Monatsarchiv: Juni 2019

Jeder Besucher soll zum Anwalt der Frauen werden – Ein Treffen mit dem Afropop-Superstar A’salfo in Abidjan und die Frage, wie ein Popfestival in Afrika wirklich etwas bewirken kann

Abidjan ist ein Moloch. Die Überforderung ist hier der Normalzustand, man spürt sie schon auf der Fahrt vom Flughafen zum Festivalgelände im Stadtteil Marcory. Wie jeden Tag zu fast jeder Tageszeit stauen sich Karawanen überladener LKWs und Kleinbusse, hupender und sich an jeder Kreuzung ineinander verkeilender Taxis. Dazwischen wuseln ambulante Verkäufer: mit Fußball-Trikots, Parfums oder Plastikspielzeug. Wie schafft man es nur, in dieser atemraubenden Backofenhitze, im Lärm der Musik aus den Maquis genannten Kleinrestaurants seinen Geschäften nachzugehen? Oder gar ein Musik-Festival nach europäischen Sicherheits- und Pünktlichkeits-Standards zu organisieren? Zumal eines, das Hunderttausende nicht nur unterhalten, sondern sie auch noch für die drängendsten Zukunftsfragen Westafrikas sensibilisieren will?

  Das sind so die Fragen, die einem durch den Kopf gehen, als endlich Salif Traoré, kurz A’salfo, am vereinbarten Interviewort, dem Restaurant des Festivalgeländes auftaucht. „Die großen Musiker-Namen, die dort auftreten“, sagt der Initiator des jährlichen FEMUA-Festivals (Festival des Musiques Urbaines de Anoumabo) und nickt in Richtung der großen Bühnen auf dem Fußballplatz, „das sind die Zugpferde. Denn hier geht es um Sozialprojekte, um gesellschaftliches Engagement. Um die Arbeit unserer Stiftung Magic System.“

  Magic System ist auch der Name von Traores Band, die seit zwei Jahrzehnten die Stadien zwischen Abidjan, Casablanca und Paris füllt. Im Jahre 2000 landeten sie ihren ersten großen Hit „Premier Gaou“, ihr letzter Erfolg war „Magic In The Air“, die Hymne der französischen Fußballnationalmannschaft zur WM in Russland. Nicht umsonst ließ der französische Präsident Macron Magic System 2017 zu seiner Amtseinführung auftreten. Die Band steht für das moderne, weltgewandte Afrika. Wäre A’salfo nicht A’salfo, dann könnte er sich damit zufrieden geben: Knapp zwei Dutzend Platin- und Gold-Alben, ein Jet-Set-Leben. Er lebt den Traum aller jungen Ivorianer, es vom Ghetto-Jungen zum Superstar geschafft zu haben. Warum also dieses Festival, das Jugendliche zu Workshops über Themen wie Migration und Frauenrechte einlädt, und dessen Profit in den Bau von Schulen und Krankenhäusern fließt?

  „Wir Musiker haben eine Macht, die die Politiker nicht besitzen“. A’salfo nimmt die goldgerahmte Sonnenbrille ab, schaut seinem Gesprächspartner in die Augen: „Kraft unserer Musik schaffen wir es Muslime, Christen, Geschäftsleute und Menschenrechtsaktivisten, ja selbst die Anhänger verfeindeter Parteien zusammenzubringen.“ Der Magic System Frontmann spricht leise, sucht nach den richtigen Worten. Sein rundes, freundliches Gesicht strahlt Ruhe aus. Und Entschlossenheit. Nachdem der bis 2012 währende Bürgerkrieg das Land an den Rand des Abgrunds gebracht hat, gehe es wieder bergauf, die Wirtschaft wachse um jährlich acht Prozent, überall entstünden neue Märkte, Clubs und Studios. „Abidjan lebt von der Musik. Es wäre töricht, sie nicht für den Aufbau der Gesellschaft zu nutzen.“

  Vom Plastiktisch im Restaurant-Garten, an dem A’salfo seine Interviews gibt, hat man einen guten Blick über die innerstädtische Lagune, hinüber zu den Hochhäusern des Banken- und Geschäftsviertels Plateau. Dort hat der Magic-System-kopf eine Villa. Eine weitere steht in Frankreich, wo er die Hälfte des Jahres verbringt. Es ist kein Geheimnis, dass A’salfo seine Tantiemen in Immobilien investiert, er bei aller Jovialität durchaus auch als knallharter Geschäftsmann auftreten kann.

  Sein Heimatviertel Marcory aber ist bis heute arm geblieben. Dessen ärmster Bezirk heißt Anoumabo, ein Bidonville, in dem A‘salfo als sechstes von neun Kindern eines aus Burkina Faso immigrierten Vaters aufwuchs und er die anderen Bandmitglieder von Magic System fand. „Wir kennen die Armut. In meiner Grundschul-Klasse saßen über hundert Schüler. Die höhere Schule musste ich kurz vor dem Abschluss aus Geldmangel abbrechen. Stattdessen streunten Manadja, Goudé, Tino und ich mit leeren Taschen von Maquis zu Maquis und sangen von den Freuden und Gefahren der Straße.“ Was A’salfo allerdings schon immer auszeichnete: Seine Offenheit, die Wissbegierigkeit des Autodidakten, herauszufinden wie die Dinge funktionieren. Denn ohne Ehrgeiz und strikte Arbeitsethik wären Magic System wohl eine der vielen lokalen Bands geblieben, die bis heute von improvisierten Bühnen auf sandigen Straßen und müllübersäten Brachen Wochenend-Partys für die Slum-Bewohner beschallen. Das erste FEMUA im Jahre 2008 war dann auch der Versuch „etwas an unser Viertel zurückzugeben“. Wären Popstars und Tausende von Fans sonst jemals auf die Idee gekommen, die Blechbuden und Bars dieses Armen-Viertels aufzusuchen? „Zunächst“, sagt A’salfo, „waren wir damit zufrieden, ein paar Arbeitsplätze zu schaffen und kostenlose T-Shirts zu verteilen. Aber dann fragten wir uns: Können wir mit dem Festival nicht noch mehr ausrichten?“

  Vor zwei Jahren zog FEMUA auf das Sportgelände von Marcory um. Aus Sicherheits- und Organisationsgründen: Über 100 000 Zuschauer kommen inzwischen zu den Konzerten, über 40 Fernsehsender aus ganz Afrika und Frankreich übertragen live. Der Eintritt ist umsonst. Magic System finanzierten die erste Ausgabe noch komplett selbst, inzwischen ist eine große Mobilfunkfirma als Hauptsponsor eingesprungen. Für A’salfo noch wichtiger: „Jede FEMUA-Ausgabe dreht sich um ein gesellschaftlich relevantes Thema.“ Dieses Jahr ist es die Gleichberechtigung der Frau. Praktisch bedeutet das, dass – gerade weil Frauen noch immer eine Minderheit im Musikgeschäft sind – zur Hälfte weibliche Künstler auf der Bühne stehen. Darüber hinaus diskutieren Vertreter von Staat, UNO, EU, lokalen Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisationen an den beiden Eröffnungstagen im Carrefour de Jeunesse mit den Besuchern.

  Hunderte von Jugendliche belagern den Versammlungssaal des Sportgeländes, schreiben mit, stellen Fragen: „Steht irgendwo im Koran geschrieben, dass Frauen beschnitten werden sollen?“ – „Warum hilft der Staat nicht den Unternehmerinnen, die doch den Wirtschaftsaufschwung im Land befeuern?“ Oder: „Müssen gut ausgebildete Frauen ins Ausland gehen, weil sie vor Ort keine adäquaten Jobs finden?“

  A’salfo setzt darauf, dass die Kontroversen durch Multiplikatoren und die sozialen Medien weitergetragen werden: „Das Festival endet nicht mit dem letzten Auftritt am Sonntag. Viel mehr will ich, dass jeder der Beteiligten hier als Anwalt für Frauenrechte nach Hause geht.“

  Das gelbe T-Shirt der sponsernden Mobilfunk-Firma klebt dem Magic System-Frontmann am Leib, alle paar Minuten wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht. A’salfos Arbeitspensum seit heute morgen: Ein Dutzend Interviews, eine Konferenz mit dem Organisationsteam, persönliche Begrüßung von Festival-Musikern wie Afrobeat-Legende Femi Kuti, und ein Besuch beim ivorischen Präsidenten, mit dem er über die Einweihung der nächsten Schule gesprochen hat.

  „Ein FEMUA, eine Schule“ laute das selbstgesetzte Ziel. Sechs Schulen habe man bereits gebaut und dem Staat übergeben, über 2500 Schüler und 50 neueingestellte Lehrer profitierten davon. 75 Prozent der ivorischen Bevölkerung ist jünger als 35 Jahre. Und nicht einmal ein Fünftel hat eine offizielle Arbeit.

  Später wird A’salfo mit einem Bus voller Journalisten ein Mutter-Kind-Gesundheitszentrum in Anoumabo besuchen, ein Teil der Gewinne des Festivals fließen in dessen Renovierung. Damit das für die Medien und die Bevölkerung auch sichtbar wird, sind die Spenden im sandigen Innenhof der Einrichtung ausgestellt: Vier nagelneue Elektroherde, ein Dutzend Nähmaschinen, Lehrbücher, Bürotische und Stapel bunter Plastikstühle. „Wenn es irgendwo brennt“, sagt A’salfo, „sind wir die Feuerwehrmänner.“ Kritik an der Regierung, die doch eigentlich für die Grundversorgung zuständig ist? Nein, wiegelt er ab, jeder Staat brauche die Unterstützung der Zivilgesellschaft. Die FEMUA-Festivals sind als Modell jedenfalls so einzigartig wie erfolgreich – und tatsächlich der Beweis, was eine starke Zivilgesellschaft selbst unter Bedingungen wie in der Elfenbeinküste ausrichten kann.

Als am letzten Tag um 8 Uhr morgends Extra Musica aus dem Kongo als Schluss-Akt von der Bühne gehen, sitzt A‘salfo schon im Tourbus ins 270 Kilometer nördlich gelegene Gagnoa. Wie jedes Jahr zieht das Festival am letzten Tag in eine andere Stadt um. Diesmal ist für diesen Anlass der franzöische HipHop Star Kaaris an Bord – er ist in Gagnoa geboren, aber seit seiner Kindheit nie wieder dorthin zurückgekehrt. Schon am Vorabend ließ sein Auftritt in Abidjan die Emotionen seiner Fans derart hochkochen, dass die Polizei das Festivalgelände vorübergehend mit Tränengas räumen ließ. In Gagnoa aber will er nicht nur rappen. Sondern zusammen mit der Stiftung Magic System eine weitere Schule dem Staat übergeben – passend zum Festival-Motto eine Mädchenschule. Die Region, sagt A‘salfo habe in punkto Gleichberechtigung noch viel aufzuholen. „Von 100 Abgeordneten sind nur 20 Frauen. Warum? Weil es in jedem Klassenzimmer weniger Mädchen als Jungen gibt. Das muss sich ändern.“ Das Festival solle dazu beitragen, den Menschen Zuversicht zu geben. Ihnen Alternativen zur illegalen Migration zu zeigen: „Alles was ich den Jungen sage ist: Ihr könnt hierbleiben und es trotzdem schaffen“.

JONATHAN FISCHER

gekürzt in der SZ 24.6.2019

Nairobi brummt – Afropopkolumne

Als 2001 die erste „Nigeria 70“-Kompilation auf dem englischen Connoisseur-Label Strut Records erschien, kam das einer Sensation gleich: Nicht nur für Afropop-Aficionados öffnete sich eine Tür zu einem kaum erschlossenen Alchemisten-Universum. 18 Jahre später erscheint die vierte Folge der Serie unter dem Titel „Nigeria 70 – No Wahala: Highlife, Afro-Funk & Juju 1973-1987“. Sie wirft einen Blick auf das nächste Jahrzehnt: Offensichtlich hatten lokale Musiker viel Spielraum wenn es darum ging, James Brown und andere Soul- und Jazz-Vorbilder zu reafrikanisieren. Bravourös demonstriert das etwa „Oni Suru“ von Odeyemi. Eine gewagte Melange aus Achtziger-Synthesizern, dreckigen Bläsersätzen und gleißenden Gitarren. Ebenso gut ist der federleichte Highlife-Groove von Prince Nico Mbarga und seiner Band Rocafil Jazz. Mal geht es wie in „Sickness“ um die naiv anmutende Bitte, Gott möge einem angesichts des allgegenwärtigen Todes verzeihen, Songs wie „Africa“ beschwören die panafrikanische Solidarität. Funk jedenfalls wird hier noch einmal ganz neu buchstabiert: Das fängt mit so wunderbaren Bandnamen wie Rogana Ottah and his Black Heroes oder Felixson Ngasia and The Survivals an und endet noch längst nicht bei jazzigen Trompeten, Samba-Anleihen und psychedelischen Afro-Soul. Nein, dieser Soundfluss überrascht ständig, verästelt und verunreinigt sich auf interessante Weise. Und überzeugt gerade wegen seinem schmutzigen Klangbild. Was langweilt schon schneller als eine polierte Produktion?

Genau hier liegt der Schwachpunkt des neuen Youssou N’Dour-Albums „History“ (naive/believe). Senegals ehemaliger Kulturminister kehrt mit 59 zu seiner ersten Liebe zurück: Dem Mbalax, der Schlagermusik seines Landes, die der Sänger einst mit seiner Band Super Etoile de Dakar auf die Weltkarte des Pop setzte. Mit seiner hohen klagenden Stimme, dem honigsüßen Melisma, das selbst Bayern-3-Hörer von Hits wie „7 Seconds“ oder Peter Gabriels „In Your Eyes“ kennen, kann der „König des Mbalax“ eigentlich nichts falsch machen. Denkt man. Zumal er seine alte Band an der Seite hat. Wir hören treibende polyrhythmische Percussion-Teppiche, unter denen melancholische Melodien liegen, eine Neuauflage alter Hits wie etwa „Salimata“ und „Ay Coono La“. Dazu zwei unveröffentlichte Songs Babatunde Olatunjis, in denen N’Dour den Gesang der verstorbenen nigerianischen Trommler-Legende ergänzt. Warum aber der Begleitung von Handtrommeln, Gitarren und Saxofonen eine Produktion überstülpen, die so farblos und steril wirkt, als gelte es, die Flughäfen und Supermärkte dieser Welt zu beschallen? „Es ist gut seinem Vater zu ähneln“, hat Youssou N’Dour einmal erklärt „aber es ist noch besser seine Epoche zu spiegeln“. Aus diesem Grund wohl duettiert er mit jungen R’n’B-Sängerinnen der schwedischen Afrodiaspora wie Mohombi oder Seinabo Sey und lässt sich stellenweise sogar zu metallischen Autotune-Effekten verleiten. Was für eine Verschwendung dieser großartigen Stimme!

Wie aktuelle Club-Moden und Lokalkolorit zusammengehen zeigt ein neuer Sampler auf Outhere Records. Wobei Sampler eigentlich etwas zu kurz greift: „#NuNairobi – Kenya’s Music Hub“ ist einerseits ein Wegweiser zu den Musikclubs, Kultur-, Kunst- und Modezentren der kenianischen Hauptstadt und andererseits eine Webseite – www.nunairobi.com – die einige der wichtigsten Bands der City vorstellt. Nairobi, das ist nach wenigen Klicks klar, brummt gerade vor kreativer Energie: Angesichts einer aufstrebenden Mittelklasse, einer vielversprechenden Tech-Szene und dem Revival von Live-Clubs geht es wieder darum, sich auf die eigenen Wurzeln zu besinnen. Ob als Remix, Sample oder Teil eines neuen Beats: diese Clubmusik überrascht mit Benga, Swahili-Disco und den silbrig klingelnden Gitarren des Pop der Unabhängigkeits-Ära. Georg Milz von Outhere hat vor Ort recherchiert und die Geschichten der Musiker in physische und digitale Landkarten sowie ausführliche Liner Notes gepackt: Darunter die mondäne Electro-Pop-Künstlerin Muthoni The Drummer Queen, Octopizzo, ein aus dem Ghetto von Kibera kommender Rapper und Gesellschaftsaktivist, oder die exil-somalischen Hip-Hop-Stars Waayaha Cusub. Pop lässt sich hier kaum von Politik trennen. Viele der Künstler nehmen auf witzige Art die Korruption aufs Korn. Spektakulär die Karriere von Bonoko: Er wurde berühmt, nachdem er als Augenzeuge in einem Netz-Video über Polizeigewalt berichtete. Nun rappt er auf Sheng, dem Street Slang von Nairobi. „#NuNairobi“ strahlt einen ansteckenden Optimismus aus. Ein Vorbild-Projekt. Wann nimmt sich Outhere die nächste afrikanische Metropole vor?

JONATHAN FISCHER

SZ 18.6.2019

nunairobi

„WIR SIND DIE GRÖSSTEN KÄMPFER FÜR DIE DEMOKRATIE“ Wie überleben malische Musiker die Krise? Der Ngoni-Meister Bassekou Kouyate über Islamismus, Korruption, Blues-Verwandtschaft und die Jahrtausende alte Kraft seiner Musik

Bassekou Kouyate gehört zu den erfolgreichsten Musik-Exporten Malis. Als Spross einer Griot-Familie hat er das Spiel mit der traditionellen Ngoni-Laute revolutioniert und Verbindungen mit Blues, Jazz, Rock und Latin gesucht. Sein Debutalbum „Segu Blue“ brachte ihm 2008 die Auszeichnung der BBC als „afrikanischer Künstler des Jahres“ ein. Seitdem tourt er mit seiner Band Ngoni Ba, der unter anderem seine Frau Amy Sacko und sein Sohn Madou angehören, um die Welt. Soeben ist auf Outhere Records sein fünftes Album erschienen: „Miri“, eine Platte, auf der Kouyate das Bild einer verwundeten Gesellschaft zeichnet. Jonathan Fischer sprach mit ihm in Bamako.

Bassekou Kouyate, Ihr neues Album klingt im Vergleich zu den Rock-Experimenten der Vergangenheit ruhiger und auch ein wenig melancholisch. Was hat Sie veranlasst zu Ihren Wurzeln zurückzukehren?

Als ich „Miri“ aufnahm, war gerade meine Mutter gestorben. Ich ging zurück in mein altes Dorf nach Garana, wohnte in dem leeren Haus, und sinnierte am Ufer des Niger über meine und die Zukunft Malis. Dort schrieb ich auch die neuen Songs, während ich auf das Wasser schaute. Man spürt ihnen diese Ruhe an. Deswegen habe ich auch traditionellere Arrangements gewählt.

Ihr Album ist nicht nur eine Hommage an Ihre verstorbene Mutter, Sie besingen auch die Werte, die Sie Ihnen beigebracht hat…

Meine Mutter hat viel für den Dorffrieden getan. Wenn sich Paare stritten, bot sie sich stets als Vermittlerin an. Diplomatie, das ist eine Qualität, die uns Malier auszeichnet. Songs wie „Wele Ni“ oder „Konya“ beschwören die traditionellen Stärken der malischen Gesellschaft: Bisher haben wir es immer geschafft, Probleme gemeinsam zu diskutieren, uns zu verzeihen und Kompromisse zu schließen. Wir sind schließlich eine Demokratie. Auf der anderen Seite bedroht uns all die Korruption. Die Gewalt. Und der Neid auf diejenigen, die es aus eigener Kraft zu etwas gebracht haben. Haben wir wirklich vergessen, was wir zu verlieren haben?

Hat Mali nach dem Militärcoup von 2012, der zeitweiligen Besetzung des Norden Malis durch Dschihadisten und der Wiedereinsetzung einer demokratischen Regierung noch immer nicht zur Rechtsstaatlichkeit zurückgefunden?

Schauen Sie nur an, wie unser Präsident IBK (Ibrahim Boubacar Keita) sich bereichert. Was macht er für die Menschen, die ihn gewählt haben? Seine Söhne sind inzwischen alle Milliardäre, aber viele Malier wissen nicht mal wie sie ihre Familien von Tag zu Tag ernähren können.

Vor sieben Jahren sind viele Musiker aus dem Norden in den Süden geflohen, da die Islamisten sie mit dem Tod bedrohten. Festivals und auch Live-Clubs wurden geschlossen. Hat sich die Situation seitdem verbessert?

Nein, leider nicht. Die Situation im Norden ist immer noch ziemlich unsicher. Auf dem Land hat die Regierung die Kontrolle verloren: Dort zwingen Islamisten die weltlichen Schulen zur Schließung, unterbinden das Feiern traditioneller Hochzeiten und entführen Kinder, die dann zu Selbstmord-Attentätern herangezogen werden. Das Schlimmste aber dabei: Unsere Politiker tun nichts, sie interessieren sich nur für die eigenen Geschäfte. Deswegen appelliere ich an alle, die unserem Land helfen wollen. Gebt das Geld nicht der Regierung. Lasst es lieber über NGOs und vertrauenswürdige Privatpersonen laufen.

Wie überleben die Musiker in dieser Situation?

Wir Musiker leiden enorm. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich die Möglichkeit habe, im Ausland zu touren und so für meine Familie zu sorgen. Aber ich kenne viele Kollegen, die nichtmal ihre Miete zahlen können oder das Schulgeld ihrer Kinder, weil sie keine Arbeit haben.

Auch mit Aufnahmen lässt sich nichts mehr verdienen: Denn aufgrund der Piraterie bleibt den Musikern am Ende nichts.

Andererseits gilt Mali als Wallfahrtsort für westliche Musiker. Unter anderem Damon Albarn und Robert Plant pilgern immer wieder hierher. Sie standen auch schon mit Paul Mc Cartney und dem Jazzpianisten Joachim Kühn auf der Bühne. Verstehen Sie die Faszination des Westens für Ihre Musik?

Ich stamme von väterlicher wie auch mütterlicher Seite aus einer Familie von Djelis (malische Bezeichnung für Griots) und kann die Linie meiner Vorfahren bis vor Christi Geburt nachverfolgen. Bereits als Zehnjähriger lernte ich die Songs und Geschichten von meinem Vater. Und der wiederum von seinem Vater und so weiter. So eine Tausende Jahre alte Tradition ist mit viel Kraft aufgeladen. Nicht umsonst heißt es, der Blues stamme letztendlich aus Mali. Unsere pentatonische Musik kam mit den Sklaven nach Marokko und an den Mississippi.

Viele Ihrer neuen Songs wie etwa „Nyame“ haben tatsächlich ein starkes Blues-Feeling. War Ihnen die musikalische Verbindung zwischen Niger und Mississippi schon immer bewusst?

Nein, darauf brachte mich erst Taj Mahal. Als ich 1990 meine erste Tour durch Nordamerika machte, jammten wir zusammen bei einer Radiostation in Tennessee. Taj fragte mich: Kennst du den Blues? Als ich vernennte, meinte er: Aber du spielst den Blues. Später fiel mir dann auf, wie verwandt etwa der pentatonische Blues John Lee Hookers mit der Tradition der Bambara klingt. Nur hat die Griot-Musik traditionell eine andere Ausrichtung: Es ist unsere historische Aufgabe, die Bambara-Könige und ihre Taten zu preisen.

Wie passt es da zu Ihrer überlieferten Rolle, Politiker und gesellschaftliche Missstände zu kritisieren?

Meine Vorbilder sind immer noch mein Vater und Großvater. Sie fürchteten sich nicht vor den Autoritäten und stellten den 1968 durch einen Putsch an die Macht gekommenen Präsidenten Moussa Traora mit einem kritischen Song zur Rede. Nur dass ich mich als Griot diplomatisch ausdrücken muss. Die jungen malischen Rapper haben da viel größere Freiheiten: Es imponiert mir, wie etwa Master Soumy kein Blatt vor den Mund nimmt und die Korruption von Regierung und Polizei beim Namen nennt. Das ist heute wichtiger denn je.

Auf Ihrem neuen Album lassen sie neben bekannten malischen Kollegen wie Habib Koite und Abdoulaye Diabate auch die kubanischen Rapper von Madera Limpia mitspielen. Ein Zugeständnis an die jüngere Generation?

Wir haben in Mali seit den 60er und 70er Jahren viele kubanische Rhythmen in unsere Musik übernommen. Eigentlich dachte ich an einen der Musiker des Buena Vista Social Club, mit denen ich bereits auf dem „Afrocubism“-Album zusammengespielt hatte. Aber dann hören meine Söhne diesen neuen Afrobeats-Rap. Und Jay, der Boss meiner Münchner Plattenfirma Outhere Records, stellte den Kontakt zu den Rappern aus Guantanamo her.

Sie waren der erste Musiker in Mali, der die traditionelle Ngoni von der bloßen Begleitung zum Leadinstrument revolutioniert und mit elektronischen Effekten verstärkt hat. Haben Sie da nicht Gegenwind bekommen?

Mein größter Kritiker war mein Vater: Als ich es wagte, populäre Gitarren-Riffs auf der Ngoni nachzuspielen, rief er mich zu sich: Diese Gitarre ist nur ein billiger Abkömmling der Ngoni.

Aber letztlich hat auch er akzeptiert, dass die Tradition nur durch Veränderung fortlebt. Mein Vater hatte vier Saiten auf seiner Ngoni, eine mehr als mein Großvater. Und ich habe noch ein paar Saiten dazugespannt. Manchmal sind es sieben, manchmal auch neun. Meine Vorfahren wären noch nicht auf die Idee gekommen, die Ngoni weltweit zu Gehör zu bringen. Aber genau das erlauben mir meine Wahwah- und Verzerrungspedale: Ich kann nun jede Form von Musik, von Klassik bis Rock spielen.

Schaffen Sie es bei all Ihren Tourneen auch noch Musikunterricht zu geben? Sie haben angekündigt, eine Ngoni-Schule in Bamako zu errichten….

Ja so eine Schule wäre dringend notwendig. Das Grundstück habe ich bereits, mir fehlen allerdings noch die Mittel, um sie zu erbauen. Momentan unterrichte ich 50 junge Malier auf der Ngoni. Dazu kommen weitere Schüler aus Europa, Japan und Amerika, mit denen ich leider nur telefonisch kommunizieren kann. Sie haben zu viel Angst, nach Mali zu kommen.

Und Sie selbst, haben Sie auch manchmal Angst?

Nein, die Islamisten haben es nicht geschafft, uns zu brechen. Und auch niemand anderes kann uns verbieten, Songs über Gott, die von ihm geschaffene Natur und Schönheit der Frauen zu singen. Wir Musiker sind doch die größten Kämpfer für die Demokratie. Wir stehen für Stärke durch Vielfalt. Jede der Dutzenden Volksgruppen Malis hat ihre eigene Musik. Aber wenn wir zusammen musizieren, gibt es nur eine Sprache.

JONATHAN FISCHER

Gekürzt in der NZZ vom 1.6.2019Bassekou Kouyate Miri

Von Liebe und Bankauszügen – Gospel Porn Rap: Die Politsatire des ghanaischen Hip-Hop-Duos „Fokn Bois“ gibt einen guten Einblick in die Realität einer afrikanischen Metropole wie Accra

Wenn Wanlov und M3nsa, die beiden Rapper des ghanaischen Hip-Hop-Duos Fokn Bois, daheim das Radio andrehen, dann kann es durchaus passieren, dass sie sich Jesus preisen hören. In einer der Guten-Morgen-mit-dem-Herrn-Sendungen, die Accra zusammen mit Open-Air-Gottesdiensten, Straßenpredigern und aus Bussen und Friseursalons dröhnender Gospelmusik mit dem Wort Gottes dauerbeschallen. „Jesus is coming“ heißt der Rap. Da schwärmen sie vom „Stab des Herrn“. Und mahnen, „auf die Knie zu gehen und sich der heiligen Macht zu öffnen“.

  Was wie eine Aneinanderreihung willkürlicher Bibelstellen wirkt, verstehen ihre Fans sofort als Sperrfeuer obszöner Anspielungen. „Eine letzte Form von Selbstverteidigung“, nennt M3nsa den Song: Was außer Ironie könne noch helfen, um nicht am täglichen Gebets- und Erlösungs-theater zu ersticken, das in Ghana so allgegenwärtig ist.

  Die Macht der Religion, die Massenmigration der Jugend oder auch die unhinterfragte Verehrung alles Westlichen liefern dem Duo ihre Kernthemen für ihre lyrischen Angriffe, die auch Außenstehenden aus Europa viel über die gesellschaftlichen Realitäten und Konflikte Afrikas erzählen. Und wenn Kritiker ihnen Versautheit und religiöse Respektlosigkeit vorwerfen, dann haben sie das stolz zu ihrem eigenen Genrebegriff erkoren: „Gospel Porn Rap“.

  „Jede Situation hat auch ihre komische Seite“, sagt M3nsa. „Wir nutzen das als Therapie. Immer ist Gott schuld. Oder der Teufel. Dabei sollten wir über bessere Straßen, funktionierende Schulen und anständige Arztgehälter diskutieren.“ Ihre Comedy cum Rap fungiere als Sprachrohr eines kollektiven Unbewussten. „Wir rappen, was Afrikaner denken, aber niemals auszusprechen wagen.“ Im Videointerview aus einem Hotelzimmer in Bordeaux, wo die Fokn Bois auf ihrer Europa-Tournee gastieren, ist dabei nie ganz klar, wo der Spaß aufhört und der Ernst anfängt. Oder umgekehrt.

  M3nsa, teils in London aufgewachsen, wirkt mit seinem sanften Lächeln wie der verbindlichere Teil der beiden. Sein Partner Wanlov The Kubulor schießt Kommentare aus dem Off. Seine Persianerfellkappe kann man – hello Ceauşescu! – als Hinweis auf seine rumänische Mutter deuten. Tatsächlich schwänzten die beiden – damals noch Emmanuel und Mensa – früher in Accra die Schule, um Raps zu improvisieren. Und wurden 2010 mit dem Pidgin-Musical „Coz Ov Moni“ bekannt.

  „Wir sind die einzigen schwarzen Rapper, die weiß sein wollen“, erklärt Wanlov The Kubulor dann, dessen Künstlername sich aus „One Love“ und dem Twi-Wort für „Vagabund“ ableitet. „Aber nur von außen“, ergänzt M3nsa. Eine Anspielung auf den Song „Wanna Be White“, in dem die Fokn Bois erkunden, warum so viele Afrikaner sich die Haut bleichen und das negative Selbstbild übernehmen wollen, das ihnen die Kolonisatoren einst zusammen mit dem Christentum einimpften.

  Neben dem Rap gehört subversiver Aktionismus zu ihrem Repertoire. Einmal haben sie auf dem Marktplatz von Accra in Plastikeimern Spenden für Amerika gesammelt. Vorsorglich, wie sie erklären, schließlich gehe die Wirtschaft dort den Bach runter, während das Bruttosozialprodukt in Afrika stetig wachse. In einem anderen Video machen sie sich über das westlich-wichtige Auftreten der heimischen Oberschicht lustig, indem sie in Anzug und Krawatte Felder beackern und auf Bäumen herumklettern.

  Auf ihrem jüngsten Album „Afrobeats LOL“ knöpfen sich die Fokn Bois neben Migration und Materialismus auch die Untiefen afrikanischer Popmusik vor. Genauer gesagt das Afrobeats-Genre, das sich – im Gegensatz zu Fela Kutis politischer Kampfmusik Afrobeat ohne s – über Tanz und Luxusfantasien definiert und gerade als größtes Exportgut Westafrikas gilt: „Eigentlich“, sagt M3nsa, „wollten wir uns nur über die immer gleichen Steig-in-meinen-Ferrari-Videos lustig machen.“

  Letztendlich ist „Afrobeats LOL“ dann aber ein beeindruckendes Meisterstück des Genres geworden. Mit avancierten Club-Rhythmen. Und einem Gastspiel des Afrobeats-Superstars Mr. Eazi. Nur die Texte klingen bisweilen, nun ja, anders: „Leih mir doch ein bisschen Geld und habe Geduld. Eines Tages werde ich reich sein.“ Besonders „Account Balance“ persifliert den Beziehungsmaterialismus mit lieblichen Chören. „I love you“? Das reicht nicht. Zeig mir deinen Bankauszug.

  Wer aber keinen reichen Lover findet, dem bleibt immer noch die Auswanderung. Davon handelt „Abena“: Ein afrikanisches Mädchen emigriert mit Hollywood-Träumen nach Amerika. Und gerät in einen Albtraum. Abena benennt sich in Tanja um. „Ta“, erklärt Wanlov, bedeutet bei uns „furzen“, „nja“ übersetzt sich mit „scheißen“. Und genauso wird Tanja in ihrer neuen Heimat behandelt: „Um der Armut zu entkommen, geben wir unsere Identität auf und suchen uns im Westen eine vermeintlich bessere.“ Wenn Donald Trump Afrika vor Kurzem ein „shit hole“ genannt habe, würden die Fokn Bois sich ihm anschließen – „zumindest was den geringen Wert menschlichen Lebens betrifft. Und unsere Selbstachtung. Als Ghanaer kommst du mit dem Wissen zur Welt, dass dein ganzes Leben und Lernen einzig und allein dazu dient, später einmal ein Visum zu ergattern“.

  Bezeichnenderweise schließt das Album mit „Abena Repatriation“. Die Familie beschwört ihre Liebe zur ausgewanderten Tochter, sie solle zurückkommen, in der alten Heimat könne sie bestimmt stressfreier leben. Aber – und diesen Part kennen afrikanische Emigranten nur allzu gut: Vergiss nicht, uns das neueste iPhone und ein Smartbook mit Retina-Erkennung mitzubringen!

  Hat solche Politsatire Tradition in Afrika? Die traditionellen Griots, sagt M3nsa, könnten sich im Gegensatz zu Rappern höchstens sehr verklausulierte Kritik an den Mächtigen leisten. Dafür schätzt er die erfrischende Respektlosigkeit etwa des nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe und dessen Klassiker „Things Fall Apart“. Oder, natürlich, Fela Kuti: Wie er sich mit vielen Amens über Politik und Religion („Shuffering and Shmiling“), über Hautbleichmittel („Yellow Fever“) und gewissenlose Soldaten („Zombies“) lustig macht.

  „Fela war da sehr direkt. Wir spielen unsere Pointen viel subtiler aus.“ Etwa in „Thank God We’re Not A Nigerians“: Manche ghanaische Radiostationen spielen den Fokn-Bois-Song als Kommentar, wenn das Nachbarland mal wieder von einer Katastrophe, etwa einem Boko-Haram-Bombenanschlag, heimgesucht wird. Ein Missverständnis. Wanlov erklärt ihn vielmehr zur „Antwort auf die grassierende Mode unter ghanaischen Jugendlichen, die Redensarten nigerianischer Popstars zu kopieren“. Als sie in Fela Kutis „Shrine“ in Lagos auftraten, hatten sie den Song vorsichtshalber nicht auf der Setliste. Bis ihn 7000 Zuschauer lauthals einforderten. „Der Clou war, dass die Nigerianer jedes Wort mitsangen, aber den Refrain abänderten: ‚Thank God we are not a Ghanaians‘“.

  Ob die Fokn Bois bei allem Maulheldentum keine Repressionen fürchten? Ihr Vorbild Fela Kuti wurde immerhin vom nigerianischen Militär mehrmals zusammenschlagen und ins Gefängnis gesteckt. Nein, sagt M3nsa. Der ghanaische Präsident lasse Kritiker zwar durch inoffizielle Milizen verprügeln. Aber als Künstler seien sie zu bekannt – und die Regierung sei zu sehr um ihren internationalen Ruf besorgt.

  Wanlov: Dafür kennen wir es nur allzu gut, dass Leute mit Messern aus ihren Autos springen und uns zur Rede stellen: Warum habt ihr diesen oder jenen Song gemacht?

  M3nsa: Erinnerst du dich daran, wie uns die Rastas wegen einer One-Love-Satire mit abgebrochenen Bierflaschen die Schädel rasieren wollten?

  Wanlov: Gewisse Nachbarschaften in Accra haben uns nach unserem Song „Sexin Islamic Girls“ sogar mit einem Bann belegt. Wir fragen uns in dem Song, ob Muslime – anders als die dauernd über Sex redenden Christen – ihren Spaß eher im Geheimen ausleben.

  M3nsa: Vor Ort wollten die Leute dann lieber mit uns Fotos machen. Besonders die muslimischen Frauen verstanden, dass es eine Hommage an sie war, ein Aufruf zur Selbstermächtigung …

  M3nsa: Am schlimmsten fielen die Reaktionen auf unseren Song „Strong Homosexual Guys“ aus. Einige Hörer drohten, uns glühende Stäbe in den Anus zu schieben …

  Wanlov: Und das nur, weil wir die Menschenrechte auch für Schwule einfordern.  

  „Strong Homosexual Guys“ spielt mit all den irrationalen Ängsten, die das Thema in Westafrika (und einem großen Teil der Welt) produziert: „We don’t fear guns/ we don’t fear knives/ we just fear strong homosexual guys“. Im dazugehörigen Video geraten die beiden Rapper in einen Schwulenclub zwischen händchenhaltende Männern. „Der eigentliche Skandal“, sagt M3nsa, „ist doch die Kriminalisierung deiner privaten Sexualität, während wir in einer Gesellschaft leben, in der sich die Regierung nicht unserer Nöte annimmt. Und unsere Ohnmacht und Wut lassen wir dann ersatzweise an einer schwachen Minderheit aus.“ Die Verteufelung Homosexueller gehe heute von den Kirchen aus – eine afrikanische Tradition aber könne er darin nicht erkennen. Früher hätten Transvestiten gar als selbstverständlicher Teil der Gemeinschaft gegolten. Heute aber werde Homosexualität weniger mit Liebe assoziiert als mit dem in kirchlichen Internaten gängigen Kindesmissbrauch.

  „Politiker lieben das Thema: Solange die Schwulen an allem schuld sind, müssen sie nicht über ihre eigene Korruption reden.“ Was kann der Gospel Porn Rap da schon ausrichten? Eine ganze Menge, wenn man in die westafrikanische Folklore schaut: Die Spinne Kwaku Anansi, Urvater aller Trickster-Figuren, bedient sich dort einer ganz ähnlichen Strategie. Sie schafft Chaos. Bringt kreative Unordnung in festgefahrene Verhältnisse. Anansi heißt heute Fokn Bois. „Nur wenn das gewohnte Gefäß bricht“, sagt Wanlov, „denken die Menschen über ein neues nach.“

JONATHAN FISCHER

SZ 15.5.2019fokn bois foto

Magier – Der Sänger und Pianist Dr. John brachte die Musik aus New Orleans in den Rock. Ein Nachruf auf „den schwärzesten weißen Mann der Welt“

Dr. John beantwortete die Routinefrage nach dem eigenen Befinden mit dieser tiefen krächzenden Stimme, die einen glauben ließ, er habe gerade einen Sack Kies verschluckt: „Hab’ mir gerade beide Beine gebrochen, bin knapp dem Tod von der Schippe gesprungen, aber sonst: alles in Ordnung!“ Gehörten solche Geschichten zur Selbst-Mythologisierung des stets mit Totenschädel auf dem Klavier auftretenden Pianisten und Sängers, der eigentlich „Mac“ John Rebennack hieß? Nein, der Autounfall war im wahren Leben passiert, und der junge Journalist, der die Legende 1991 im Backstage des New Yorker Blue Note Clubs traf, konnte sein Glück kaum fassen. Der geheimnisvolle Doktor, der den Federnumhang und den Schamanenkopfschmuck, mit denen er immer aufgetreten war, gegen Zylinder und Frack getauscht hatte, war in Redelaune! Erzählte von Schicksal, Sterben und Soul seiner Heimatstadt New Orleans.

  „New Orleans Musiker kommen immer zu spät, aber wenn sie da sind dann fühlen sie ihren Shit – auf eine subtile Weise, die Menschen von anderswo nur schwer verstehen. Weil es spirituell ist.“

  Egal, dass seine halb gebrummten, halb in den Bart gemurmelten Betrachtungen sich erst nach dem dritten Abhören des Mitschnitts zu englischen Sätzen formten. Was auch an seinem „Coonass Accent“ lag. Und einem Organ, das einen Kritiker zu dem Vergleich mit einem „riesigen Ochsenfrosch mit Mandelentzündung“ verleitete. Aber was für ein funky Ochsenfrosch!

  Jerry Wexler, Produzent von Dr. Johns klassischen Alben auf Atlantic Records, bezeichnete ihn als „schwärzesten weißen Mann in dieser Welt“. Wann hatte ein Musiker je die Atmosphäre einer Stadt so akkurat heraufbeschworen, in der fast täglich Brassbands und Beerdigungs-Parades durch die Straßen ziehen, während Kellner und Serviermädchen, Straßenverkäufer und Nachbarschaftskinder den Downbeat mit den Hüften aufnehmen, auf den Bürgersteigen tanzen, auf Töpfen die Synkopen mitschlagen? Welcher Alchimist konnte die lokale Mythologie von Voodoo Queens und Rock’n’Roll-Transvestiten so überzeugend in die hippe Sprache der Popkultur überführen? Macology eben.

  Seine Heimatstadt diente Dr. John lebenslang als lebender musikalischer Steinbruch. Er setzte New Orleans in den Sechzigerjahren wieder auf die Pop-Landkarte. Das hatte zuletzt Louis Armstrong ein paar Jahrzehnte zuvor geschafft. Zwar hörte New Orleans nie auf, innovative schwarze Musik hervorzubringen: Little Richard und Ray Charles nahmen hier auf. Professor Longhair, Fats Domino, Huey Smith, Smiley Lewis, Earl King und Schlagzeuger Earl Palmer gehörten zu den lokalen Legenden, deren Licks und Phrasierungen der junge Mac Rebennack, ein in Latein und Griechisch geschulter Highschool-Absolvent mit weißer Haut aber schwarzer Seele, aufsaugte wie später alle möglichen toxischen und bewusstseinserweiternden Substanzen. Doch es fehlte jemand wie Dr. John. Jemand, der in der Lage war, die Tradition der Stadt und den psychedelischen Rock der Hippie-Kultur zu einem Gebräu zu mischen, das dank Alben wie „Gris- Gris“, „Babylon“, „Remedies“ und „The Sun, Moon & Herbs“ den weißen Mainstream hypnotisierte. Man könnte auch sagen: den Rock’n’Roll zu seinen Voodoo-Wurzeln zurückbrachte.

  Mezz Mezzrow, ein jüdischer Jazzklarinettist, und Johnny Otis mit seinem Rhythm’n’Blues-Orchester hatten es vorgemacht: Wie man als Weißer Eintritt in die schwarze Musikwelt findet. Dr. John aber ging darüber hinaus. Er war so tief in die Kultur der Gassen und Bayous von New Orleans eingetaucht, dass er nicht nur als einziger Weißer zum lokalen schwarzen Musikerzirkel gehörte, sondern auch als eine Art lebendes Geschichtsbuch der Stadt galt. Einer, den die Ahnen persönlich legitimiert hatten, die historische Figur des Voodoo-Heilers Dr. John als Alter Ego mit Bandanas, Federschmuck und Gesichtsbemalung aufzupimpen. Seine Mittsechziger-Alben für Atlantic hatte Mac Rebennack jedenfalls ohne jede Mitwirkung von außen komponiert, arrangiert und mit lokalen Musikern eingespielt. Wer hatte schon von The Meters gehört, bevor die famose New-Orleans-Funktruppe 1973 den unwiderstehlichen Groove auf Dr. Johns größtem Hit „Right Place Wrong Time“ beisteuerte? Und wer hätte ohne Dr. Johns „Gumbo“-Album jemals – in London, Tokio oder Ebersberg – von den delikaten, mit Dixie-Jazz und karibischem Rumba gesprenkelten New-Orleans-Straßenhymnen wie „Iko Iko“ gehört?

  Wenn Mac Rebennack nicht im väterlichen Haushaltswarenladen – wo nebenbei auch die neuesten Rhythm’n’Blues-Platten über den Tresen gingen – aushalf, verdingte er sich als Session-Musiker. Äußerlich mag er damals noch einem pausbäckigen Chorknaben geähnelt haben. Aber Mac brauchte sich nur ans Klavier zu setzen, um als „funky Horowitz über die Tasten zu fegen“. Er hatte schon Rock’n’Roll-Hits von Lloyd Price („Lawdy Miss Clawdy“), Shirley and Lee („Let The Good Times Roll“), Guitar Slim und Earl King seine Piano-Licks verpasst als er 1959 seine erste eigene Single aufnehmen durfte. Morgus and the Ghouls nannte er seine Band, eine düstere Vorwegnahme seiner überlebensgroßen „Night Tripper“-Bühnen-Persona. Von Album zu Album – gute drei Dutzend sind es geworden – groovte er sich tiefer in die Sümpfe Louisianas, verfeinerte er seine spezielle Fusion aus Blues, örtlicher Folklore und haitianisch-afrikanischer Spiritualität, die ihm zuerst seine Großmutter nahegebracht haben soll. Und die ihn später sogar zur Weihe als Houngan oder Voodoo-Priester führte.

  Muss man wirklich wissen, dass Dr. John auch mit Frank Zappa, Aretha Franklin oder Sonny and Cher im Studio war? Dass die Rolling Stones den Pianisten für „Exile On Mainstream“ engagierten, er einen Auftritt in „The Last Waltz“, dem Abschiedskonzert von The Band, hatte? „Niemand“, schreibt Jerry Wexler in seiner Biografie, „hat mir mehr über Musik beigebracht als Dr. John – egal ob Rock, Rhythm’n’Blues, Soul oder Funk“. So erging es wohl auch Mick Jagger und Eric Clapton, oder zuletzt Dan Auerbach von The Black Keys, der das 2012er-Album „Locked Down“ aufnahm. Ein Spätwerk, das Dr. John noch einmal in Hochform zeigte. Und das ihm zu Recht seinen vierten Grammy bescherte.

  Seit 2017 hatte er aus Gesundheitsgründen alle Auftritte abgesagt. Am Donnerstag ist er in New Orleans einem Herzinfarkt erlegen. Er wurde 77 Jahre alt. In seiner Heimatstadt wird man – wie es die lokalen Gebräuche verlangen – dem Doctor eine gebührende Funeral Parade bescheren. Und Mac wird, glaubt man seinen Songs, nirgendwo und überall dabei sein, mit Amulett und Gris-Gris-Säckchen lediglich in „Anutha Zone“. In einer anderen Welt, die für ihn immer auch eine Realität war.

JONATHAN FISCHER

SZ 8.6.2019dr. john bild