Der Schamane: Lass dir von den Geistern helfen, wenn du nicht mehr weiter weißt. Der große Blues- und Rockkünstler Dr. John geht wieder auf Tournee – endlich

Als Dr. John Anfang April in New York sein neues Album vorstellte, machte er die Brooklyn Academy of Music zum Voodoo-Tempel. Mit Ketten aus Federn, Knochen und sonstigem Kram aus der Medizinmannkiste behangen, schlurfte der 71-Jährige auf die Bühne und ließ sich zwischen Totenschädel und Votivkerzen nieder, um, ansatzlos und nur von seiner Orgel begleitet, diesen unnachahmlichen Schmirgelgesang zu erheben. Da wusste man wieder, warum ein Kritiker sich einst an »einen riesigen Ochsenfrosch mit Mandelentzündung« erinnert gefühlt hatte.

»New Orleans«, sagt der Doktor heute, »ist voller Geister. Sie haben uns immer Kraft geschenkt, um zu überleben. Sie bedeuteten mir: Zeit für einen Richtungswechsel.« Auch im Gespräch rumpelt seine Stimme wie eine defekte Bassbox. Erst auf der Bühne aber jagt einem dieses autoritäre Knurren Schauer über den Rücken. Es muss damit zu tun haben, dass er zwischen düster-peitschenden Neukompositionen wieder die Songs seiner Anfangstage spielt: Mama Roux, Black John The Conqueror oder den Swamp-Blues-Klassiker Walk on Guilded Splitters.

Zeiten waren das, damals in den späten Sechzigern: In seinen Shows biss ein Chicken Man lebenden Hühnern den Kopf ab. Nackte Mädchen tanzten mit Schlangen. Das Debütalbum Gris Gris elektrisierte das Amerika der Hippie-Zeit, Mick Jagger, Van Morrison und James Taylor lagen dem Night Tripper zu Füßen. Doch Mitte der siebziger Jahre verließ Dr. John den Voodoo-Zirkus und rang mit seinen persönlichen Dämonen. Zwei Jahrzehnte lang setzten Heroin und Gefängnisaufenthalte dem Mann, der bürgerlich Malcolm Mac Rebennack heißt, auf allen Ebenen zu. Bis zum Entzug 1989: Seitdem gab er den honorigen Kulturbotschafter, spielte Tribut-Alben für Legenden wie Duke Ellington ein – und rollte auf altbekannten Gleisen dahin. Nun aber ist der Night Tripper zurück, wiederentdeckt von einer jungen Generation von Hipstern.

Es war der alte Dr. John, der Dan Auerbach, Kopf der Grammy-gekrönten Retro-Rockband The Black Keys und Produzent des neuem Albums, immer fasziniert hatte. »Warum sollten wir nicht wieder die Ahnen und Geister durch Dr. Johns Musik sprechen lassen? Die bewährten Zutaten mit dem Feingefühl des 21. Jahrhunderts neu aufkochen?« Mit Locked Down hat Dan Auerbach der Legende nicht nur das wagemutigste Album seit Jahrzehnten auf den Leib geschneidert, er verleiht dem Doktor vermittels einer jungen Band auch live eine unerhörte Intensität: »Dan«, sagt Dr. John, »hat mich gestoßen und gezerrt, bis alles anders klang.« Eklektische Zutaten von beiden Seiten des Atlantiks würzen den Gumbo: dunkel vibrierende Bläser und verspukte Chöre, verzerrte Gitarren und Second-Line-Funk, sumpfige Orgel und Afrobeats. Dan Auerbach wollte die Nachtseite, den Schamanen zum Klingen bringen. Und der Doktor spielte mit.

Auf den ersten Blick erinnert Locked Down an die vielen Versuche, amerikanische Klassiker neu zu beleben, allein: Dr. John war nie wirklich weg. Auerbach traf er erstmals beim Bonnaroo-Festival in New Orleans – und erkannte im Blueshipster aus Ohio eine verwandte Seele. Auerbach sei ein »Spieler derselben Tricknology«, wie Dr. John in seinem ureigenen Slang erklärt. »Wir suchen beide die Schleichpfade – und nicht den Highway. Wer das Alte liebt, muss gleichzeitig neu geboren werden.« Eine Disziplin, die Mac Rebennack beherrscht: Früh spielte er als Sessionmusiker – und wechselte, nachdem ihm bei einer Schlägerei der Daumen angeschossen wurde, von der Gitarre zum Klavier. Den Rest lernte er auf der Straße: als Zuhälter, Dealer, Handlanger illegaler Abtreibungspraxen. Stoff, aus dem er nach seinem Umzug nach Kalifornien die Figur des Night Tripper wob.

Dr. Johns Exzentrik, seine schlurfende Funkyness schienen mit der Blüte eines exotischen Feuchtgebiets des Rock‚n‚Roll im tiefsten Süden Amerikas zusammenzuhängen. Auch Locked Down ankert in New Orleans. Doch Dan Auerbachs junge Band blickt weit über die lokale Folklore hinaus. Sie adaptiert fiebernde Grooves von beiden Seiten des schwarzen Atlantiks. Eine Weiterführung der afrokaribischen Funk-Synthese, die Dr. John vor vier Jahrzehnten einfädelte und deretwegen heute Indierocker und Technoproduzenten nach Afrika pilgern. Neben Bläser-Arrangeur Leon Michels erwies sich vor allem Max Weissenfeldt, einst Schlagzeuger bei Embryo und den Münchner Poets of Rhythm, als Glücksgriff. »Dieser deutsche Drummer«, schwärmt Dr. John, »brachte die unglaublichsten afrikanischen Rhythmen an. Es war, als käme ich nach Hause.«

Wenn Dr. John, begleitet von den gospelnden McCrary Sisters, auf der Bühne den Trickster-Gott »Eleggua« anruft, dann ist es nur ein Riff vom Voodoo-Chant zur Funk-Hymne. Schon immer war seine Musik in der Lage, verschiedenste Einflüsse zu adaptieren. Nun erinnern die Live-Jams mit Dan Auerbachs Combo an einen Voodoo-Altar, auf dem Plastikspielzeug, Heiligenstatuen, Dolche und Zigarren sich gegenseitig mit Bedeutung aufladen. Vor diesem Hintergrund wirkt Dr. Johns Wut noch schärfer: Nach Katrina war er wie ein Rachegeist aus den Fluten aufgetaucht, hatte Alben wie City That Care Forgot eingespielt. Ein Thema, das seine Bühnenshow durchzieht: die Zerstörung von New Orleans.

Er wechselt zwischen aufmunterndem Jive und bösem Gesellschaftskommentar, und in seinen Songs mischen sich Durchhalteappelle und Verschwörungstheorien. Beim Doktor reimt sich KKK auf CIA, und wenn er – »the price of death is too low« – die Verantwortlichen für die Ölpest geißelt, ist er in seinem Element. Der späte Dr. John ist aber auch ein Volkspädagoge, der auf My Children My Angels die Kinderlein um Vergebung bittet. Nie den leichten Weg wählen, mahnt er, lieber »die Geister richten lassen, was wir selber nicht schaffen«. Dass in seinem spirituellen Einzugsgebiet alles zum Tanz wird, beweisen seine Auftritte schon jetzt.
JONATHAN FISCHER
Die Zeit, 26.4.2012

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