Monatsarchiv: April 2017

Mann aus einer lichten Nacht – Der Senegalese Issa Samb, genannt Joe Ouakam, ist tot. Er war Afrikas erster moderner Künstler

Joe Ouakam

V

Keine Tafel markiert dieses Kraftzentrum afrikanischer Kunst. Wer an der Rue Jules Ferry 17 in Dakars Boutiquenviertel Plateau vorbeiflaniert, kann einen bröckelnden Hinterhof und hölzerne Schuppen sehen. Oder man liefert sich einer Energie aus, die man hier, zwischen Hotels, Bankgebäuden und Hochhausbaustellen, kaum vermutet hätte: der Aura märchenhafter Verwünschung. Und das, obwohl aus einem Rekorder wilder Free Jazz schallt. Ein alter weißhaariger Mann wechselt ab und zu die Kassetten. Ansonsten scheint er untätig, zieht an seiner Pfeife, erwidert die Grüße von Passanten mit einem stummen Nicken. Issa Samb alias Joe Ouakam. „Er ist eine Art Kulturminister für uns“, raunt der Schriftsteller Charles Cheikh Sow dem Besucher zu. „Alle Künstler vertrauen ihm.“

Oukam hat seit den Siebzigerjahren Generationen senegalesischer Künstler geprägt. Als „ersten modernen afrikanischen Künstler“ bezeichnet ihn der Kurator Simon Njami. Ouakam habe die Ideen von Beuys, Arte Povera und Fluxus mit der afrikanischen Prämoderne kurzgeschlossen. Mit großen Ausstellungen hatte das kaum zu tun. Denn der Bildhauer, Maler, Filmemacher, Dichter und Philosoph Joe Ouakam gehörte zu den Künstlern, die kein Œuvre im klassischen Sinne brauchen. Zwar war er auch auf der letztjährigen Biennale „Dak’art“ mit Bildern vertreten. Ein Kunstwerk aber war der Mann selbst. Wenn Künstlerkollegen in Oaukams Freiluftatelier eintrudelten, schien ihre Kommunikation nicht über Worte zu laufen. Als vielmehr darüber, dass selbst das Kleinste eine Bedeutung hat. Ouakam etwa stand einmal auf, um ein Blatt, das vom Baum gefallen war, an die „richtige“ Stelle zu legen. Entrückt. Und hyperpräsent.

„Lettre aux morts, lettre aux vivants“ – Brief an die Toten, Brief an die Lebenden, hatte er an die Wand geschrieben. Mit Galerien oder Museen wollte Issa Samb nie arbeiten. Er verstand sein Atelier als Laboratorium für performativ-politische Experimente. Eine Installation zeigte die zu einer Art „Ahnenbaum“ übereinandergestapelten Stühle, auf den Lehnen die Namen senegalesischer Künstler und Politiker. „Die Schönheit der Welt“, hat Ouakam einmal in einem seiner Videos gesagt, „ist Kunst und Kultur. Nun versuchen sogenannte Künstler dieses wunderbare Erbe zu verkaufen, das uns die Vorfahren hinterlassen haben.“

Issa Samb kam am 31. Dezember 1945 im Vorort Ouakam – daher sein Künstlername – als Sohn einer Familie traditioneller Heiler zur Welt. Afrikanische Spiritualität hat hier, bei den Fischern der Lebou, Jahrhunderte des Islam überlebt und drückt sich etwa in rituellen Tieropfern an die Meeresgeister aus. Joe Ouakam erlebte mit 15 Jahren die Unabhängigkeit Senegals. Er studierte an der Cheikh-Anta-DiopUniversität, besuchte die Kunstakademie und politisierte sich bei den Studentenprotesten im Mai 1968. In der Folge gründete er die Künstlerbewegung „Laboratoire Agit-Art“: Es ging ihr um Performance jenseits der Ausrichtung auf den Staat oder den Markt. Folglich kritisierte Ouakam auch die von Senegals erstem Präsidenten Leopold Senghor ausgerufene „Négritude“: Sie galt ihm als Bewegung einer kleinen intellektuellen Elite.

Ouakam wollte die Barriere zwischen Alltag und Kunst aufheben. Jeder in Dakar weiß etwas über den Mann: Über seine Bilderverbrennungen. Über Ouakams Fernsehauftritte, die gelegentlich mit einem minutenlangen Schweigen begannen. Oder von seinen Prozessionen: In einer dieser Video-Performances steigt der Künstler aus einem Sarg, geht mit einem schwarzen Schleier um den Kopf durch die Straßen Dakars und predigt, dass er als „Missionar des lebendigen Geistes der Fischer und des Meeres dienen werde“.

Zuletzt hatte der Bauboom in Dakar auch Joe Ouakams Refugium bedroht. Der drohende Verlust dieses mythischen Ortes traf Ouakam schwer: Er, der nie Wert auf Besitz gelegt hatte, wohnungslos lebte, und seine eigenen Schriften nur als Fotokopien besaß, hatte hier eine Gegenutopie zur durchkommerzialisierten Megametropole geschaffen. Das Atelier ist vorerst gerettet, sein Kraftzentrum aber ist gegangen. Joe Ouakam verstarb letzten Mittwoch in Dakar. Er wurde 71 Jahre alt. „Du kommst aus einem anderen Universum“, hatte der senegalesische Schriftstellerkollege Amadou Lamine Sall über ihn geschrieben. „Aus einer Nacht, die weniger grausam ist als der helllichte Tag.“ Mit Ouakam ist ein Mittler zwischen den Welten gegangen.

JONATHAN FISCHER

SZ 28.4.17

Adieu Europa! „Da werde ich gebraucht“: Die Kulturmanagerin Ken Aicha Sy kehrt in ihre Heimat Senegal zurück

Eines hält Ken Aicha Sy der Stadt Paris bis heute zugute: „Ich war ein großartiges kulturelles Programm gewohnt, jeden Tag konnte ich zwischen Museen, der Oper, Konzerthallen und Kinos wählen. Und dann erst die fantastischen Bibliotheken.“ Vier Jahre lang lebte die junge Senegalesin an der Seine. Dank einer doppelten Staatsbürgerschaft – ihr Vater ist ein senegalesischer Maler, ihre Mutter eine französische Journalistin – brauchte sie dazu nicht mal ein Visum. Sie studierte Kunstgeschichte und Innenarchitektur, verbrachte jedes zweite Semester mit praktischer Arbeit im Kulturmanagement.

  Dass sie einmal freiwillig nach Senegal zurückkehren würde, das war, trotz mancher rassistischer Anfeindungen, lange undenkbar. Bedeutete eine Rückkehr nicht den sozialen Abstieg, finanzielle Einbußen, das Stigma das Scheiterns? So zumindest denken bis heute Tausende senegalesische Jugendliche, die wie Ken Aicha Sy auf der Suche nach besseren Bildungs- und Karriere-Chancen ihr Land verlassen. Migration, sagt die 29-Jährige, sei für Afrikaner viel selbstverständlicher als für Europäer: „Das gehört hier einfach zum Erwachsenwerden. Wer das Geld für ein Busticket hat, sucht sich einen Job in Abidjan. Und die Mittelklasse-Kinder schielen selbstverständlich alle Richtung Europa.“

Wer Ken Aicha Sy in ihrem kleinen Häuschen am Rande des Universitätsviertels von Dakar besuchen will, sollte dem Taxifahrer am besten das Handy geben. Ein energischer Wolof-Wortschwall lotst ihn bis zu einem Trafo-Häuschen am Rande einer Ausfallstraße. Dort wartet sie. Ken Aicha, die Kriegerin. Das markante Gesicht rahmen Kreolen und ein bunter Turban. Wäre da nicht die Spur eines Lächelns, ihre stattliche Erscheinung könnte furchterregend wirken. Sy, die sich den Mohawk-Namen Akacha als Alias zugelegt hat, käme das wohl gar nicht ungelegen: „Ich verstehe mich als Untergrundkämpferin. Denn Kultur hat Innovations-Potenzial. Sie hat politische Sprengkraft“.

  Sys Smartphone vibriert ständig: „Sind die Plakate für das Hip-Hop-Konzert fertig? Habt Ihr auch die Modemacher, Graffiti-Künstler und Tänzer mit drauf?“ Die Kultur-Managerin zündet sich die erste von vielen Zigaretten an, schnippt die Asche lässig auf einen Unterteller. Ihre Wohnung ist eine Mischung aus Künstler-Bibliothek und Museum: An den Wänden hängen afrikanische Plastiken und abstrakte Bilder. Zwischen den Kunstkatalogen auf dem Wohnzimmertisch zeigen Aufkleber den Schattenriss einer Frau mit Irokesen-Frisur. So vermarktet sich Ken Aicha Sy als Akacha – als kunstsinnige Amazone im Stil von Grace Jones.

„Senegal braucht mich mehr als Frankreich“, sagt Akacha Sy. Die Verwandlung der Pariser Kunststudentin zur „Revolutionärin der senegalesischen Kultur“, wie sie das Internet-Magazin Slateafrique betitelte, begann mit dem Besuch des Festival des Art Nègres in Dakar: „Ich sah eine vitale Szene junger Weltklasse-Musiker, Maler, Tänzer, Autoren und Filmemacher. Warum hatte ich noch nie von ihnen gehört? Bei allem Enthusiasmus waren sie weder miteinander vernetzt noch hatten sie eine Ahnung von Vermarktung.“ Das war im Jahr 2010. Sy blieb, sie wollte dieses Kommunikations-Loch stopfen. In Paris hatte sie einen Job in Aussicht, stattdessen entschied sie sich für eine unsichere Existenz, in der sie vier Tage die Woche Büro-Jobs bei einer Werbeagentur erledigt, um ihre Miete zu zahlen. „Senegalesen sind gute Geschäftsleute“, erklärt Akacha Sy ihre Wahl fast entschuldigend. „Sie arbeiten hart, bauen Unternehmen auf, zahlen Steuern, niemand von ihnen geht wegen der Sozialhilfe nach Europa.“ Die Emigranten schickten Millionen zurück in ihre Heimat. Doch noch mehr als Investitionen brauche Senegal ihr Know-how. Dakar strotze vor Kreativität.

Mit Kultur-Management kannte Sy sich aus. Sie gründete den Blog Wakh’art und begriff sich fortan als Entwicklungshelfer. Wakh’art, das heißt auf Wolof „über Kunst sprechen“. In dem Webzine finden sich Kunstkritiken, Künstler-Porträts wie auch ein tägliches Kulturprogramm für Dakar. Ziel ist es, die international beachtete Kunstszene der Stadt endlich systematisch zu kartografieren. Das Ergebnis: Bisher hat sie mehr als 700 Interviews mit Kunstschaffenden hochgeladen, darunter sind Maler, Fotografen, Bildhauer, Tänzer, Filmemacher, Musiker und Rapper. „Ich vernetze sie untereinander und gebe Anstoß für Gemeinschaftsprojekte“, sagt die Kultur-Amazone. Es klingelt an der Haustür. Ein befreundeter Webdesigner kommt für das tägliche Update vorbei. Im Gefolge hat er ein paar Studenten und Künstler, die Material für eine Zeitschrift suchen. Akacha Sy scheint das ständige Kommen und Gehen zu genießen. „In Paris hätte sich mein Leben um meine Arbeit, meine Wohnung, meine persönliche Entwicklung gedreht“, sagt sie. „Hier aber kann ich was für die Evolution der Gesellschaft tun“.

Senegal habe kaum Bodenschätze, resümiert Sy und schenkt von ihrem selbstgemachten Mango-Saft nach. „Unsere wichtigste Ressource ist unsere reiche Kultur.“ Zusammen mit anderen Remigranten hat Sy das Musiklabel Wakh’art Music gegründet, in Senegal lassen sich nämlich viele Künstler noch allzu häufig von Verwandten und Freunden managen. „Die treffen oft impulsive Entscheidungen, anstatt einen langfristigen Karriere-Plan zu verfolgen.“ Doch immer mehr Senegalesen merkten, dass Kunst eine essenzielle Rolle für die Weiterentwicklung der Gesellschaft ihres Landes spiele. Auch die Touristen kämen nicht mehr nur für einen Strandurlaub – sondern weil sie von Musikern und Rappern wie Xuman oder Carlou D, von Fotografen wie Ibrahima Thiam oder Djibril Dramé oder den mystischen Freiluft-Installationen von Joe Ouakam gehört haben.

 Allerdings dürften sich die Kulturschaffenden keine Unterstützung vom Staat erwarten. Sie müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen oder ausländische Sponsoren gewinnen. So haben die Rapper von Africulturban mit Unterstützung der US-Botschaft eine Hip-Hop-Akademie in einem armen Vorort von Dakar aufgebaut, wo Jugendliche Scratchen und Studiotechnik, Event-Management und Buchhaltung lernen. Die Bürgerbewegung Y’en a marre hat in ihre Graswurzel-Kampagnen für ein gerechteres Senegal Künstler mit eingebunden. Sie alle bemühen sich darum, Chancen zu schaffen. Den Jugendlichen, denen der traditionelle Fischfang und Ackerbau nicht mehr genug zum Überleben einbringt, Hoffnung zu geben, ihnen Alternativen aufzuzeigen zur lebensgefährlichen Reise in Richtung Europa.

Akacha Sy differenziert zwischen Migration und Auslandsaufenthalt: Wer es sich leisten könne, sagt sie, solle es ihr nachtun und sich für eine Uni in Europa bewerben. Denn angesichts einer örtlichen Kunsthochschule, in der die Studenten weder Mal-Papier, noch Fotoapparate oder Fachbücher vorfinden, sei ein Auslandsstudium die beste Entwicklungshilfe – inzwischen sei auch die wachsende senegalesische Mittelklasse bereit, Geld für Kultur auszugeben. Deshalb appelliere sie an all die jungen Menschen die für eine Ausbildung nach Europa gehen: „Kommt zurück. Gründet ein Unternehmen in Senegal. Das kann funktionieren.“

Natürlich bedeute zurückzukehren, auch Opfer zu bringen. In Senegal gebe es nun mal keine Stellen, wo ein Master-Abschluss entsprechend entlohnt werde. Andererseits: Warum solle man den Europäern die Abschöpfung der kulturellen Ressourcen überlassen? Dafür sei es notwendig, ein Bewusstsein für den Stellenwert der Kunst zu schaffen. „Die meisten jungen Leute in Senegal können sich schwer vorstellen, dass es sich lohnt, etwas anderes zu studieren als Jura, Medizin oder Management. Viele Kinder hier wachsen auf, ohne jemals mit Kunst in Berührung zu kommen.“ Sy hat deshalb ein städtisches Programm etabliert, mit dem sie Kunstunterricht an die öffentlichen Schulen bringt. „Ich gebe eine Idee an diejenigen weiter, die unsere Zukunft gestalten“, sagt sie. „Ohne Kultur gibt es keinen Wohlstand!“J

JONATHAN FISCHER

SZ 25.3.2017

Tiefe Schnitte – Die amerikanische Sängerin Valerie June vermählt archaische Folk- und Bluesgesänge mit zeitgenössischem R ’n’ B

Ist Valerie June wirklich so alt wie sie klingt? Äußerlich schaut sie ziemlich jung aus, ihr feingeschnittenes, ja fast puppenhaftes Gesicht schmückte kürzlich die Vogue, und wenn jemand mit einem schwarzen Model Werbung für, sagen wir mal Bio-Kosmetik, alternative Mode oder ethisch korrekt produzierte Smartphones machen wollte, gehörte die 35-jährige Schönheit aus Tennessee sicherlich zur ersten Wahl. Andererseits: Kaum einer Sängerin wird heute so oft unterstellt, dass sie aus einer anderen Ära schöpft, dem frühen Soul, dem Vorkriegs-Blues, nein das reicht alles nicht, es müssen die Folkweisen der großen Depression oder die Worksongs Baumwolle erntender Sklaven sein. Und alle haben Recht. Zumindest was die Ahnenlinie von Valerie Junes Gesangsstil betrifft. Jahrhundertealte Mississippi-Melodien und Appalachen-Gesänge kommen durch ihre Musik auf Augenhöhe mit dem globalisierten Rhythm‘n Blues. „Sie schaut aus wie ein Supermodel und singt wie eine 100-jährige Bluesoma“, schrieb der Londoner Standard. Und der Independent schwärmte von „der seit Ewigkeiten betörendsten individuellen Vorstellung“. Das eigentliche Medium aber bleibt ihre Stimme. Zwei Takte aus ihrem neuen Album „The Order Of Time“ reichen – und man ist ihm verfallen: Diesem herben nasalen Flehen, das sich – unbeleckt von allen Popmoden – in den 15 Jahren geformt hat, in denen die junge Frau als Haushaltshilfe, Geschirrwäscherin und Seifenmacherin ihr Geld verdiente, nebenbei Ukulele und Banjo lernte und nach Auftritten in Pubs und Künstlercafes selbstproduzierte CDs aus dem Kofferraum heraus verkaufte.

Ja, sagt, Valerie June, sie habe sich lange für ihre Stimme geschämt. Dann lacht sie ihr kehliges Lachen. Wirft ihr Schlangennest an Dreadlocks in den Nacken. Kokett wirkt das nicht. Eher wie der Stolz, es doch geschafft zu haben. „Wenn ich könnte“, sagt sie zwischen zwei Schluck Ingwer-Tee im Nebenraum einer hippen Berliner Bar, „würde ich so singen wie Robert Johnson oder Maybelle Carter. Aber meine Unzulänglichkeigen kamen mir zum Glück in die Quere: Weil sie mich zwangen, bei mir zu bleiben“. Nein, so eine wie Valerie June würde in keine Casting-Show passen. Ihre einzige Ausbildung, so sagt sie, sei das Singen in der örtlichen Kirche gewesen: „Es gab keinen Chor. Fünfhundert Stimmen sangen gemeinsam, und jeder brachte sich nach seiner Facon ein.“ Im Radio hörte sie vor allem Country. Und sie gibt freimütig zu, dass sie, als sie vor kurzem zusammen mit Nile Rodgers auf der Bühne stehen sollte, erst ihre Bandmitglieder fragen musste, welche Songs der Chic-Gründer und Funk-Gott eigentlich geschrieben hatte. Vielleicht braucht es ja genau diese Unbekümmertheit, um so zu klingen, wie Valerie June nunmal klingt. So befremdlich anders. So aus der Zeit gefallen. Schließlich bezieht sich June auf einige der obskursten Quellen des schwarzen Pop: Worksongs,  also jene afrikanisch inspirierten Arbeitsgesänge von Feldarbeitern und Gefängnisinsassen, in denen ein Vorsänger stets von einem gleichförmigen Chor beantwortet wurde.

Was aber bringt ein junges Mädchen aus Tennessee dazu, eine Welt zum Leben zu erwecken, die seit Alan Lomax Feldaufnahmen und George Mitchells „Anthology of American Folk Music“ scheinbar abgeschlossen in dicken CD-Boxen schlummerte? Wie versöhnt June die Erdigkeit uralter Arbeitsgesänge mit ihrer sehr zeitgenössischen Spiritualität? Und warum klingt das alles so viel frischer als der Rest der sogenannten „Americana“-Szene“?

Ein bisschen erinnert Valerie Junes Geschichte an das Märchen vom Aschenputtel Aufgewachsen als Tochter eines Abriss-Unternehmers in einer Kleinstadt westlich von Nashville, hilft sie ihrem Vater bei der Arbeit, klopft den Mörtel von Ziegelsteinen und sammelt Bauschutt zum Wiederverkauf. Die Musik bleibt zunächst ein Zubrot. Eineinhalb Jahrzehnte lang tingelt June als Straßenmusikerin herum, versucht sich in Memphis vergeblich in einer Soulband („meine Stimme legte sich immer quer“), zieht später nach Brooklyn. Dann wird sie von einem gemeinsamen Bekannten Black Keys-Mastermind Dan Auerbach vorgestellt: „Bei Dan absolvierte ich meine Lehrzeit“, sagt June. “Aber es war ein Kampf, ich wollte mir nicht hineinreden zu lassen“. Ihr Major-Debut „Pushing A Stone“ schlägt 2013 ein wie ein Meteorit in ein Museum. Einerseits trägt das Album – dreckiges Gitarren-Geschepper, harte Drums und ein Schuss melancholischer Country – die Handschrift des Roots-Alchemisten Dan Auerbach. Andererseits befördern Junes knarzende, näselnde, scheinbar aus einem Feldgottesdienst einer schwarzen Dorfgemeinde herübergewehten Seelengesänge das Quäntchen Adrenalin, das Bluesrock-Adepten wie den Black Keys immer fehlen wird. Ein Timbre, das direkt ins Rückenmark fährt. Solche Sounds erwartete man nur noch auf Konserve zu hören. Junes Stimme aber trifft den Hörer wie ein Messer. Und sie schneidet tief unter die Haut. Wann konnte man das zuletzt von einem Pop-Act behaupten?

Der Erfolg überrollt sie fast: Die Rolling Stones laden sie als Opener auf die Bühne, Michelle Obama lässt sie im Weißen Haus auftreten und die britischen Triphop-Veteranen Massive Attack geben bei ihr einen Song in Auftrag . Der bleibt dann zwar bei den Aufnahmen liegen – doch Valerie June hat aus der Melodie eine großartige Single gemacht, einen der lyrischen Höhepunkte ihres neuen Albums „Order Of Time“. In die rauen Bluesakkorde des Vorgänger-Albums mischen sich nun sehr viel weichere und komplexere Jazz- und Ambient-Akzente. Und das ist gut so. Die Sängerin hat zu ihrer Erzählstimme gefunden, nimmt uns mit in ihre Welt, in der das Landmädchen aus Tennessee auf die Mysterien des Cosmic Jazz stößt, sie im „reinigenden Regen“ durch astrale Ebenen tanzt, „gleichzeitig blind und voller Hellsicht“. Ja, so tickt sie, die June: Als ob Country-Urmutter Maybelle Carter auf R‘nB-Esoterikerin Erykah Badu träfe. Dass diese Spracherweiterung so gut funktioniert hat womöglich auch mit Junes Art des Komponierens zu tun. Sie „schreibt“ eigener Erklärung nach keine Songs. Sondern „empfängt“ sie. „Einige Songs kommen mir komplett im Traum. Andere schleichen sich langsam in mein inneres Ohr. Astral Planes etwa habe ich zuerst beim Kochen gehört.“ Mit ihren Begleitmusikern und Produzent Matt Marinelli hat sie „Astral Plane“ dann mit warmen Keyboards, Bläsern und einer melancholisch weinenden Pedal Steel ausgemalt.

Entstanden ist das Album im letzten Winter auf dem Land in Vermont. Das fahle Licht, die karge Landschaft, das alles scheint hier abzufärben: Songs wie „Slip Slide On By“ oder „Love You Once Made“ erinnern mit ihren schwellenden Bläsern an klassische Soulballaden – und vermeiden doch die Erlösungstheatralik dieses Genres. Junes Lamento spielt nicht mit Effekten. Ihr geht es um Zeitordnungen. Um das was bleibt. Wie in „Two Hearts“ rahmt oft eine Orgel ihre zitternde Stimme, und erhebt diese über gedämpften Beats zu hymnischer Intensität. Ein stiller Triumph, allem Verlust zum Trotz. Der Blues, womöglich. Wem würden bei zartbitteren Zeilen wie „take what‘s mine, love can be so unkind“ oder „I‘m bound to leave you wating at the frontdoor“ nicht der alternde Dylan oder die sexy Resignation eines Bobby Blue Bland einfallen? Valerie June aber zitiert lieber Querdenker wie Basquiat oder Bowie – neben Appalachen-Bluegrass und dem klassischem Trance Blues der Mississippi Hills. Und dann bringt sie all das in einem rumpelnden Rocker wie „Shakedown“ zusammen: Gitarren-Riffs, Handclaps und eine Orgel kochen da einen Rockabilly hoch, der sich immer mehr zum Drone steigert, mehr Rauschen als Rhythmus, eine dunkle Soundwolke – die Kehrseite des leisen Abschiednehmens, das das Gros von Junes Album prägt.

Warum aber singt sie gerade jetzt, wo sie Karriere macht, Fernsehsender und Zeitungen bis zur New York Times sich um ihre Geschichten reißen, ja selbst die Superstar-Liga des R‘nB in Reichweite scheint, so besessen von Trennung und Verlust? Valerie June zögert einen Moment, bevor sie von ihrer Familie erzählt: „Nichts hat mich mehr erschüttert als der kürzliche Tod meines Vaters.“ Es sei kein schlimmer Abschied gewesen. Ganz im Gegenteil. Die ganze Familie habe sich um das Sterbebett versammelt und zusammen gesungen. „Danach habe ich die Klagen der alten Blues- und Folksongs noch einmal besser verstanden“. Im Refrain von „Shake Down“ hört man übrigens neben ihren Geschwistern auch ihren Vater singen.

JONATHAN FISCHER

in gekürtzer Fassung in der SZ 28.3.2017