Seid ihr bereit für den König des Southern Soul?“ Ein Mann in weißem Anzug betritt die Bühne und lässt die ersten Falsetttöne durch die Basketballhalle der Lakefront Arena in New Orleans wehen. Tausende Zuschauer springen von den Sitzen. Es sind kaum weiße Gesichter darunter. Frauen in lachs- oder fliederfarbenen Kostümen wedeln ihre Fächer. Junge Männer mit Hip-Hop-Käppis schnippen zum Takt. Vor der Bühne kreischen ein paar Teenie-Mädchen. Selbst der ein oder andere Ordner wiegt das überbreite Kreuz im Rhythmus und bewegt die Lippen zum Refrain: „You’re not the father of the child, she told me . . .“ (Sie hat mir erzählt, dass du nicht der Vater des Kindes bist . . .) Es ist eine Euphorie in der Halle wie sonst nur, wenn die New Orleans Saints, die lokale Football-Mannschaft, gewinnen. Sir Charles Jones heißt der Mann auf der Bühne, und ein Auftritt von ihm bedeutet Gottesdienst, Party und schlüpfrige Beichte in einem. Ein unwahrscheinliches musikalisches Gumbo – nach einem Rezept, dessen Zutaten nur im schwarzen Süden Amerikas gedeihen.
Sir Charles Jones verpanscht in seiner Musik den Beat des Hip-Hop, die Sentimentalität des Country und die Zotigkeit schwarzer Comedians. Mit Songs wie „Friday“ oder „Just Can’t Let Go“ sammelt der 42-jährige Sänger regelmäßig ein paar Millionen Youtube-Klicks und zieht südlich der Mason-Dixon-Linie, die historisch die Nord- von den Südstaaten trennt, mehr Zuhörer als jeder international renommierte R ’n’ B-Act. Die lokalen Blues-Sender spielen seine Musik, neben Hits wie Peggy Scott-Adams’ „Bill“ – der Ehemann verlässt seine Frau für seinen Angelfreund Bill – oder Big Cynthias gesungener Orgasmus-Lektion „Don’t Rock The Boat“. Dennoch operiert die Szene komplett unter dem Radar des Mainstreams.
Das mag daran liegen, dass der heutige Southern Soul von keinen großen Plattenfirmen mehr verlegt wird und seine Stars nur im Chitlin’ Circuit auftreten – so werden die Musiktheater genannt, die während der Rassentrennung afroamerikanischen Bühnenkünstlern Auftritte gewährten. Oft erfährt man nur über die regenbogenfarbenen Pappen in den schwarzen Vierteln von einem Konzert. Andererseits will der „Blues“, wie dieser meist billigst produzierte Keyboard-Soul hier genannt wird, auch gar niemanden missionieren. Er blüht in seiner eigenen, autarken Welt.
Die Musik von Sir Charles Jones, und auch die von Mel Waiters, Floyd Taylor, Big Cynthia oder Mr. David, wird von regionalen Kleinlabels veröffentlicht. Ihre Alben verkaufen auch ohne jede Werbung bis zu hunderttausend Kopien. Bei ihnen geht es um viel mehr als eingängige Mitsing-Nummern: Wie keine andere Musik verkörpert der Southern Soul die Psyche des schwarzen amerikanischen Südens – zwischen Jesus und Stagger Lee, dem in die Blues-Legenden eingegangenen schwarzen Zuhälter und Mörder, zwischen Tränen und Sex. Vor allem aber schafft der Southern Soul Identität und richtet sich damit an diejenigen, die von David Simon, Autor und Produzent der Fernsehserien „The Wire“ und „Treme“, einmal als die „Abgehängten des amerikanischen Traums“ bezeichnet wurden. Sie leben in New Orleans, in Ferguson, in den Ghettos von Dallas und in Jackson, Mississippi – und sie finden sich im Millionärs-Rap von Jay-Z oder in Beyoncés Triumph des optimierten Selbst nicht wieder.
„Mein Konzept heißt Gefühl“, sagt Wolf Stephenson, der weiße Labelchef von Malaco Records, ein Berg von einem Mann. „Wenn sich ein Song gut anfühlt, ist er gut. Über die Jahre hinweg habe ich so viele Platten veröffentlicht, bei denen die Technik schlecht war, die Leute nicht singen konnten, die Band falsch spielte – aber es funktionierte!“ Reduzierte Mittel und viel Gefühl, das ist die Quintessenz des Südstaaten-Soul – und die Antithese zum zeitgenössischen Rhythm’n’Blues, wo sich alles um die perfekte Oberfläche dreht.
Zwar gibt es R ’n’ B-Sänger wie Anthony Hamilton, die den Southern Soul zuletzt auch außerhalb der Südstaaten wieder ein wenig hoffähig gemacht haben. Und der im Sommer verstorbene Mighty Sam McClain schuf gar mit seinem auf dem Jazz-Label Act erschienenen Vermächtnis „Tears of the World“ einen verspäteten Klassiker des Genres. Das Herzland des Südstaaten-Soul aber folgt ganz eigenen Gesetzen. „Die Szene heute“, sagt Stephenson, „funktioniert nach einer Do-it-yourself-Philosophie. Von der Aufnahme bis zu den Plattencovern. Luxus verkauft sich hier nicht.“
Stephenson hatte Malaco 1962 mitbegründet – und erst 2011 den grauen Studioschuppen am Stadtrand von Jackson, Mississippi, nach einem verheerenden Hurrikan wiederaufgebaut. „In meiner Jugend war diese Stadt streng segregiert. Nur das Studio stellte eine Insel dar: Hier trafen sich schwarze und weiße Musiker, um zusammen einen neuen Sound zu entwickeln. Soul, das bedeutete damals die Hoffnung auf ein besseres, gleichberechtigtes Leben für alle.“
Was ist aus diesem Traum geworden? Im Norden polierte Motown schwarze Musik zum Party-Hit für weiße Teenager auf. Im Süden blieben Labels wie Stax, Hi und Fame nah dran an Gospel, Country und Blues. Heute nennt sich Malaco stolz „The Last Soul Company“: ein Nischenkonzern mit regionalem Vertrieb. Die Konkurrenz zerschellte bereits in den Siebzigern am Disco-Boom – oder wie Stax an der eigenen Misswirtschaft. Malaco profitierte davon, den gestrandeten Legenden eine neue Heimat zu bieten: Johnnie Taylor, Bobby „Blue“ Bland, Tyrone Davis, Denise LaSalle.
Die Nachwuchssänger von heute haben es schwerer. Sir Charles Jones etwa stellte sich Ende der Neunziger bei Malaco vor – doch Stephenson ließ ihn weiterziehen. „Weil wir sein kommerzielles Potenzial nicht erkannten“, gibt der Labelchef zu. Aufwendige Studioaufnahmen mit großen Arrangements, mit „echten Bläsern und Streichern“, seien heute sowieso nicht mehr drin. Ob bei Malaco oder im Eigenverlag: Die meisten Nachwuchstalente müssen sich damit abfinden, dass sie kaum über die Südstaaten hinaus bekannt werden.
Doch was sagt das schon über die Qualität aus? „Wir halten an dieser Musik fest“, sagt Stephenson, „weil bis zum heutigen Tag niemand mit etwas Besserem gekommen ist.“ Immer noch geht es um neue Varianten der einen alten Geschichte: zwei Männer, eine Frau. Ehebruch im Motel, Versöhnung im Club. Oder umgekehrt.
„Es geht um die Erinnerung daran, woher wir kommen – den Blues.“ Charles Evers, der 91-jährige Bruder des 1963 ermordeten Bürgerrechts-Aktivisten Medgar Evers, sitzt im Büro seines Radiosenders WMPR im heruntergekommenen schwarzen Zentrum von Jackson, Mississippi. Ein symbolträchtiger Ort, denn Evers’ Sender spielt nicht nur die Hits von Soulstars wie Sir Charles Jones, wirbt für Blues-Battles, Gospelgottesdienste und Muttertagspicknicks. Sondern hier werden auch politische Themen diskutiert: von Polizeigewalt gegen Schwarze bis zu Obamacare.
Evers, ein knorriger und streitbarer Politiker, der 1969 zum ersten schwarzen Bürgermeister im Bundesstaat Mississippi gewählt wurde, sieht seinen Sender als Teil eines Graswurzel-Netzwerkes. „Southern Soul hat in den Sechzigern die Märsche der Bürgerrechtsbewegung befeuert. Und auch wenn heute die großen Konzerne glauben, uns ihre vorgefertigte Kultur servieren zu können: Unser Lebensgefühl werden die meisten Menschen außerhalb des Südens nicht verstehen.“
Haben die inflationären Ehebruchsdramen des Southern Soul am Ende doch einen geheimen Subtext? Wird hier im Privaten verhandelt, was gesellschaftlich nur schwer auszusprechen ist? „Viele Afroamerikaner“, sagt Evers, „kennen nur zu gut das Gefühl, betrogen zu werden – um ihre Rechte, ihre Stimme, ihre Würde. Und wissen Sie, warum diese Menschen, die Tag für Tag kämpfen, abends in den Club kommen? Um zu feiern, dass sie noch am Leben sind!“
Zumindest das kann den schwarzen Menschen an den Rändern des amerikanischen Kapitalismus niemand nehmen: ihren Gemeinschaftsgeist. Und ihren sinnlichen Humor. „Look like a plate of neckbones“ (Du siehst so lecker aus wie ein Teller Nackensteak), schmachtet Anthony Hamilton im Song „Sista Big Bones“ eine gewichtige Schönheit an. Und Sir Charles Jones kommt in seinen Party-Videos ganz ohne die Modelfiguren und Luxusfantasien des zeitgenössischen R ’n’ B aus. Stattdessen garniert er sie mit Bildern von Schweinesteaks, roten Bohnen und Maisbrot.
JONATHAN FISCHER
SZ 11.9.2015