ich muss Ihnen gestehen, dass ich immer noch keine Ahnung habe wie das wahre Jamaika tickt.

Sie haben der naheliegenden Versuchung widerstanden, die Amerikaner als bloße Dummköpfe darzustellen. War es schwer für Sie, sich in die Welt ihrer weißen Charaktere, wie amerikanische Journalisten und CIA-Mitarbeiter, hineinzudenken?

Ich glaube daran, dass ein Schriftsteller ein kompliziertes Verhältnis zu seinen Charakteren pflegen muss, selbst zu den unsympathischsten. Wie der Leser sollte er sie mal lieben und mal hassen können. Zum Glück habe ich einige Gemeinsamkeiten mit den Amerikanern in meinem Buch. Wie sie stamme ich von einem relativ satten langweiligen Ort, denn ich bin in den reichen Suburbs von Kingston aufgewachsen. Viele erwarten von mir als Schwarzem, dass ich die Gewalt aus erster Hand kenne. Nein, warum sollte ich? Ich bin Schriftsteller.

Sie verwenden für viele Ihrer Figuren das ortsübliche Patois, zitieren Begriffe aus der Sprache der Rastafari. Geht es Ihnen da um mehr als Ästhetik?

Die Rastafari versuchen, Negativität auch auf sprachlicher Ebene zu bekämpfen, durch Wortschöpfungen gewisse Heucheleien aufzudecken. So nennen sie das politische System „Shitstem“, eine Verkürzung von Scheißsystem. Wie ein Charakter im Buch sagt: Wir müssen die Sprache wieder für uns reklamieren, indem wir die Wörter umdrehen. Dabei gibt es keine schriftlich fixierten Standards für jamaikanisches Englisch oder Patois. Und das ist gut so. Wir Jamaikaner lernen diese Art zu sprechen auf der Straße, in ihr steckt eine Menge Überlebenshumor.

Sie haben den amerikanischen Krimi-Autoren James Ellroy als eines ihrer großen Vorbilder bezeichnet. Warum?

Ein guter Kriminalroman gleicht einer soziologischen Untersuchung. So sind James Ellroys Geschichten nicht nur Statements über das Verbrechen. Sie sind Statements über Amerika. Als er seine Krimis schrieb, hatten die sogenannten Familienwerte, die Präsident Trump zurückbringen will, ihre Blütezeit. Und genau diese Gesellschaft produziert diese mörderische Brutalität? Das wirft eine Menge Fragen auf.

Sie lassen Ihre Geschichte von 15 Charakteren erzählen. Legen Sie einem von diesen auch ihre eigene Sicht der Dinge in den Mund?

Jedem von ihnen, an der einen oder anderen Stelle. Etwa wenn der Gangsterboss Josey Wales darüber spricht, dass die meisten Amerikaner ihn für ignorant halten. Ich habe selbst schon erlebt, dass mich Amerikaner fragen, ob wir Fernsehen in Jamaika haben.

Trotzdem wohnen Sie seit Jahren in Minnsesota. Haben Sie Jamaika verlassen, weil Sie dort als schwuler Mann diskriminiert wurden?

Natürlich wollte ich die Freiheit haben, auch in der Öffentlichkeit Händchen zu halten. Andererseits muss ich Jamaika verteidigen. Vor Kurzem hat die britische Daily Mail einen Journalisten in meine Heimat geschickt, der eine Story über angebliche Todeslager für Schwule schreiben sollte. Was für ein Blödsinn. Ich bin als Schwuler in Jamaika nie verfolgt worden, es gibt da keine Anti-Schwulen-Gestapo. Aber auch ohne tätliche Angriffe kann man das Gefühl der Bedrohung internalisieren.

Besonders, wenn überall Dancehall-Hits ihre gegen Schwule oder Battyboys gerichteten Hass-Tiraden durch die Straßen plärren.

Man gewöhnt sich daran. Da geht es mir so ähnlich wie einer schwarzen Frau in Amerika, die nicht mehr hinhört, wenn ein Rapper bitch sagt. Das Ganze ist ein großes Theater – in einem tendenziell homophoben Land muss jeder Musiker einen Anti-Battyboy-Song drauf haben, genauso wie einen I-love-my-mother-Song. Mir hat das nie so viel Angst eingejagt wie die Anti-Schwulen-Rhethorik der Kirche. Da bekommt der Hass dann einen göttlichen Segen.

Sehen Sie Hoffnung für Ihr Land?

Heute treffe ich dort eine junge Generation von Schwulen, die nie auf die Idee kämen, das Land zu verlassen. Sie wollen sich ihr Leben nicht verbieten lassen. Gut so! Für mich war die Literatur der einzige Ausweg, um mit einer größeren Welt in Kontakt zu kommen. Ich habe über Menschen geschrieben, die sich in ihrer Rolle gefangen fühlen. Wenn mein Buch eine Botschaft hat, dann diese: Nur wer seine Geschichte kennt, kennt auch seine Ressourcen.

Interview: Jonathan Fischer

SZ 10.7.2017hh03