Als der Schriftsteller Jonathan Franzen gefragt wurde, warum er für sein neues Buch Freiheit die altmodische Form des Familienromans wählte, führte er das Tröstliche dieser Traditionsgattung ins Feld: »Als ich mich einer kaputten Ehe, kranken Eltern, Streit in der Familie und Geldmangel gegenübersah, waren die Postmodernen zu nichts zu gebrauchen … und ich begann mich mit zunehmendem Alter für menschlichere Formen des Erzählens zu interessieren.« Bobby Blue Bland hat dieselbe Erkenntnis in einen knappen Satz gepackt: »Man muss ein Leben gehabt haben, um den Blues zu schätzen.«
Verdienten Stars wie Robert Plant, Elton John oder Cyndi Lauper mag es ähnlich ergehen: Sie alle haben den Zenit ihrer Karriere überschritten, müssen sich und ihrem Publikum nichts mehr beweisen. Die Verkäufe waren oder sind noch so gut, dass sie jederzeit bequem von ihren Tantiemen leben könnten. Wenn man aber zu den neuesten Popmoden sowieso nichts mehr beisteuern kann – warum nicht gleich nach den eigenen musikalischen Wurzeln graben? Sich mit der alten Seele Amerikas verbünden? Und den Blues singen? Alle drei haben gerade Alben aufgenommen, die sich am Folk, Country und Rhythm ‚n‚ Blues der Nachkriegszeit orientieren – und das staubige Erbe der Urväter aller amerikanischen Popmusik für die Gegenwart neu interpretieren.
Es wäre zu billig, diese Rückbesinnung als bloße Altersmelancholie abzutun, zumal sie mit dem Lebensgefühl eines von kulturellen Ängsten, konservativen Abwehrkämpfen und Krisenwirtschaft gezeichneten Amerika korrespondiert. »So viele Menschen um mich herum«, erklärt Cyndi Lauper, »fühlen den Blues. Und ich fand in den alten Songs eine Medizin. Egal wie viel vom Elend die Rede ist – am Ende erwächst aus der Trauer ein Tanz.« Die 57-jährige New Yorkerin darf das mit der Autorität der Eingeweihten behaupten. Gerade hat sie Memphis Blues veröffentlicht: Elf Blues-Klassiker, live eingespielt und mit Arrangements wie aus der Schellack-Ära. »Sie brauchen keine Modernisierung, weil sie niemals alt geworden sind.«
Laupers neu entdeckte Liebe zum erdigen Salon-Blues der fünfziger Jahre wirkt zunächst wie der weitere Hakenschlag einer Unberechenbaren: Nicht umsonst machte sie sich einst als schrille Feministin im Popgewand einen Namen. Damals sang sie mit überdrehter Mädchenstimme Girls Just Want To Have Fun!, um später Brecht-Opern und zuletzt ein Dancefloor-Album einzuspielen. Als ihre Plattenfirma das jüngste Projekt ablehnte, veröffentlichte Lauper Memphis Blues im Alleingang.
Ein Album mit Mission: »Auch wenn vieles am Blues ziemlich vertraut klingen mag – wenn du dich ganz auf ihn einlässt, trägt er dich an einen anderen Ort.«
Lauper erzählt von Stimmen aus der Vergangenheit, die bei den Aufnahmen in Memphis – einst die sprichwörtliche Wegkreuzung aller Blues-Vagabunden – zu ihr sprachen; schwärmt davon, wie Howlin‚ Wolf, Junior Parker und BB King in den örtlichen Sun-Studios Jump-Blues-Rhythmen, Country-Riffs und weit aufgedrehte Verstärker zusammenbrachten, um ein Gebräu zu schaffen, das mit Recht als Ursuppe des Rock ‚n‚ Roll gilt. Pop mag sich per Definition immer wieder selbst entsorgen: Der Memphis Blues aber liefert bis heute die Hefe der kulturellen Selbstbefreiung.
Die erklärte Frauenrechtlerin Lauper eignet sich den Blues im lasziv-fordernden Gestus eines She-Wolf an. Ihre Kratzbürstigkeit ergänzt dabei wunderbar den Schmutz der Analogaufnahmen. Etwa beim Opener Just Your Fool, wo Charlie Musselwhites Mundharmonika den Soul-Kontrapunkt zu Laupers heiserem Vibrato setzt. Oder in Early In The Morning: Mal launiges Mädchen, mal resolute Blues-Mama, liefert sich Lauper ein neckisches Call and Response mit BB King und seiner Gitarre – und lädt die Ahnen zum Mitsingen ein. »Wenn Allen Toussaint seine Pianoläufe spielte, war es, als würde die Tür zu einer anderen Welt sich öffnen.«
Lauper ist nicht allein auf ihrem Pilgerweg. Auch Tom Petty, John Mellencamp und die Steve Miller Band streunen auf ihren jüngsten Werken noch einmal durch das Mississippidelta. Tom Jones nahm einen Songzyklus alter Gospels und Country-Blues auf, und Simply-Red-Frontmann Mick Hucknall widmete ein ganzes Album seinem Lieblingssänger Bobby Blue Bland. Die Musikindustrie mag in der Krise stecken – der Blues aber gewinnt als ewige Goldreserve des Pop neue Anziehungskraft. Es ist die elementare Einfachheit der Musik, die in Krisenzeiten zu Wertschätzung gelangt: Man zehrt vom Mythos der Blues-Prediger, die einst scharenweise den Süden mit einem Gitarrenkoffer in der Hand durchstreiften, die Ohren weit offen für das Klingeln der Cent-Münzen und für Redensarten, die sie der Treibgutsammlung Tausender als Gemeingut geltender Songzeilen hinzufügen könnten. Was natürlich auch bedeutet: Der Blues lässt sich nicht mehr neu erfinden. Aber eine originelle Interpretation der überlieferten Verse vermag bis heute zu bannen.
Robert Plant hat darin viel Erfahrung: Schon im Teenageralter coverte er Blues-Songs, bevor er deren Emotionalität als Leadsänger von Led Zeppelin in Hardrock-Manier überdrehte. Raising Sand, ein Album mit der Bluegrass-Sängerin und Geigerin Allison Krauss, markierte vor zwei Jahren sein Grammy-gekröntes Comeback. Nun frischt er auf Band Of Joy seine erste Liebe wieder auf. Plant besann sich auf die Offenbarungen seiner Jugend, als er Son House, Skip James und Bukka White im englischen Birmingham auftreten sah. »Diese Konzerte änderten mein Leben. Ich blickte zu diesen alten Männern auf, als ob sie mysteriöse Botschafter von einem anderen Planeten wären.«
Für seine neuesten Tiefenbohrungen in die Blues-Sedimente engagierte er den legendären Nashville-Produzenten Buddy Miller sowie Patty Griffin als weibliche Begleitstimme. Das Ergebnis betört: Fünfziger-Jahre-Rockabilly, Country-Harmonien und Memphis-Rhythm-‚n‚-Blues geben sich ein eklektizistisches Stelldichein, Coverversionen von Los Lobos bis zu den Drone-Rockern Low werden im Staub der Landstraßen und Baumwollfelder zu düsteren Meditationen ausgewalzt. Oder aber Plants Fistelstimme beschwört zu Mandolinen- und Banjogeschrammel den archetypischen Long Black Train. Am innigsten glüht ein Soulsong der Kelly Brothers, den er, begleitet von einer Lapsteel-Gitarre, mit der gepressten Zärtlichkeit eines gezähmten Kraftmenschen vorträgt: I‚m Falling In Love Again.
Ähnlich muss auch Elton John empfunden haben, als er 2007 – nach dem Wiederhören eines Leon-Russell-Songs – seinen Musikerfreund aus den siebziger Jahren anrief. Russell, der weißmähnige Pianist und Songwriter, aus dessen Werkstatt Evergreens wie A Song For You stammen, der einst bei Phil Spector, den Beach Boys wie auch bei diversen Nummern des für seinen rauen Sound berühmten Stax-Labels mitspielte, ließ sich von Johns Idee begeistern: Warum nicht gemeinsam die alte Rock-‚n‚-Roll-Leidenschaft wiederentdecken? Unter der Ägide von T-Bone Burnett – bekannt und ausgezeichnet für den Soundtrack von Brother Where Art Thou wie auch das erwähnte Raising Sand – entstand ein Album, das wenig mit dem Las-Vegas-Elton der vergangenen Jahre zu tun hat.
The Union ist eine Art Familienroman. Elton John, Leon Russell sowie diverse Brüder und Schwestern im Geiste erarbeiteten gemeinsam Blues-Melodien am Piano, ließen lose Rockrhythmen drum herum entstehen – und luden Dutzende von Studiogästen ein: Neil Young, Brian Wilson, Paul McCartney, Booker T. Jones, Grace Jones und Stevie Nicks… »Ich wollte das raue, und ungeschliffene Gefühl von Alben wie Exile On Mainstreet einfangen«, erklärt Elton John. Keine Frage: Nach ein paar Hundert Millionen verkaufter Tonträger kann Elton John es sich leisten, als Förderer halb vergessener Genies aufzutreten. Frei von kommerziellem Kalkül, nimmt er den Kontakt zu seinen eigenen Frühwerken wie Tumbleweed Connection wieder auf. Der chronisch kranke, durch kleine Clubs tingelnde Leon Russell wird es ihm danken. Und doch steckt hinter dem Blues-Elton mehr als die Privatschrulle eines saturierten Stars.
John, der regelmäßig neue Popacts wie Lady Gaga und die Scissor Sisters unterstützt, der als Gefangener des Jetsets von Promi-Party zu Megaevent hüpft, scheint sich nichts so sehr zu ersehnen als: Erdung. Der globalisierte Pop darf nirgends und überall zugleich sein. Der Blues aber hängt an festen Orten und überlieferten Dialogen, in seinem Medium lässt sich das kollektive Swingen der Beteiligten mühelos bis zu den Worksongs der Jahrhundertwende zurückverfolgen. Das hat man ihm oft als Schwäche ausgelegt. Heute aber stellt gerade diese Verankerung seine Stärke dar.
»Call and Response«, predigt eine von der Dynamik ihrer Aufnahmen immer noch ergriffene Cyndi Lauper, »das Ruf-und-Antwort-Schema des Blues, stellt den primärsten Rhythmus, den wir besitzen. Musik, die darauf beruht, dringt durch alle Schichten des Redens hindurch. Sie korrespondiert mit dem Geben und Nehmen zweier Liebenden. Darin liegt die Magie!« Gewichtige Worte. Doch womöglich erklärt dieser innere Mutter-Kind-Rhythmus die ungebrochene Anziehungskraft des Blues, seine Fähigkeit, die Hörer über ihren Alltag und ihre Ängste hinweg zu tragen. Es ist nicht die Hautfarbe, bei der Popveteranen jeglicher Couleur Zuflucht suchen. Verehrt wird der Blues als menschlichste Stimme des Pop.
Cyndi Lauper: Memphis Blues (Naïve/Indigo) /// Robert Plant: Band Of Joy (Decca/Universal)/// Elton John/Leon Russell: The Union (Polydor/Universal)
Cyndi Lauper über ihre jüngste und älteste Liebe, den Blues: »Auch wenn vieles vertraut klingt, wenn du dich auf ihn einlässt, trägt er dich an einen anderen Ort«
Elton John (u.) feiert »das ungeschliffene, raue Gefühl«, und Robert Plant blickt zu den Bluesvätern auf, »als ob sie Botschafter von einem anderen Planeten wären«
JONATHAN FISCHER
Die Zeit, 30. 9. 2010