Monatsarchiv: Juni 2017

Jenseits der Selbstsucht: Cody Chesnutt singt über das richtige Leben in schwierigen Zeiten. Sein Album „My Love Divine Degree“ ist roh, ungeschliffen, auf charmante Weise nicht perfekt

Ein sanftes, ja fast liebenswürdig beiläufig hingeworfenes Trotzdem bringt das bisherige Leben des Cody Chesnutt – pardon, ChesnuTT mit zwei großen T – gut auf den Punkt. Der afroamerikanische Singer-Songwriter hat fast alles getan, was ein Musiker mit Popstar-Ambitionen unbedingt vermeiden sollte. Seine bisherige Laufbahn liest sich wie die Langfassung des Buches „Zehn Wege, deine Karriere zu sabotieren“. Launenhaftigkeit könnte man Chesnutts jahrelange Showbiz-Pausen nennen. Seine Fans aber werten das als Charakterstärke, wenn nicht gar messianische Selbstbestimmung.

Der Auftritt des 48-Jährigen aus Tallahassee, Florida, im barocken Prunksaal der Londoner Bush Hall jedenfalls ist restlos ausverkauft, die Stimmung oszilliert, wie überall, wo Cody seine Gitarre aus dem Koffer holt, zwischen euphorisch und leicht verunsichert: Wer könnte schon voraussagen, was der Mann diesen Abend spielen wird? Rohes akustisches Geschrammel wie auf seinem Debüt „The Headphone Masterpiece“ aus dem Jahre 2002? Den satt gefederten 70er-Jahre-Funk des vor fünf Jahren erschienenen Nachfolgers „Landing On A Hundred“? Oder die grobfaserige Melange aus Rock, Soul und Afrobeat, die sein neues Album „My Love Divine Degree“ prägt?

Der erste Eindruck des Mannes in der abgewetzten Jeansjacke und dem Bowlerhut: ein schwarzer Hipster, wie er im Buche steht. Der zweite: Der traut sich aber was! Bevor Chesnutt in seine ureigene Melange aus Akustik-Balladen, schrägen Keyboards und bisweilen leicht verrutschten Falsettgesängen taucht, hakt er erst einmal die Pflicht ab. Seinen ersten und einzigen Hit. Gitarren und Schlagzeug schieben einen gewaltigen Shuffle an. „She don’t want no rock’n’ roll, she want platinum or ice or gold …“ 2002 hatte Chesnutt „The Seed“ in seinem Schlafzimmer auf einem Vierspur-Rekorder aufgenommen. Lo-Fi und hörbar selbstgebastelt. Chesnutt hatte ihn wie die 40 anderen Songs von „The Headphone Masterpiece“ noch nicht veröffentlicht, da bekam ihn Questlove, der Schlagzeuger und Kopf der Hip-Hop-Band The Roots zufällig zu Gehör – und verliebte sich in die eingängige Mitsing-Melodie. Warum nicht diesen Song gemeinsam als Single einspielen? „The Seed“ avancierte alsbald zur weltweiten Hip-Hop-Hymne. Cody aber verschwand nach einer gemeinsamen Tour wieder dort, wo er hergekommen war, im kommerziellen Nirgendwo.

55 000 Mal hatte sich „The Headphone Masterpiece“ verkauft – immerhin. Die Kritiker schwärmten von dem ungeschliffenen, rauen und nur in Spurenelementen soulhaltigen Bekenntnisbrief eines afroamerikanischen Freigeistes. Nach Industriemaßstäben hätte er in spätestens zwei Jahren ein Folgealbum nachschieben müssen. Eine Folgetournee. Und ein paar Videos. Aber Cody scherte sich einen Dreck um Erwartungen. Er kümmerte sich lieber um seine Kinder, spielte Musik nur nach Feierabend. „Ich hatte schon damals den Begriff Alternative R ’n’ B erfunden“, sagt er. „Und das bezog sich nicht nur auf die Musik.“ Seine Jahre als Songwriter für das Hip-Hop-Label Death Row Records in Los Angeles und die Erfahrung, mit der eigenen Band kurz vor Veröffentlichung eines Albums als „nicht vermarktbar“ fallengelassen zu werden, hatten ihn geprägt.

2012 landete er nach einem zehnjährigen Intervall einen Überraschungscoup: Chesnutt hatte das Album „Landing On One Hundred“ mit einer professionellen Band in den Royal Studios in Memphis aufgenommen, dort wo auch Al Green oder Syl Johnson ihre Hits eingespielt hatten – die Arrangements kombinierten 70er-Jahre-Soul mit der Energie des Hip-Hop. Auch diesmal wieder überboten sich die Rezensenten: Würde der Mann dem Soul neue Wege ins Hier und Jetzt öffnen?

Cody Chesnutt aber hasst Festlegungen. Er verlegt sich selbst, ist an kein Label gebunden und an keine Marketingstrategie. Wenn schwarzer Pop um die Jahrtausendwende zu den konservativsten Genres überhaupt gehörte, nahm Chesnutt schon damals etwas von der Freiheit des Internets vorweg, bewegte sich in seiner eigenen Nische. „Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, über Strategien und Genres nachzudenken“, sagt der Mann mit dem weiß gesprenkelten Bart, während er sich bei einer Tasse Kräutertee an einem der Off-Tage einer Acht-Wochen-Tournee in der Lobby eines Münchner Hotels rekelt. Er redet leise, aber mit Nachdruck. „Schreibe ich für dieses oder jenes Publikum? Ich war selbst als junger Songwriter Teil des R ’n’ B-Mainstreams. Aber die Musik, die am Ende herauskam, schmeckte nach einem durchgekauten Stück Papier.“

Nach fünf Jahren Auszeit habe er für sein neues Album nur die Vorgabe gehabt, „die organische Herangehensweise meines Debütalbums wiederaufzunehmen“. Roh, ungeschliffen, auf charmante Weise nicht perfekt. Das alles kann man von „My Love Divine Degree“ behaupten. Und doch klang Cody nie überzeugender. Er schafft ein Meisterwerk des exzentrischen Soul – und setzt dem hochpolierten, oft überproduzierten Rhythm ’n’ Blues der Gegenwart eine ergreifende Mischung aus Lo-Fi und Persönlichkeit entgegen.

Selbst das Erwachsensein klingt in diesem Kontext gar nicht mal so unsexy. Auf dem Debüt feierte Chesnutt noch die eigene Untreue – und schob mit „Landing On One Hundred“ ein Reuebekenntnis nach. Auf „My Love Divine Degree“ aber sorgt sich Cody um seine Familie, das Vatersein, die Gewalt auf den Straßen, das friedliche Zusammenleben der Menschen. Akustische Gitarrensongs wie „So Sad To See A Lost Generation“ oder „Have You Heard Anything From The Lord Today“ könnten – mit Ausnahme einiger Elektronika – auch einer alten Folkplatte entstammen. Der Gesang lebt vom klassischen Südstaaten-Soul-Erbe. Und doch wirkt Chesnutt sehr gegenwärtig. Zum sanft schaukelnden „It’s gonna bring us all down“-Chor nimmt er das brandaktuelle Thema Polizeigewalt („Bullets In The Street And Blood“) auf. Über einem federnden Afrobeat („Africa The Future“) entreißt er die Heimat der Vorväter den Negativ-Projektionen. Und irgendwo taucht dann auch noch Jesus auf, als Vorbild für „ein Leben, das sich über die Selbstsucht hinwegsetzt“. Nein, die Welt ist, besonders für einen schwarzen Amerikaner, gerade nicht leichter geworden. Chesnutts Trotzdem klingt nie wütend, eher wie eine waidwunde Weltumarmung.

Das Video „Bullets In The Street“ ist aufreizend schlicht und doch anrührend. Zwei schwarze Kinder spielen im Park, bewerfen sich mit Blättern, verstecken sich hinter Baumstämmen, mimen eine Schießerei mit Stöckchen-Pistolen. Der Krieg ist noch ein Spiel. Codys Ästhetik geht tiefer unter die Haut als die Hochglanz-Selbstinszenierungen der Konkurrenz, auch weil der dazugehörige Sound diesen Straßenmusiker-lässt-mitsingen-Charme hat.

„Musik muss organisch kratzen“, erklärt Chesnutt. Seine antiheroische Haltung und sein unpolierter Sound mögen 2002 zu früh dran gewesen sein. Inzwischen hat er ein paar Wegbegleiter. Anderson .Paak etwa oder Kanye West. „Kanye“ sagt Chesnutt, „mag denselben Crossover-Ansatz, den ich verfolge.“ Der Hip-Hop-Superstar hatte Chesnutt letzten Herbst zusammen mit Bon Iver, Common, Aesop Rocky und einigen anderen Freunden zu einem Workshop jenseits aller Genres eingeladen. Diese Jamsessions sind zwar noch nicht erschienen, aber der Singer-Songwriter aus Florida lernte dort den Chicagoer Hip-Hop-Produzenten und West-Kollaborateur Anthony „The Twilite Tone“ Khan kennen – und engagierte ihn für sein aktuelles Album. Chesnutts sanftes Trotzdem ist ausdauernder, als man denkt. huge_avatarhuge_avatar

Als wir Könige waren – Hugh Masekela, der das legendäre Festival in Zaire organisiert hat, das 1974 rund um den „Rumble In The Jungle“ stattfand, bringt nun dessen Mitschnitt heraus. Im Interview erklärt er, warum erst jetzt

Hugh Masekela, 78, ist einer der bekanntesten Musiker Afrikas. Seit den Sechzigerjahren hat er Jazz, Funk und Soul mit afrikanischer Musik fusioniert. Er spielte mit Dizzy Gillespie, Herb Alpert, Fela Kuti, den Byrds, Paul Simon und seiner damaligen Ehefrau Miriam Makeba. Welthits wie „Grazing In The Grass“ stammen von ihm. Jetzt bringt Masekela einen historischen Konzertmitschnitt heraus: „Zaire 74 – The African Artists

“ (Wrasse Records). Das dreitägige Musikfest rund um den „Rumble In The Jungle“, den Schwergewichtsboxkampf von Muhammad Ali und George Foreman, fand 1974 in Kinshasa statt. Masekela hatte es zusammen mit seinem Partner und Produzenten Stewart Levine organisiert. Es wurde zu einem wegweisenden Moment der afrikanischen Popgeschichte. Die Dokumentation bringt nun erstmals die daran beteiligten afrikanischen Musiker zu Gehör.

SZ: Es gibt bereits zwei großartige Dokumentarfilme über den Boxkampf und das Musikfestival 1974 in Zaire: das Grammy-nominierte „When We Were Kings“ aus dem Jahr 1997 und elf Jahre später „Soul Power“. Warum waren Sie nie damit zufrieden?

Hugh Masekela: Beide Filme vermarkteten das Ereignis aus westlicher Perspektive für ein westliches Publikum. „When We Were Kings“ zeigt nur kurze Ausschnitte der Konzerte, während sich „Soul Power“ vor allem auf die gastierenden Musiker aus Nordamerika konzentriert: also die Spinners, Bill Withers, die Crusaders, Celia Cruz – und natürlich James Brown.

Dessen Musik wurde damals auch in Afrika gefeiert.

Die Afrikaner waren nicht weltfremd. Sie kannten die amerikanischen Künstler aus dem Radio. In Wahrheit aber stellten diese nur die Hälfte der Show. Sie teilten die Bühne mit einigen der größten Musiker Afrikas: Miriam Makeba, Tabu Ley Rochereau und dem Orchestre TPOK Jazz und Franco, um nur einige zu nennen. Für die vielen Kongolesen vor Ort waren das die eigentlichen Stars. Und ihre Live-Darbietungen gehören zu dem Besten, was afrikanischer Pop der letzten Jahrzehnte zu bieten hat.

Afrikanische Musik war damals für den Westen bis auf ein paar Ausnahmen – Sie, Miriam Makeba und Olatunji – eine unbekannte Größe. Wollten Sie das mit dem Festival ändern?

Als Stewart vom „Rumble In The Jungle“ hörte, witterten wir beide eine Chance: Mit einem Festival rund um den Boxkampf könnten wir die größten Stars Afrikas im Westen bekannt machen! Wir holten Franco und James Brown als Zugpferde. Ich gewann ein paar liberianische Banker für die Finanzierung des Ganzen. Und dann planten wir die Aufnahmen generalstabsmäßig: Amerikanische Toningenieure bauten ein eigenes Studio unter die Bühne in Kinshasa. Leon Gast, der schon Woodstock gefilmt hatte, bekam die Aufnahmeleitung. Und mit ihm arbeitete ein Dutzend Filmteams. Am Ende erlebte ich in Kinshasa eines der besten Festivals aller Zeiten.

Es hätte wohl die Wahrnehmung Afrikas im Westen ändern können – wenn die Aufnahmen auch veröffentlicht worden wären. Woran liegt die vierzigjährige Verspätung?

Don King, der Promoter des „Rumble In The Jungle“ hat die Veröffentlichung der Mitschnitte jahrzehntelang blockiert. Sein Vertrag mit uns sicherte ihm zehn Prozent der Einnahmen an der Verwertung des Musikfestivals zu. Als er mitbekam, wie groß die Sache wurde, rief er mich an und wollte seinen Anteil verdoppeln. Ich sagte ihm: „Geh zur Hölle.“ Wir hatten noch Glück, dass Leon Gast es schaffte, die Aufnahmen aus dem Kongo herauszubringen.

Auf der Doppel-CD „Zaire 74“ beeindrucken vor allem die großen kongolesischen Orchester mit einer Disziplin und Spielfreude, die sich mit den besten Auftritten James Browns messen lassen kann. Wie weit ging denn der Austausch zwischen Afrikanern und Afroamerikanern?

Die Afrikaner hatten sich monatelang auf das Festival vorbereitet, um gegen die besten Rhythm’n’ Blues-Acts aus Amerika bestehen zu können. Dabei merkte man, wie sehr die schwarzen musikalischen Welten zusammenhängen: Celia Cruz etwa brachte afrokubanische Rhythmen auf die Bühne, die die Kongolesen längst in ihren eigenen Pop eingebaut hatten. Und auch James Brown entwickelte letztlich afrikanische Musikideen weiter – die Afrikaner jedenfalls sahen ihn als einen der Ihren an.

Im Kongo traf damals schwarze Popmusik mit Alis Black-Power-Botschaft und der von Mobutu gepredigten Rückbesinnung auf die afrikanische „Authenticité“ zusammen. Wie viel davon diente nur der Propaganda des kongolesischen Diktators Mobutu?

Der Optimismus der Afrikaner damals war echt. Gerade hatte Guinea als eines der letzten Länder Afrikas seine Unabhängigkeit gewonnen, Mobutu hatte Reformen versprochen und die Wirtschaft im Kongo blühte. Ich erinnere mich an eine elektrisierende Karnevalsatmosphäre: Schon eine Woche vor unserem Musikfestival spielten Bands auf jeder Straßenkreuzung Kinshasas, die Menschen tanzten die ganze Nacht. Sie glaubten an eine große Zukunft.

Angesichts des politischen und wirtschaftlichen Chaos, das heute im Kongo und vielen der damals ihre Unabhängigkeit feiernden afrikanischen Ländern herrscht, wirkt dieser Optimismus etwas naiv.

Musik kann die Politik nicht ändern. Aber sie kann die Köpfe der Menschen öffnen. Und genau das leistete das Festival in Zaire für das Denken vieler Afrikaner: Zusammen mit dem Ali-Kampf etablierte es einen Schulterschluss zwischen den Afroamerikanern und den Afrikanern. Die Afrikaner fühlten, dass die Schwarzen in Amerika ihre Brüder und Schwestern waren. Sie betrachteten den Westen nicht durch die Brille von Frank Sinatra oder Marilyn Monroe. Ihre Bezugspunkte hießen James Brown und Harry Belafonte Und sie umarmten deren Kultur aus ganzem Herzen. Das hält bis heute an: Hören sie nur mal die nigerianischen Popstars wie Davido, Wizkid oder P-Square, die erobern mit ihrem afrikanischen Hip-Hop-Sound gerade die ganze Welt …

Dennoch dauerte es nach dem Zaire 74-Festival noch ein ganzes Jahrzehnt, bis afrikanische Popmusik als sogenannte „World Music“ auch im Westen große Erfolge feierte.

An den Afrikanern lag das nicht. Ich habe so viele Songs aus Afrika gehört, die das Zeug zu einem Welthit hätten. Aber der Westen brauchte lange, um diese Musik aus der Exoten-Ecke herauszuholen und etwa Youssou N’dour, Manu Dibango oder Salif Keita entsprechend zu vermarkten.

Sie haben die Hugh-Masekela-Stiftung gegründet, um Afrikaner über ihre Kunst, ihr Design, ihre Musik und Geschichte aufzuklären. Ist das nötig?

Wir haben über 500 Jahre in der kolonialen Gedankenfabrik verbracht, und wir sind immer noch nicht aufgewacht. Man hat uns verstreut und als Jamaikaner, Kubaner, Afroamerikaner und Afrikaner voneinander getrennt. Viele von uns glauben bis heute, dass wir von primitiven und barbarischen Kulturen abstammen. Viele von Afrikas heutigen Probleme resultieren daraus. Miles Davis riet mir einst dazu, meine eigene afrikanische Musik zu spielen. Denselben Ratschlag gebe ich an die Generation meiner Enkel weiter: Sie sollen sich erinnern, woher sie kommen. Im Westen wird jede noch so obskure Studio-Session heute wiederveröffentlicht. Viele der großartigsten afrikanischen Musiker aller Zeiten aber drohen in Vergessenheit zu geraten. Es ist Zeit, das zu ändern: Die Musik auf „Zaire 74“ klingt heute noch frischer als viele der zeitgenössischen Hits.

JONATHAN FISCHER

SZ 8.6.2017