Die Tänzerin, Choreografin und Produzentin Mamela Nyamza sprengt die Erwartungen an den klassischen Bühnentanz. Sie wurde in Kapstadt geboren, durchlief eine klassische Tanzausbildung und tanzte in Musicals. Nyamza versteht sich auch als politische Aktivistin und engagiert sich in den Bereichen Sozialarbeit, Tanz- und Bewegungstherapie. Sie studierte in Pretoria und an der Alvin Ailey School in New York. Mit zutiefst biografischen Stücken wie „Hatchet“, „Shift“ und „Isingqala“ erreichte sie ein internationales Publikum. Jetzt ist sie im Münchner Gasteig zu sehen.
SZ: Frau Nyamza, was bedeutet der Titel Ihres neuen Stückes „Wena Mamela“?
Mamela Nyamza: Das ist aus meiner Muttersprache Xhosa. „Wena“ heißt „Du“ und mein Vorname „Mamela“ „Zuhören“. Also: „Du, hör mal zu!“ Ich erforsche darin meine Kindheit. Die Zeit, als ich mangels Tutu im Badeanzug zum Ballettunterricht auflief. Eine weiße Ballettlehrerin kam jede Woche in unsere Township Gugulethu und übte mit uns Mädchen in einem Kirchenraum, wo wir fahrbare Spiegel aufstellten und die Stühle als Barren benutzten.
Was zog Sie, ein achtjähriges Mädchen aus einem der ärmsten Vororte von Kapstadt, zum Ballett mit all seiner europäischen Strenge?
Zuerst schockierte mich diese leise, unrhythmische Musik – das war so anders als die Tänze, die wir am Wochenende aufführten. Trotzdem wollten viele Mädchen mitmachen: In den Achtzigerjahren kannten wir in den Townships kaum weiße Leute – und wir waren sehr neugierig. Alles, was sie machten, galt als cool, und wir Ballerinas betrachteten uns als die coolen Kids.
Obwohl es gleichzeitig zu Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei des Apartheid-Regimes kam?
Das eine schloss das andere nicht aus. Wir alle kämpften auf unsere Weise. Aber während draußen die Steine und Brandsätze flogen, übten wir in unserer Kirche Pirouetten. Manchmal konnte unsere Lehrerin wegen der Unruhen nicht kommen. Heute sehe ich, wie viele Risiken sie für uns auf sich nahm und wie viel Liebe in ihrer Arbeit steckte. Dieser optimistische Drive fehlt uns heute in Südafrika. Alles dreht sich nur noch um Geld . . .
So wie an den südafrikanischen Universitäten, die gerade wegen einer geplanten Erhöhung der Studiengebühren gewaltige Studentenproteste erleben?
Zu Recht! Meine Eltern hätten sich keine Studiengebühren für mich leisten können. Wie sollen die Familien heute ein Vielfaches davon aufbringen? Die Regierung wiederholt, was das weiße Apartheid-Regime bereits 1976 versuchte: Die Armen von der Bildung auszuschließen. Das kann sich eine verwundete Nation wie Südafrika nicht leisten. Ich hatte 1994, in dem Jahr, als Mandela Präsident wurde, an derselben Universität in Pretoria Tanz studiert, von der heute die Studentenproteste ausgehen. Ich war das einzige schwarze Mädchen in der Ballettklasse, und wir bekamen jede Menge Förderung: Alle redeten von uns als der Zukunft unseres Landes. Zwanzig Jahre später müssen die Nachgeborenen aufs Neue für ihre Rechte kämpfen.
Sie hatten also das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein: Als erste schwarze Ballerina Südafrikas . . .
Ja, mit dem Erfolg begann ich allmählich auch, mich meiner Wurzeln zu vergewissern. Irgendwann während meines Studiums in New York habe ich mich so gefragt: Bin ich eigentlich noch ich selbst? Warum kann ich meinen Tanz nicht nutzen, um darüber zu sprechen, was in Südafrika passiert? In „Wena Mamela“ tue ich genau das: mit zärtlichen bis derben Xhosa-Rufen (macht Schnalz- und Klick-Laute), die ich daheim von meiner Großmutter gehört habe. Es heißt, ich würde das Ballett dekonstruieren. Dabei dekonstruiere ich vor allem mich selbst.
Wie meinen Sie das?
Meinem Körper wurde beigebracht, etwas auf eine bestimmte Weise zu tun. Aber ich sage mir: Nein, ich werde es auf meine Weise tun. Es geht um den Körper einer afrikanischen Frau in der westlichen Welt. Einer Frau, die sich als lesbisch geoutet hat. In meinem letzten Stück „The Last Attitude“ habe ich klassisches Ballett getanzt – mit einer schwarzen südafrikanischen Kollegin übernahm ich die Männerrollen, weiße Tänzerinnen in Tutus tanzten den Frauenpart.
Sie haben mit Stücken wie „Switch“ oder „I Stand Corrected“ Gewalt gegen Lesben zum Thema gemacht. Wie reagiert das südafrikanische Publikum darauf?
Vielen Südafrikanern war überhaupt nicht bewusst, dass in den Townships immer noch Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung rituell vergewaltigt und ermordet werden. Da habe ich eine Debatte provoziert. Unsere Verfassung schützt vorbildlich die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare, aber das Alltagsleben richtet sich nicht danach. Oft ist das Wissen um solche Rechte auch noch gar nicht auf dem Land angekommen. Zumindest formieren sich gerade überall in den Städten Südafrikas „Gay Pride“-Paraden. Wir sind sichtbarer als je zuvor. Und es wird über die Homophobie in unserer Gesellschaft berichtet. Das ist ein Fortschritt.
Verstehen die Europäer die gesellschaftlichen und politischen Anspielungen in Ihren Stücken?
In Europa wurde mir schon vorgeworfen, das Ballett zu verhunzen. Das macht mich traurig. Und wirft die Frage auf: Werde ich als Künstler überhaupt ernst genommen? Oder hätte man lieber einen Exoten, ein afrikanisches Mädchen, das gekommen ist, um zu unterhalten? Als Kind habe ich das Ballett gebraucht, um über die Ermordung meiner Mutter hinwegzukommen. Es war mein Beruhigungsmittel. Heute aber will ich beunruhigen. Ich mache die biografische Kiste auf, und tanze die Geschichten, die mich damals wie heute ängstigen.
INTERVIEW: JONATHAN FISCHER