Hilflos. So kommt sich Julian jedes Mal vor, wenn sein Mitschüler Max mal wieder vor der versammelten fünften Klasse eines Münchner Gymnasiums einen neuen Spitznamen skandiert, den er sich für sein Opfer ausgedacht hat. Oder ein kleines fäkalisches Schmähgedicht. Oder ganz einfach: „Julian, den man so leicht ärgern kann“. Das trifft den körperlich robusten, aber sensiblen Jungen: Er geht dann schnell hoch, wird wütend, nimmt sich jedes Wort zu Herzen. Täter reizt so etwas.
Im Kindergarten nahm Julian Herausforderer noch in den Schwitzkasten. Das war einerseits effektiv. Andererseits wurde er dafür von den Erzieherinnen geschimpft: „Kannst du nicht reden?“ Nein, wenn Julian verbal angegriffen wird, bleiben ihm die Worte im Hals stecken. Nicht aus sprachlichem Unvermögen. Sondern weil er unvorbereitet ist, ohne seelische Panzerung, und die geballte Feindseligkeit tief in ihn eindringt. „Wieso hat jemand Spaß daran, einen anderen niederzumachen?“, fragt Julian, der eigentlich anders heißt. Zum Schutz der Kinder sind alle Namen im Text geändert. Er kann dann höchstens heulen – und bietet so noch mehr Angriffsfläche. Und weil er das mit dem Nicht-Schlagen irgendwann verinnerlicht hat, schließt er die Kränkung ein, um erst zu Hause seiner Wut freien Lauf zu lassen.
Auf der Klassenfahrt eskaliert die Situation: Max, der Mitschüler, unterhält die Zimmergenossen mit Witzen auf Julians Kosten. Viele lachen. Und die, die nicht lachen, wagen es nicht, dem Angreifer in die Parade zu fahren. „Bitte holt mich nach Hause“, bettelt Julian, als er seine Eltern anruft. Die Lehrer wissen zwar von der Mobbing-Vorgeschichte. Aber Kinder hänseln sich nun mal, oder? „Das pegelt sich schon wieder ein“, sagt die Lehrerin. Julians Vater findet dieses Wegschauen fatal. Seinen Sohn aber will er trotzdem nicht abholen. Sonst lerne er, sich in einer schwierigen Situation zu verkriechen. Wie soll er mit so einer Strategie durchs Leben kommen?
Also gibt der Vater seinem weinenden Sohn eine Absolution: „Nimm den Typ, der dich ärgert, in den Schwitzkasten“, „Gib ihm eine Faust mit“, „Tritt ihn in den Allerwertesten“ – als Notbremse gegen einen unablässig mobbenden Klassenkameraden, als effektives Stoppschild. Er, der Vater, würde die Verantwortung dafür übernehmen – auch vor der Schule.
Mobbing-Opfer fantasieren genau davon: sich einmal Respekt zu verschaffen. Mit Worten. Und, wenn das nicht klappt, eben mit Taten. Youtube-Filme zurückschlagender Mobbing-Opfer sind im Netz so erfolgreich wie Pophits. Etwa der Clip, in dem Casey Haynes, ein 15-jähriger dicklicher Australier, der schon jahrelang gehänselt wurde, einen ihn anpöbelnden Schulkameraden schließlich einfach schultert und auf den Boden wirft. Er wird daraufhin in Ruhe gelassen. Und zum Internet-Helden.
Im richtigen Leben aber heißt es: „Ihr könnt doch miteinander reden.“ Dieses Mantra begleitet heute Kinder vom Kindergarten an. Weil sie in Kindergarten und Grundschule vor allem von Frauen betreut und unterrichtet werden, kommen typisch männliche Strategien, sich auch mal unter Körpereinsatz zu wehren, schnell in Verruf. Bestenfalls in Comics und Western feiern wir noch einsame Helden, die sich von Opfern zu Rächern aufschwingen und ihre Peiniger außer Gefecht setzen. Im normalen Miteinander gilt Schlagen und Treten als Zeichen von Ungebildetheit, als Überrest menschlichen Barbarismus. „Du darfst nicht hauen!“, „Geh sofort hin und entschuldige dich!“, mahnen Eltern und Erzieher.
Oft aber hindern genau solche Sätze ein gemobbtes Kind daran, sich seinen Peinigern entgegenzustellen. Denn die suchen sich mit Vorliebe sprachlich Unterlegene, Stammelnde, Stumme. Nur so erreichen die Mobber – oft Kinder, die selbst daheim Demütigungen erlebt und erlernt haben – ihr Ziel: sich an der Hilflosigkeit ihres Opfers zu weiden.
Also doch mal zurückhauen? Dem Kind beibringen, wie man gegen das Schienbein tritt, damit es wehtut? Solche elterlichen Erziehungsmethoden sind natürlich riskant: „Kontraproduktiv“ würden die meisten Lehrer urteilen, die Schulordnung steht sowieso dagegen, und Erziehungsratgeber betonen, dass man seinen Kindern ein gewaltfreies Vorbild sein soll. „Sprechen Sie mit dem Klassen- oder Vertrauenslehrer“, heißt es etwa in einem Mobbing-Tutorial eines Online-Magazins für Eltern. „Finden Sie dort kein Gehör, sollten Sie nicht zögern, sich ans zuständige Schulamt oder an den schulpsychologischen Dienst zu wenden.“
Aber was ist, wenn die Erwachsenen die Kindernot nicht ernst nehmen, oder sie kein Mittel finden, um die Mobber in die Schranken zu weisen?
Anti-Gewalt-Trainer dürfen Mobbing-Opfern nicht raten, selbst zuzuschlagen, schon weil das – bis auf die Notwehr – nicht legal ist. Dennoch ist nichts wichtiger, als aus der passiven Rolle herauszukommen. Allein das Signalisieren von Gegenwehr, die Bereitschaft, dem Bully entgegenzutreten, verändert die Situation oft entscheidend: „Der Täter soll wissen, dass er einen Preis dafür zahlt, wenn er mit dem Opfer spielt“, schreibt der Erziehungswissenschaftler Jens Weidner, einer der führenden deutschen Fachleute in der Entwicklung von Anti-Aggressions-Programmen. Das bedeutet nicht, dass das Opfer selbst zum Schläger wird. Es bedeutet aber eben doch, dass es sich zu wehren weiß.
Sich wehren lernen Kinder zum Beispiel bei Ali Cukur. Der Anti-Gewalt- und Box-Trainer betreut im Auftrag des Jugendamts München Kinder, deren Eltern keinen anderen Rat wussten, als sie die Schule wechseln zu lassen, weil sie als angebliche Streber gemobbt oder für ihr Aussehen gehänselt wurden, vor allem aber, weil sie sich nicht wehren konnten. Es trifft viele: Fast jeder zehnte 15-Jährige in Deutschland beklagt, immer wieder Ziel von Spott und Lästereien zu sein. Das ergab eine 2017 veröffentlichte Sonderauswertung der Pisa-Studie.
Kinder wie der 14-jährige Juan. Der Schlaks mit den Hängeschultern schaut im Gespräch stets zu Boden. „Ich bin zu schwach“, sagt er oft. Oder: „Das kann ich nicht.“ Juan bekommt wegen seines Aussehens – seine Mutter ist Philippinerin – von den Mitschülern Kommentare wie „Schlitzauge“ oder „Versager“ zu hören. Und so fühlt er sich auch: wertlos, hoffnungslos, nirgends dazugehörig. Erst Juans Morddrohungen gegen seine Peiniger hatten die Schule zum Handeln gebracht. Jetzt nimmt ihn Cukur zweimal die Woche zum Boxen mit. „Wenn er sich sicherer in seinem Körper fühlt“, sagt er, „dann kommt Juan auch wieder auf Augenhöhe mit seinen Mitschülern.“ Juan schlägt – noch etwas halbherzig – gegen den Boxsack. „Du hast es selbst in der Hand“, spornt ihn der Trainer an. „Wenn du daran arbeitest, kannst du es schaffen.“ Was Juan gefällt: Die Sportler-Kameradschaft. Und dass es Regeln gibt. „Wenn es fair zugeht, dann ist es nicht so schlimm, einzustecken.“
Boxen gegen die Peiniger seiner Kindheit: So geht auch die Geschichte des späteren Schwergewichts-Champions Mike Tyson. Der kleine Mike wurde nämlich erst zum Faustkämpfer, als er das Mobbing nicht mehr ertrug: Als ziemlich uncooles dickliches Kind ohne Freunde musste der spätere Box-Weltmeister ständig Hänseleien zu seinem Aussehen ertragen. Aber erst als ein älterer Jugendlicher einer von seinen geliebten Tauben – Mike züchtete sie auf einem Dach in Brooklyn – vor seinen Augen das Genick brach, ermutigten ihn Zuschauer, sich doch bitte endlich zu wehren. Was Mike dann tat. Mit einem gewaltigen Feuerball im Bauch und Fäusten, von deren Durchschlagskraft er vorher noch nichts ahnte.
Für Mobbing-Opfer Juan ist das eine Mutmach-Geschichte. Als der Junge zwei Jahre später entlassen wird, ist aus ihm trotzdem kein Wettkampf-Boxer geworden. Aber einer, der sich ganz passabel mit seinen Fäusten wehren könnte. Falls das überhaupt nötig ist. „Juan hat vor allem eine innere Entwicklung durchgemacht“, sagt Cukur. Sieht Juan das auch so? „Ich stehe jetzt drüber“, sagt er und schaut seinem Gegenüber in die Augen. Seine Haltung drückt ein neues Selbstbewusstsein aus: „Wenn jemand mich auslachen will, lache ich noch lauter zurück.“ Wichtiger noch: Juan hat endlich Freunde gefunden. Offensichtlich wurde der einstige „Versager“ in dem Moment interessant, in dem er anfing, an sich selbst zu glauben.
Und Julian? Hat er Max, seinem Peiniger im Schullandheim, mit väterlicher Erlaubnis eine reingehauen? „Nein“, sagt Julian rückblickend. „Ich hatte nach dem Gespräch gar nicht mehr das Bedürfnis.“ Die Rückendeckung, den Konflikt notfalls mit einer kleinen Rauferei lösen zu dürfen, habe gereicht: „Ich wusste, ich darf mich wehren – und habe ihn fortan ignoriert.“
Bleibt die Frage, wo Gewalt eigentlich anfängt. Und ob das Tabu, sich körperlich zur Wehr zu setzen, nicht eigentlich nur psychologisch raffinierteren Varianten die Tür öffnet. Jeder weiß, dass ein Schimpfwort, ein Witz auf Kosten eines Schwächeren, ein hämisches Lachen viel schmerzhafter sein können als jede Faust.
Was kann die Schule also tun? Grenzen ziehen, sagt Erziehungswissenschaftler Weidner: Schon im Kleinen eingreifen, um es gar nicht zu größeren Aggressionen kommen zu lassen. Das mag anstrengend sein. Und es verlangt hohes soziales Engagement. Julian, Moritz und Juan jedenfalls hätten sich klare Regeln gewünscht – statt halbherziger Beschwichtigungen. „Am einsamsten habe ich mich gefühlt“, erinnert sich Julian, „als der Lehrer sagte, wir sollen uns einfach die Hand geben und gut.“
JONATHAN FISCHER
SZ 12.1.2019