Helden in Übersee: Illegale Auswanderer, die Geld aus Europa in die Heimat schicken, gelten in Afrika als die wahren Sieger im Kampf ums Überleben. Rapper und Filmemacher versuchen, dieses Bild nun zu ändern

Ivo Samba schiebt bedächtig einen Stein über das Backgammon-Spielbrett. Mit einem Freund schlägt er so die Zeit tot – bis zur nächsten Ernte in Spanien sind es noch fünf Monate. „Früher bin ich zum Fischen aufs Meer hinausgefahren. Das reichte zum Leben.“ Aber seit die internationalen Fangflotten vor der Küste Senegals kreuzten, sei der Job sinnlos geworden.   

  Teegeschirr, ein Bett, eine Kleider-Kiste sind die einzigen Einrichtungsgegenstände in Ivos Hinterhofzimmer in Ngor, einem ehemaligen Fischerdorf im Norden der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Das Fauchen eines Düsenflugzeugs erinnert an den nahen Flughafen von Dakar. Am Strand schaukeln bunt bemalte Pirogen in der Dünung. Touristen schätzen diese Idylle. Doch für viele Senegalesen ist das kein Ort zum Leben.

  „Als ich hörte, dass in der nächsten Nacht ein Boot losfahren würde“, erzählt Ivo, „flehte meine Mutter mich an, da zu bleiben. Aber ist es nicht eine Schande, seiner Familie als Arbeitsloser auf der Tasche zu liegen?“ Ivo gab dem Schlepper 800 Euro, sein gesamtes Erspartes.

  Als er zehn Tage später von der spanischen Küstenwache vor Teneriffa aufgegriffen wurde, waren ein Dutzend seiner Mitreisenden auf der mit Motorschaden dahintreibenden Piroge verdurstet. Weil Ivo aber wie die allermeisten keine Papiere hatte, konnten ihn die spanischen Behörden nicht zurückschicken. Er wurde in einem Heim untergebracht, das er aber verlies. Er lebte von nun an als Clandestin , erntete auf spanischen Feldern Kartoffeln, Tomaten, Orangen.

  Viele seiner Nachbarn kennen dieses Leben. Mehr als 60 000 Senegalesen haben im letzten Jahrzehnt die Überfahrt gewagt. Und jeder Zehnte kam nicht lebend an. Sie sind Teil einer Wanderbewegung von Millionen Afrikanern Richtung Europa. Darunter Bürgerkriegsflüchtlinge aus Sudan, Somalia oder Nigeria, Hunderttausende junge Eritreer, die dem willkürlichen Militärdienst und der Folter in ihrem Heimatland entfliehen. Doch das erklärt nicht alles.

  Die Tradition der Migration in Westafrika etwa ist viel älter als die meisten der aktuellen Krisen. Junge Menschen, die eine Familie gründen wollen, ziehen traditionell in die Städte oder ins Ausland. Dorthin wo es Jobs gibt. Welche Eltern wollen ihre Tochter schon einem Bräutigam geben, der sich nicht mal eine eigene Wohnung leisten kann? Migration gilt als notwendiger Schritt ins Erwachsenenleben, als Autoritätsgewinn innerhalb der Familie.

  Zahlreiche Popsongs in Westafrika verherrlichen die Migranten als Helden. Für Stubenhocker dagegen haben etwa die Soninke in Mali eigene Spottwörter. Noch geächteter ist der glücklose Heimkehrer. Selbst wer in Handschellen ins Flugzeug geschleift wurde, kann kein Mitgefühl von der eigenen Familie erwarten und versteckt sich aus Scham oft weitab von seinem Dorf.

  Der Erfolg der Migranten aber ist gut sichtbar: Sie finanzieren den Bau von Häusern, Brunnen, Schulen und Moscheen in ihren Heimatorten. In Mali und Senegal übersteigen ihre Rücküberweisungen selbst die offizielle Entwicklungshilfe um ein Vielfaches. Viele der Afrikaner, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren emigrierten, haben inzwischen Unternehmen gegründet, in der Heimat reinvestiert. So wie Ousmane Koné. Der malische Selfmademan arbeitete 30 Jahre in der französischen Hotellerie, bevor er 2014 ein heruntergewirtschaftetes Hotel in Bamako übernahm und es mit traditionellen Strohdächern und Schnitzereien nach europäischem Touristen-Geschmack renovierte.   „Niemand von uns“, sagt Koné, „will länger als notwendig in Europa bleiben. Die Lebensqualität hier in Mali ist viel besser.“ Doch wegen der restriktiveren Visa-Politik trauten sich viele nicht zurück – wer weiß, ob sie jemals wieder einreisen dürften?

  Als Koné Anfang der Achtzigerjahre auswanderte, verlangte die ehemalige Kolonialmacht noch keine Visa, er musste sich lediglich im Hafen von Marseille registrieren lassen. Frankreich brauchte die westafrikanischen Gastarbeiter. Seit den Sechzigerjahren wurden sie intensiv angeworben. Besonders aus der malischen Region Kayes zogen ganze Jahrgänge nach Frankreich, um im Bau-, Restaurant- und Hotelgewerbe zu arbeiten. Sie wohnten nach Dörfern organisiert in Arbeiterheimen und planten stets die Rückkehr. Oft rückte dann der älteste Sohn auf Bettstelle und Arbeitsplatz des Vaters nach.

  Mehr noch als Senegal ist Mali ein Auswandererland. Vier Millionen Malier, ein Viertel der Bevölkerung, lebt im Ausland. Die meisten in afrikanischen Nachbarstaaten, etwa 100 000 in Frankreich. Bei der täglichen Ankunft der Air-France-Maschine in Bamako sieht man die Lohnarbeiter aus Europa stolz defilieren, vornehm gekleidet, beladen mit Geschenken, während nur ein paar Kilometer weiter im Staub der Busbahnhöfe Hunderte Jugendliche aus ganz Westafrika auf die Weiterfahrt nach Agadez und Tripolis warten, um dann von dort unter Lebensgefahr das Mittelmeer zu queren.

  Der stärkste Druck der Migration bleibt das starke Bevölkerungswachstum in Afrika. In Ländern wie Mali und Senegal stellen die Jugendlichen zwei Drittel der Bevölkerung. Die Kurve werde, so schätzt die Weltbank, erst im Jahr 2050 abflachen. Weil das Wirtschaftswachstum selbst ökonomisch starker Staaten wie Äthiopien, Ghana oder Nigeria nicht ausreiche, um genügend Arbeitsplätze zu schaffen, drohten größere gesellschaftliche Spannungen.

  Und nicht allein korrupte afrikanische Eliten dürfen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Auch der Westen trägt erhebliche Mitschuld an der Misere: Subventionierte Agrar-Überschüsse aus der EU und Amerika machen die heimische Landwirtschaft in Senegal und anderen afrikanischen Ländern vielerorts unrentabel. Global operierende Investoren pachten rücksichtslos die besten Böden des Landes, oder opfern – wie gerade im fruchtbaren Dreiländerdreieck Mali-Senegal-Guinea – Dutzende von Dörfern dem Tagebau.

  Die angestammte Bevölkerung kämpft oft vergebens um Entschädigung. „Was ist so verwunderlich daran“, sagt der senegalesische Rapper Awadi, „wenn die Menschen dorthin gehen, wohin die Ressourcen ihrer Länder wandern? Sie folgen nur dem Strom des Geldes.“ Auch Ivo Samba folgte ihm. Und den Auswanderer-Mythen. „Selbst wer in Europa Toiletten geputzt und unter Brücken geschlafen hat, gibt zu Hause den großen Geschäftsmann, geht in die Nachtklubs und posiert mit den schönen Mädchen.“

  Ivo hatte Glück. Nach fünf Jahren als Illegaler profitierte er von einer Amnestie. Nun hat er Papiere, kann im Sommer ganz offiziell auf die Salat-Felder von Murcia zurückkehren. Der Stundenlohn ist ein Witz. Immerhin produziert er billiges Gemüse für europäische Supermärkte und kann monatlich 150 Euro an seine Familie nach Hause schicken. Lieber hätte er in Europa eine Ausbildung gemacht, um mit seinem Beruf daheim etwas zu bewegen. Aber wer bekomme ohne Geld und Beziehungen schon ein Visa? „Sie mögen uns Muslime in Europa nicht mehr.“

  Einst träumte Ivo noch von eigenem Haus und Auto und folgte der Auswanderer-Parole „Barca wala Barsax“ (Barcelona oder Tod). Heute gibt er sich ernüchtert: „Europa ist tot.“ Das ist einer der Slogans einer erstarkenden Gegen-Bewegung zur illegalen Migration. In Senegal organisieren Rapper, Bürgerrechts-Aktivisten und Initiativen von Müttern und Ehefrauen verunglückter Bootsflüchtlinge Hip-Hop-Konzerte und Filmvorführungen, denn in einem Land mit 60 Prozent Analphabeten wirken Bilder und Chants nachhaltiger als Worte. Moussa Tourés Spielfilm „La Pirogue“ und „La Crie Du Mer“, eine Dokumentation der senegalesischen Filmemacherin Aicha Thiam, liefen mehrmals im senegalesischen Fernsehen und lösten eine breite Diskussion über die Wunden aus, die die Migration der Gesellschaft zufügt.

  „Die bestechlichen Eliten hier“, sagt Thiam, „sind doch froh, wenn die unzufriedenen Jugendlichen gehen. Wer migriert, der rebelliert nicht.“ Als Senegals früherer Präsident Wade 2012 verfassungswidrig ein drittes Mal kandidierte, kam es zu Straßenschlachten mit mehreren Toten – Jugendliche, die noch kurz davor keinen anderen Ausweg als den übers Meer kannten, skandierten „Y’en a marre“ ( Es reicht). Das wurde zum Namen einer Demokratie-Bewegung von unten, die auch nach der Abwahl von Wade als außerparlamentarische Opposition präsent bleibt.

  „Wir wollen nicht nur der Korruption und Misswirtschaft entgegentreten”, sagt der Rapper und Y’en-a-marre-Aktivist Ndjili Bagdad, „sondern selbst mit gutem Beispiel vorangehen.“ Eine Gruppe von Journalisten und Hip-Hop-Aktivisten hatte die Bewegung im Jahre 2011 ins Leben gerufen. Sie proklamierten einen neuen Typ des Senegalesen, den „Nouveau typ de Senegalais“ kurz NTS: Selbstkritisch, selbstverantwortlich, standhaft im Einfordern politischer Versprechen.

  Nicht zufällig stehen Rapper wie Bagdad beim Ringen um Demokratie an vorderster Linie: „Mit unserer Hilfe erreichte die Botschaft von Y’en a marre das ganze Land. Nun haben die Politiker Angst vor Y’en a marre. Sie sind es gewohnt Geld zu geben, damit jemand die Klappe hält. Aber wir halten die Klappe nicht.“

  Tatsächlich gilt Dakar mit seinen über 1200 Crews als afrikanische Hauptstadt des Hip-Hop: Rapper haben eigene Radio- und Fernsehsendungen und organisieren immer wieder Straßenproteste. Die psychologische Wirkung ist enorm: In Senegal hat sich der Strom der Pirogen Richtung Norden seit der Gründung von Y’en a marre 2011 um gut die Hälfte reduziert.

  „Wenn man den Jungen Hoffnung gibt“, sagt Polit-Rapper und Y’en-a-marre-Sympathisant Matador, „dann brauchen sie nicht zu emigrieren. Wir haben eine reiche Kultur, die wir professionell für uns nützen können. Wir haben Flüsse und fruchtbare Erde: Warum bauen wir nicht unser Grundnahrungsmittel, den Reis, selbst an, anstatt ihn aus Asien zu importieren? Um die Emigration zu stoppen, brauchen wir ein patriotisches Konzept: Lasst uns konsumieren, was wir selber anbauen – und produzieren, was wir selbst konsumieren.“ Man müsse die Minderwertigkeitsmentalität der Afrikaner ändern.

  Längst strahlt Y’en a marre weit über Senegal hinaus. In Mali haben Rapper und Studenten die Graswurzel-Bewegung „Les Sofas de la Republique“ gegründet, mobilisierten Jugendliche in Burkina Faso nach senegalesischem Vorbild die Straße.

  In Senegal aber wird die Piroge gerade als Symbol umgedeutet: „Hip-Hop-Pirogen gegen die heimliche Migration“. So nannte sich eine Tournee einige der bekanntesten Rapper des Landes. Man gehe so als Vorbild voran, sagt Hip-Hop-Star Matador. Denn die Rapper hätten sich bewusst entschieden, zu bleiben: „Bisher hatten die Jugendlichen vor Ort nur drei Wahlmöglichkeiten: entweder ihr Leben auf dem Meer zu riskieren, ein religiöser Talibe zu werden oder ein Krimineller. Wir zeigen ihnen einen vierten Weg.“

JONATHAN FISCHER

SZ 4.3.2015

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