Mittwochabend in der Candlelight Lounge. Die Einrichtung besteht aus einem Dutzend Plastiktischen und Stühlen, einer langen Theke und ein paar Ketten mit bunten Glühbirnen, die den niedrigen Raum in Dämmerlicht tauchen. „Fünf Dollar“, übertönt Leona Grandison, die stämmige schwarze Barbesitzerin an der Tür, die laute Bluesmusik aus der Jukebox. Sie zeigt auf das handgeschriebene Poster: „Treme Brass Band every Wednesday.“ Offiziell soll es um neun Uhr losgehen. Doch wie überall in der Stadt gilt hier musicians time. Die Musik beginnt, wenn alle Musiker eingetroffen sind. „Einige der Kollegen kommen von anderen Gigs“, sagt Trommler und Bandleader Benny Jones senior, ein ergrauter Herr mit Kapitänsmütze, „jeder hier spielt in mindestens drei bis vier Bands.“ Immer, wenn sich die Tür öffnet, weht der Duft brutzelnder Spare-Ribs von den mobilen Grill-Ständen auf der Straße herein. Drinnen serviert Leona Grandison zwei große Töpfe mit Reis und roten Bohnen.
Um halb elf ist das Lokal gut gefüllt. Eine Bühne gibt es nicht. Doch sobald die Musiker sich mit ihren Instrumenten in das Eck zwischen Jukebox und Bar drängen und das Eröffnungsriff von „I got a big fat woman“ anblasen, zieht es noch die letzten Gehsteigtrinker aus der schwülen Nachtluft nach drinnen. Aus dem zerbeulten Schalltrichter der Tuba schnauft ein gewaltiger Basslauf. Seine Wucht treibt das Crescendo der Saxophone und Posaunen, befeuert eine explodierende Trompete und hält den Rhythmus, wenn alle anderen wild übereinander herblasen. Dann fallen plötzlich alle in den selben Chant: „I got a big fat woman, loves me all night long . . .!“ Eine füllige Dame im Leoparden-Top lässt sich das nicht zweimal sagen. In Kreisbewegungen reckt sie ihren Hintern den Bläsern entgegen. Einige junge Männer steppen wilde Figuren auf den Linoleumboden. Und ein Greis in Unterhemd schwenkt sein Handtuch.
Es folgt „Didn’t he ramble“ – eine Tanznummer, welche die Brass Band typischerweise auf der Rückkehr von einer Grablegung anstimmt. Die Jazz Funerals gehören immer noch zum Hauptgeschäft der Treme Brass Band: „Bei der Beerdigung“, sagt Benny Jones senior, „spielen wir traditionelle Märsche. Erst auf dem Rückweg lassen wir es krachen.“
Der unwiderstehliche Krach der Bläser, er ist die alltägliche Begleitmusik der Bewohner des Treme-Viertels, des schwarzen Herzens von New Orleans. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts trommelten und tanzten hier auf dem Congo Square die Sklaven – und hoben die wilden Rhythmen des Jazz aus der Taufe. Heute steht an selber Stelle der Armstrong Park und das städtische Mahalia Jackson Theater. Nur ein paar Schritte weiter leuchten die weißgekalkten Grabhäuser des historischen Friedhofs St. Louis Number One. Und mitten aus den flachen Holzhäuschen ragt der Turm von St. Augustine, der ältesten schwarzen Kirche Amerikas. Aus Treme stammen die meisten Jazzmusiker der Stadt, hier enden die meisten Brass-Band-Paraden in oft improvisierten Bars.
Auf seine Bewohner aber nahm die Stadt selten Rücksicht. Vor einem Jahrhundert wurden die Straßenzüge des Rotlichtbezirks Storyville einfach planiert. Und seit den 1960er Jahren überschattet ein Highway auf Betonstelzen, was einst als blühendste schwarze Marktstraße Amerikas galt. Der Grund und Boden verlor anschließend an Wert, Treme verkam zum Ghetto.
Heute aber gehört das Viertel zu den aufstrebenden und interessantesten von New Orleans. Nicht nur wegen seiner Musik. Auch, weil sich hier nach und nach eine multikulturelle Künstlergemeinde ansiedelt. Dennoch trauen sich immer noch wenige Flaneure aus dem French Quarter hinüber. Tatsächlich bildet die Rampart Street eine unsichtbare Grenze. Sie scheidet die von Schwulen-Bars, Tattoo-Läden und einem Voodoo-Tempel gesäumte Straße das New Orleans der Touristen vom Traditionsviertel Treme. Nur die Musiker wechseln dauernd die Seiten: Um hier eine Jam Session zu spielen oder dort einen besser bezahlten Gig. Etwa in Irvin Mayfields Jazz Playhouse, dem mit Ledersesseln bestückten Renommierclub an der Bourbon Street, wo meist ältere weiße Jazzliebhaber an ihren Weingläsern nippen. Oder als anonyme Mitstreiter in einer der vielen Coverbands, die auf New Orleans Amüsiermeile Abend für Abend dieselben Hits abspulen.
Zwar haben heute mehr Clubs und Restaurants geöffnet als vor dem Hurrikan Katrina. Dennoch bleibt es ein hartes Brot, als Musiker in New Orleans zu überleben. Die meisten verdienen lediglich einen Teil der Eintrittsgelder, leben unterhalb der Armutsgrenze. Wenn es um Versicherung, Wohnungssuche und neue Instrumente geht, bleiben viele Musiker auf die Unterstützung privater Organisationen angewiesen. „Inzwischen“, erklärt Benny Jones senior stolz, „sind mehr als 80 Prozent der Musiker zurückgekehrt. Mit ihnen steht und fällt alles in New Orleans.“ Seine Nachbarschaft produziert immer noch jede Menge Nachwuchsstars: Trompeter Kermit Ruffins etwa, die Rebirth Brass Band und Posaunist Trombone Shorty, der lange mit Lenny Kravitz tourte – und der heute überraschend als Gast in der Candlelight Lounge auftaucht.
„Wer hier aufgewachsen ist“, erzählt der 24-jährige Trombone Shorty, „den zieht es immer wieder zurück.“ Keine Frage, im Treme-Viertel wird die Jazz-Kultur von Generation zu Generation erneuert. „Hast du das gesehen?“, fragt Shorty und tritt aus der Tür der Candlelight Lounge: „Tuba Fats’ Place“, verkündet ein handgemaltes Schild, das einer der Legenden der Stadt ein Denkmal setzt. „Tuba Fats war mein Straßenlehrer. Er hat mich mitgenommen ins French Quarter, wo ich mir auf den Bürgersteigen die ersten Dollars erspielt habe.“
Trombone Shortys Geschichte ist typisch für viele seiner Mitmusiker: Erst lieh er sich die Trompeten seiner älteren Brüder. Dann schenkte ein Onkel dem Neunjährigen eine verbeulte Posaune. Mehr brauchte er nicht. Trombone Shorty kreuzte einfach auf, wo eine Brass Band spielte und stieg, wie das unter Musikern in New Orleans bis heute üblich ist, mit ein. „Da hatte meine Tante ihren Club“, sagt er und zeigt auf einen Holzschuppen. „Eintritt ab 21 Jahren – ich war das einzige Kind dort. Manchmal haben sie mich sogar nachts aus dem Bett geholt: ,Shorty, wir brauchen deine Posaune‘.“
Der Boom der Brass Bands in den letzten zwei Jahrzehnten, erzählt Shorty, hätte vielen Jugendlichen aus dem Viertel eine Perspektive gegeben, oft als einzige Alternative zu einer Karriere im Drogenhandel. Nach Katrina aber zitterten die Treme-Bewohner um ihre Zukunft. Da waren nicht nur Dutzende Holzhäuser zusammengeklappt. Auch der Kirchengemeinde St. Augustine drohte die Schließung, und manch geschichtsträchtiger Club moderte vor sich hin. Manche der Rückkehrer aber sahen Katrina als Chance. So begann Antoinette K-Doe, die Witwe der Rhythm’n’Blues-Legende Ernie K-Doe, in der Mother In Law Lounge regelmäßig Blueskonzerte auszurichten. Und Sylvester Francis bekam endlich die überfällige Anerkennung: Der schwarze Hobby-Filmer hatte zwar bereits 1999 ein Beerdigungsinstitut in der St. Claude Street zum Backstreet Cultural Museum umgewandelt. Doch erst nach Katrina fand seine Filmsammlung von Brass-Band-Umzügen und Jazz Funerals Beachtung bei Kamerateams und Touristen.
„Ich bin kein gelernter Historiker“, sagt Francis, „aber ich kann alles hier aus meiner Lebenserfahrung heraus erklären.“ So zeigt er nicht nur Musikinstrumente, Plakate und Fotos, sondern auch ein gutes Dutzend prachtvoller Feder- und Glasperlengewänder aus der afroamerikanischen Tradition der Mardi Gras Indians: „Es sind immer die respektiertesten Männer aus dem Viertel gewesen, die Monate an so einem Kostüm nähten. Und das nur für ein paar Auftritte.“ Denn die teuren Gewänder würden jedes Jahr neu angefertigt, während es ein Sakrileg sei, die gebrauchten zu verkaufen. „Die Indian Chiefs nehmen lieber Entbehrungen in Kauf als ein mittelmäßiges Gewand“, erklärt Francis. „Ist das nicht ein Zeichen von Schönheit, Widerstand und Stärke?“
Wie unverwüstlich der Geist von New Orleans tatsächlich ist, das zeigt am nächsten Tag die Parade der Black Men Of Labor, mit der die parade season, die Jahreszeit der Umzüge, beginnt. Drei Dutzend Männer in weißen Anzügen, bunten Schärpen und mit Strohhüten tanzen unter den Betonpfeilern des Interstate-10-Highways. Hinter ihnen das gewaltige Gebläse der Rebirth Brass Band. Sie sind bereits mehrere Stunden lang über den heißen Asphalt marschiert, die schwüle Luft droht den Bläsern die Luft zu nehmen. Und doch schmettern sie eine Jazz-, Reggae- und Hip-Hop-Nummer nach der anderen aus ihren Rohren. Das vielhundertköpfige, zunehmend betrunkene Gefolge, die second line, springt ausgelassen und inszeniert eindeutig-zweideutige Tänze, bei der die einen auf allen Vieren kriechen, während die anderen breitbeinig und mit kreisendem Becken über sie hinwegsteigen. Näher als in einer second line kann man kaum dran sein an den Ursprüngen des Jazz: Die Musik mag sich geändert haben, aber ihr folgen die selben jungen Männer aus der schwarzen Unterschicht, die den selben Slang sprechen, durch die selben Straßen ziehen und dieselbe todesverachtende Lebenslust versprühen wie Generationen von New Orleanians vor ihnen. Wie hatte Benny Jones senior gesagt? „Was auch immer noch passiert – solange hier eine Brass Band spielt, wird diese Stadt tanzen!“
JONATHAN FISCHER
SZ 27.1.2011