Matador, der Rapper, schiebt seine Chicago-Bulls-Mütze noch etwas tiefer in die Stirn. Hinter ihm erhebt sich die Hochhaus-Skyline von Dakar, vor ihm stehen die Mauern eines alten Sklavenforts. Gorée, die Sklaveninsel drei Kilometer vor der senegalesischen Küste, leuchtet in warmen Erdfarben – eine Einladung, trotz ihrer schrecklichen Geschichte: „Diese Insel hier ist uns ein heiliger Ort“, sagt Matador. „Gorée ist für alle Senegalesen ein Mahnmal: für die vielen, die von hier aus in die Zwangsarbeit und oft genug in den Tod geschickt wurden. Und auch für jene, die ihnen heute folgen.“ Der Rapper meint die Jugendlichen, die auf Fischerbooten den Atlantik überqueren, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. „Heute werden die jungen Senegalesen nicht mit Peitschen aufs Meer getrieben. Es ist die wirtschaftliche Not, die sie hinaustreibt“, ergänzt sein Rapper-Kollege PPS The Writah. Der hochgewachsene junge Mann mit den Rastalocken hatte früher, als er noch Französischlehrer war, einmal im Jahr seine Schüler auf die Sklaveninsel gebracht: „Auf diesem Boden spürt man bis heute, wie Geschichte in die Gegenwart wirkt.“
Zwanzig Minuten dauert die Überfahrt von Dakar zur Insel Gorée. Gefühlt aber beträgt die Zeitreise mindestens hundert Jahre. Hier gibt es keine Autos. Besucher flanieren auf Sandwegen zwischen Kolonialbauten mit blauen und grünen Fensterläden, vorbei an lila blühenden Jacaranda-Sträuchern und Pirogen, den bemalten Holzbooten der Fischer. Geschäftstüchtige Verkäufer warten mit ihren Bratfischen und Mangos auf Touristen und Schulklassen. Eine Idylle. Einst aber verschifften die Kolonialmächte von hier aus Afrikaner in die Neue Welt. Die Maison des Esclaves, das Haus der Sklaven, liegt gleich am Hafen. Aus einem düsteren Raum führt eine Rampe auf den Atlantik hinaus. Pforte ohne Wiederkehr hat man sie genannt. Mitte des 19. Jahrhunderts ging der letzte Gefangene hindurch. „Ohne die Sklaven, die von hier aus in die Karibik und nach Nordamerika verschifft wurden“, sagt PPS The Writah, „gäbe es uns und unsere heutige Kultur nicht.“ Das Hip-Hop-Lebensgefühl der senegalesischen Jugendlichen, sagt er, sei geschichtlich begründet: „Wir haben es von den schwarzen Amerikanern übernommen, aber sind deren Vorfahren nicht einst von unsere Küsten aufgebrochen?“
Dakar wirkt wie ein großer Import-Export-Laden. Wer durch die Hafenstadt fährt, sieht an allen Straßenecken Graffiti. Immer öfter behandeln sie das Thema Migration: „Die Zukunft liegt daheim!“, ist eine der Parolen. Das ist neu. Gehören doch viele der besseren Restaurants, Computerläden und Designer-Geschäfte Rückkehrern, die ihr im Westen erworbenes Vermögen und Know-how ins Land tragen. Nun aber gibt es eine Gegenbewegung: Bleibt hier, steckt eure Energie in euer Land, ruft sie den jungen Senegalesen zu.
Und diese Energie, sie ist fast körperlich spürbar in Dakar. Keine andere westafrikanische Metropole ist ähnlich polyglott. In der Hafenstadt hat die Verbindung von afrikanisch-islamischer Tradition, westlichen Einflüssen und der Zukunftswut der Jugend die wohl vitalste Hip-Hop-Szene weltweit entstehen lassen. „Wir haben hier rund 3000 Hip-Hop-Bands auf eine Million Einwohner. Wo sonst findet man diese Rapper-Dichte?“, schwärmt PPS, der davon überzeugt ist, dass der Hip-Hop sogar in der Region entstanden ist. „Seit Jahrhunderten messen sich die Menschen hier in traditionellen Sprechgesängen. Wir nennen sie Tassu.“ Ob das nun historisch zu belegen ist oder nicht: Dakar vibriert vor Musik.
Bleibt nur die Schwierigkeit, in dieser von informellen Konzerten und Hinterhof-Jams geprägten Stadt als Tourist die richtigen Clubs zu finden. Denn das Nachtleben Dakars kann enorm verwirrend sein. Und teuer. Wer etwa den Werbetafeln und Hotelprospekten vertraut, der landet ziemlich sicher in den großen Diskotheken und Nightclubs, die den Airport Highway im Norden der Stadt säumen. Die Drinks kosten hier mehr als der Tagesverdienst der meisten Senegalesen. Und die Kleiderordnung ist gediegen. Gegen die Einheimischen in ihren Anzügen, traditionellen Boubous und polierten Lederschuhen wirken die paar Jeans-Touristen jedenfalls wie stillose Eindringlinge. Und dann erst die senegalesischen Frauen: goldbehangen, in engen Tops und High Heels, eine Inszenierung wie aus einem Hip-Hop-Video. Musik scheint da nur Nebensache zu sein. Die DJs mischen westlichen Rhythm ’n’ Blues mit heimischem Rap-Verschnitt. Und wenn um zwei Uhr nachts ein junger Sänger mit Anzug und Fliege die Bühne betritt, dann sind süßliche Schmachtgesänge angesagt: Mbalax-Pop. Gebrauchsmusik zum Sich-Näherkommen. „Nein“, sagt Matador, „wir jungen Senegalesen können uns diese Orte nicht leisten. Aber komm doch morgen ins Institut Français.“
Das französische Kulturinstitut liegt inmitten des geschäftigen Hotel- und Boutiquenviertels Plateau im Süden der Stadt. Eine hohe Mauer umgibt den ganzen Block. Vor den verwitternden Graffiti haben Straßenhändler gebrauchte Schuhe aufgereiht, aus Garküchen duftet es nach gebratenen Fleischspießen. Wer die Taschenkontrollen und Metalldetektoren am Eingang passiert hat, betritt eine grüne Oase. Palmen und Mangobäume beschatten den Innenhof. Unter einem weitläufigen Schilfdach servieren uniformierte Kellner senegalesische Küche und besten Café crème. Hier treffen sich Studenten, Künstler und Intellektuelle nach Filmvorführungen, Tanz- und Diskussionsabenden. Nebenan bietet ein CD-Händler historische Aufnahmen und die aktuellen Produktionen von Dakars Hip-Hop-Stars an. Die meisten von ihnen sind hier schon aufgetreten. Denn wenn die widerspenstigen Rapper auch kaum die kommerziellen Bühnen der Stadt bespielen – im Institut Français präsentiert man sie stolz als Teil einer großen frankophonen Musikwelt.
Das Amphitheater im Garten des Institut Français ist heute gut gefüllt. Jungs mit Baseball-Käppis und junge Frauen, die geradewegs vom Laufsteg einer der Modemessen Dakars zu kommen scheinen, drängen sich auf den Stufen – und feuern ihre jeweiligen Hip-Hop-Crews mit Sprechchören an. „Notre jeune guerrier Hip-Hop“ verkündet der Conférencier, „Maaaatador!“ Wie ein Gummiball springt der Rapper über die Bühne, seine Wolof-Raps sind an den Präsidenten gerichtet: „Du genießt die Macht, weil du nicht für dein Wasser und deinen Strom zahlst, dein Telefon, deine Villa und dein Auto mit Chauffeur. Du nimmst dir Urlaub und reist in fremde Länder. Aber wer zahlt dir diesen Luxus? Wir, das Volk!“ Die Zuhörer singen mit. Wort für Wort. Dass die korrupten Politiker sich nicht um sie scheren, nicht die im Wahlkampf versprochenen Jobs schaffen, der eigene Verdienst nicht mal dafür reicht, eine Familie zu gründen – all das macht die Jugendlichen in Dakar wütend.
„Wir Rapper bringen die wahren Probleme der Gesellschaft zur Sprache“, wird Matador, der mit bürgerlichem Namen Babacar Diagne heißt, später erklären. Die Arbeitslosigkeit liegt in Senegal bei 48 Prozent. Und das bei einer Bevölkerung, die zur Hälfte unter 18 Jahre alt ist. „Einerseits machen die internationalen Fangflotten vor der westafrikanischen Küste die traditionelle Fischerei kaputt, andererseits schafft der Staat keine Alternativen. Deshalb flüchten jedes Jahr Zehntausende Jugendliche über das Meer.“ Matador selbst leitet eine Hip-Hop-Akademie im Norden Dakars, wo senegalesische Jugendliche unter professioneller Anleitung den Beruf des DJs, Event-Managers, Musikproduzenten oder Grafikdesigners erlernen können. Er hat sie selbst gegründet, die Finanzierung über ausländische Kulturinstitute gesichert. Sein Kollege Paul Pissety alias PPS dagegen betreibt ein Studio in seinem Viertel Parcelles. Er hat Literatur studiert. „Aber mit der Förderung von örtlichen Rappern kann ich mehr für mein Land tun“, sagt Paul Pissety. Viele Senegalesen, davon ist er überzeugt, könnten mit kreativen Ideen in der Heimat erfolgreich sein – wenn sie nur eine Chance bekämen. Die Rohstoffe seien doch im Land vorhanden. Und die Energie sei erst recht da.
Wer abends über die Corniche fährt, kann diese Energie sehen: Überall entlang der Küstenstraße gibt es sprintende, seilspringende, Gewicht hebende junge Männer. Am Strand stehen sie sandverschmiert, wälzen sich am Boden. „Viele junge Senegalesen träumen von einer Karriere als Ringer“, erklärt PPS. „Sie können sich keinen schnelleren Ausweg aus der Armut vorstellen.“ La lutte, wie der Ringkampf hier heißt, ist Nationalsport. Er füllt die größten Stadien der Stadt. Die besten Ringer, oft Analphabeten ohne Schulbildung, verdienen bis zu zehntausend Euro pro Kampf. Grund genug für viele Jungs, deren Namen und Köpfe auf Hausmauern zu verewigen – und ihnen nachzueifern.
Die anderen großen Helden des Landes, das sind Sänger wie Cheikh Lô und Baaba Maal und Rapper wie Didier Awadi, Simon Bisbiclan und Keur Gui. Im Gegensatz zu den Ringern kennt man die Musiker weltweit. Wer einen ihrer Auftritte vor heimischem Publikum erleben will, nimmt in Dakar am besten ein Taxi zum „Just 4 You“. So heißt die langlebigste und beste Live-Bühne Dakars. Heute warten alle auf Carlou D, einen Schlaks mit Dreadlocks, der mit umgehängter Gitarre auf die Bühne springt. Sein melismatischer Gesang schneidet durch das Zelt, schnell füllt sich die Tanzfläche. Dass der Mann die Ausstrahlung eines Erweckungspredigers hat, liegt nicht nur an seinem weißen Umhang, den Sandalen und der roten Wollmütze. Sondern auch an seiner tiefen Verwurzelung im Sufismus. In den Neunzigerjahren rappte Carlou D mit der politischen Hip-Hop-Band Positive Black Soul. Später wandte er sich der sufistischen Bruderschaft der Muriden zu, der auch sein Kumpel Cheikh Lô und Mentor Youssou N’dour angehören.
Feierlich kündigt er einen Song an, das Lied ist nach der Insel benannt: Gorée. „Ihr Vorfahren, was habt ihr uns angetan, die eigenen Brüder an die Sklavenhändler zu verkaufen?“, so heißt es in einer Textzeile. Es ist ein gesungenes Gebet, das mit einer hoffnungsvollen Botschaft schließt: „Ich glaube, dass wir Senegalesen unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen müssen.“ Da ballen selbst Matador und PPS eine Hip-Hop-Faust.
JONATHAN FISCHER
SZ 29.10.2015