Nicht mal einen richtigen Namen hat die Schlaglochpiste in Bamakos Nachtclub-Viertel Hippodrome. Sie heißt schlicht Rue 246. In der Mittagshitze wirkt die Gegend wie ausgestorben. Nur ab und an knattert ein Moped vorbei, biegt ein Eselsgespann quietschend um die Ecke und wirbelt eine Staubwolke auf. Rötlicher Staub legt sich auf Autos, Straßenstände und die Waren eines Spielzeuggeschäfts auf einer Plastikplane – Lastwagen, Schaufeln, Plastikpistolen „Made in China“. An einem von weißen Mauern eingefassten Grundstück hängt ein verbeultes Schild: CFP, „Cadre de Promotion pour la formation en photographie“. Kann es sein, dass sich in diesem Hinterhof die wichtigste Fotografen-Schule Malis, ja ganz Westafrikas versteckt? Nach Zurufen erscheint ein Mann in zerschlissener Wächter-Uniform und öffnet das schmiedeeiserne Tor.
Im Innenhof hocken Studenten unter Palmen um ein Stövchen mit Pfefferminztee. Hinten beugt sich ein schlaksiger junger Mann in Jeans und Turnschuhen über seinen Laptop. John Moussa Kalapo winkt den Besucher heran. „Für diese Bilder bin ich durch halb Mali gereist“, sagt der Fotografenschüler und blättert durch einen Stapel Abzüge. Auf den Fotos zu sehen: Grüne Landschaften, steile Bergkuppen, knorrige Bäume. Ein Mali jenseits der üblichen Kriegs- und Armutsberichterstattung. Kalapo erzählt von Mythen, Sagen und Geistern, die in diesen „Kraftorten leben“, vom Ahnenglauben, der seit der Zeit der legendär reichen Monarchie alle Wirrnisse der Tagespolitik überlebt hat. Dann fällt ihm etwas Wichtiges ein: „Ich stelle dich unserem Direktor vor“. Kalapo mag als mehrfacher Preisträger der Bamako Biennale einer der aufstrebenden Stars der malischen Fotografie sein. Hierarchien aber müssen gewahrt bleiben.
Vor dem Direktorenbüro hängt eine handgeschriebene Tabelle: Auf der einen Seite Namen von gut einem Dutzend Studenten. Auf der anderen, sortiert nach Monaten, Dollar-Beträge. „Unsere neueste Kooperation“, schwärmt Schuldirektor Youssouf Sogodogo: Die Schüler liefern Fotos an Getty Images, die größte Fotobank der Welt. Die Hälfte der Gagen behält die Schule, die andere Hälfte bekommen die Fotografen ausgezahlt“. Zusammen mit der Schweizer NGO Helvetas sichere das die Finanzierung der CFP – und ein fast kostenfreies Studium.
Computer, Drucker, sogar Leihkameras stellt die Schule. In Mali ein ungeheurer Luxus, immerhin zählt das Land zu den zwölf ärmsten der Welt, gelten 70 Prozent der Bevölkerung als funktionale Analphabeten. Fotografie öffnet nicht nur alternative Wege der Kommunikation, sondern auch eine Tür zur westlichen Welt. Konzeptuelle Fotografie heißt die neueste Ergänzung des Curriculum: Als Getty Images über den Ableger „Culture & Commerce“ der CFP im Jahre 2010 eine Zusammenarbeit anbot, „wusste kaum jemand vor Ort, was Konzeptkunst bedeutet“, sagt Sogodogo und lächelt verlegen: „Malier haben Erfahrung damit, ein Hochzeitspaar in Szene zu setzen. Aber es ist eine andere Sache, abstrakte Konzepte wie Freundschaft, Arbeit oder Gesundheit zu bebildern.“
Dabei genießt Mali unter Kennern einen sagenhaften Ruf: Als Heimat von Legenden wie Malick Sidibe und Seydou Keita, Porträtisten, die in den Sechzigerjahren eine eigene Bildsprache zwischen Tradition und Moderne gefunden haben. Sogodogo hat in Europa und Nordamerika ausgestellt. Trotzdem könne keiner der von ihm ausgebildeten Fotografen auf dem lokalen Markt überleben, sagt der Schuldirektor, die Konkurrenz ist groß: Hunderte Studios für Hochzeits- und Passbild-Fotos – organisiert in neun Fotografen-Vereinigungen – werben in Bamako um Kundschaft. Ein Foto kostet selten mehr als ein Häufchen Mangos, doch auch dies ist für die Malier in Krisenzeiten oft zu teuer. Wer etwa eine Straßenkreuzung von der CFP entfernt das Atelier von Abdoulaye Baby, dem ehemaligen malischen Kultusminister und Hoffotografen von Popstars wie Salif Keita besucht, kann zwischen Eiffelturm- oder Alpentapete als Hintergrund für das Familienfoto wählen.
Auch Karim Sidibé, der das Studio seines Vaters weiterführt, hat die Leica- und Hasselblad-Kameras nur noch als Museumsstücke im Regal stehen. „Ich fotografiere inzwischen digital“, sagt er, und es klingt wie eine Entschuldigung. Sein Arbeitsplatz befindet sich auf der Straße: Ein Tisch mit Lötkolben, Lappen und aufgebrochenen Kamera-Gehäusen. Billig-Modelle, die im Westen niemand reparieren würde. Im Studio, wo der Vater einst ikonische Aufnahmen von Damen in Party-Gewändern und Jugendlichen mit ihren Mofas machte, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Derselbe Schachbrett-Boden, dieselben gestreiften Vorhänge. Nur Kunden fehlen. „Seit dem Bürgerkrieg kommen nur selten Touristen, die sich einen Silberbromid-Abzug bei mir bestellen“.
An der CFP trauert man dieser Vergangenheit nicht nach. „Wir ehren unsere Ahnen“, sagt Sogodogo, „aber wir haben uns zu lange auf den Lorbeeren von Fotografen wie Malick Sidibe ausgeruht.“ Sein Ziel sei es, die Studenten an die aktuellen Kunst-Diskurse heranzuführen. Fast jedes Jahr sind CFP-Schüler auf der Biennale von Bamako vertreten, dem wichtigsten Fotokunst-Ereignis Afrikas. Nicht immer entsprechen ihre Bilder den Erwartungen westlicher Besucher: „Manch einer würde uns gerne auf die Probleme unseres Landes festlegen“, sagt der CFP-Absolvent Harandane Dicko. „Aber wir sind in erster Linie Künstler.“ 2018 etwa zeigte Fototala King Masasy Porträts von Marktfrauen, Brillenverkäufern oder Straßenmechanikern, die mit ihren Geräten vor einer gelb gestrichenen Wand posieren. Sprühend vor Optimismus. Mali, sagt Dicko, sei ein Konfliktherd. Doch müssen Malier deswegen nur politische Reportagen machen? Oder dürfen sie auch andere Themen als Islamismus, Migration oder die Armut aufgreifen?
Eine der bekanntesten, Biennale-gekrönten Arbeiten Dickos zeigt Umrisse hinter Moskitonetzen. Menschen, die auf den Straßen Bamakos übernachten. Aber hat nicht auch diese Geschichte eine gesellschaftspolitische Relevanz? „Ich entdeckte erst spät, dass Fotografie Kunst sein kann“, sagt Dicko. Lange hatte er im Passbild- und Hochzeits-Studio seines Onkels ausgeholfen – und sich gelangweilt. Ein zweiwöchiger Kurs an der CFP öffnete ihm die Augen: Warum nicht alltägliche Gegenstände ablichten, die ihm auf der Straße auffielen? Für viele war das unverständlich: „Meine Studio-Kollegen von einst sprachen mir ab, ein wahrer Fotograf zu sein.“
Heute arbeitet Dicko als Assistent an der CFP, zusammen mit der Fotografin Fatoumata Diabate. Als Frau habe sie zusätzliche Hürden nehmen müssen, sagt Diabate. Eine unkonventionelle Tante habe ihr, der Schulabbrecherin, die mit einem Bautrupp Straßengräben aushob, empfohlen, sich für einen Fotografen-Workshop zu bewerben. „Damals galt Fotograf als reiner Männerberuf. Meine Mutter war strikt dagegen. Und mein Vater bezweifelt bis heute den Wert meiner Arbeit – weil die Ausbildung kostenlos war“, erinnert sie sich.
2004 beendete Diabate als eine der ersten Absolventinnen die dreijährige Ausbildung an der CFP. Seitdem fotografiert sie bevorzugt malische Frauen, die sich von ihrer Rolle als Hausfrau emanzipiert haben, in ihre Bildung investieren oder eigene Unternehmen gründen. Darüber hinaus schreibt sie die Porträt-Tradition auf ganz eigene Weise fort, baut ihr Studio auf der Straße auf und lässt Passanten sich selbst inszenieren – Accessoires wie malische Stoffe und Hüte bringt sie mit.
Für Direktor Sogodogo sind Schüler wie Dicko, Diabate oder eben Kalapo der Beweis, dass man es auch vom Standort Bamako aus international schaffen kann. Kalapo etwa hatte als Buchhalter gearbeitet, als ihm ein Onkel eine Billigkamera schenkte. „Mit Bildern konnte ich endlich meine Sprache finden“, sagt er.
Seitdem hat Kalapo etwa mit einer Serie über die „moderne Sklaverei der Kinderarbeit“ Debatten angestoßen. Zuletzt absolvierte er ein Stipendium an der Market Photo Workshop-Schule im südafrikanischen Johannesburg. Was hält er für die größten Hindernisse in Mali? „Schon eine größere Datei ins Internet zu laden, kann eine Nacht dauern. Wenn nicht vorher der Strom ausfällt.“ Dennoch sieht Kalapo hier seine Zukunft. So arbeitet er als Praktikant beim „Mali-Photo Project“, einer internationalen Initiative zur Archivierung des Erbes malischer Fotografen wie Malick Sidibé, Aderahmane Sakaly, Adama Kouyaté und Tijani Adigun Sitou.
Er kann es sich leisten: Auf der Tabelle, die die Schülereinkünfte aus dem Verkauf an Getty anzeigt, rangiert Kalapo mit einer vierstelligen Summe auf dem Spitzenplatz. Auch das ist Fortschritt: wenn eines der Agenturfotos, mit dem eine internationale Zeitschrift oder der Wirtschaftsteil einer deutschen Tageszeitung aufmacht, von einem malischen Fotoschüler stammt.
JONATHAN FISCHER
SZ vom 27.11.2018