„Beim Freitagsgebet in der Moschee musterten die Kämpfer unter den Wollmasken uns Jugendliche. Alle, die stark genug zum Kämpfen schienen, mussten mitkommen. Sogar 14-Jährige wie ich. Zum Glück war ich für mein Alter sehr klein und dünn geraten. Niemand von uns Jugendlichen wollte zum Töten ausziehen. Wir wollten lieber Fußball spielen und Filme schauen, so wie früher, bevor die islamistischen Shabaab-Milizen unsere Stadt besetzten und Kämpfer aus Afghanistan, Arabien und Nordamerika durch die Straßen patrouillierten. Sie verboten uns das Fernsehen und die Musik. Alle Frauen mussten sich verschleiern. Und Fußball spielen durften wir nur noch in langen Hosen.
Am nächsten Freitag ließ mich meine Mutter nicht mehr zur Moschee gehen. Doch die Milizen durchkämmten alle Häuser: „Seid ihr gläubige Muslime? Dann müsst ihr eure Kinder mit uns gegen die Christen kämpfen lassen!“ Wer nicht folgte, bekam eine Waffe an den Kopf gehalten. Meine Mutter flehte um mein Leben. Ich sei ihr Ältester. Wie solle sie ohne mich und meinen Vater, der als LKW-Fahrer bei einer Minenexplosion ums Leben gekommen war, meine vier Geschwister großziehen? Außerdem hätte ich noch zu schwache Arme, um ein Maschinengewehr zu halten. So handelte sie einen Aufschub heraus. Beim nächsten Mal nutzte ihr Bitten nichts mehr: Die Milizionäre erklärten, dann müsse ich eben mit einer Pistole kämpfen. Sie würden in der Nacht wiederkommen und mich mitnehmen. Meine Mutter sagte mir, ich müsse die Stadt verlassen. In ein anderes Land flüchten. Ohne sie. Da habe ich geweint: „Mama, mit dir gehe ich überall hin. Aber wie soll ich ganz alleine durch die Fremde kommen?““
München-Giesing, eine helle, karg möblierte Altbauwohnung. Mohamed öffnet die Tür, reicht höflich und fast etwas schüchtern die Hand und bietet ein Glas Wasser an. „Ich bin gerade am Kochen. Möchten Sie mitessen?“ Ein Lächeln huscht über sein rundes Gesicht. Man merkt dem etwas pummeligen Jungen in Sandalen und kurzer Hose die Genugtuung an, Gastgeber zu sein. Einzuladen. Zu einem Essen, das er sich vom eigenen Geld leistet, in einer Wohnung, die er selbständig in Schuss hält. In der Küche duftet es nach Kreuzkümmel und Curry. Mohamed, den seine Freunde nur Moha nennen, sagt, er habe das Kochen von seiner Mutter gelernt. So wie das Putzen. Die Wohnung wirkt erstaunlich aufgeräumt – zumindest für einen Jugendlichen, dessen Kontrolle sich auf ein, zwei wöchentliche Treffen mit seinem Betreuer beschränkt. Als ob die Ordnung das vergangene Chaos, die Wunden der Flucht, die Gedanken an die Zurückgebliebenen in Schach halten könnte.
Seit drei Jahren wohnt Mohamed in einer Wohngemeinschaft für Jugendliche. 19 Jahre ist er inzwischen alt, auch wenn er mit seinen Pausbacken und dem unbefangenen Blick oft jünger geschätzt wird. Obergiesing, der Bolzplatz um die Ecke, die sommerlichen Isarauen: Sie sind längst zur Heimat geworden. Als Moha, so wie Tausende anderer somalischer Kinder, auf die Flucht geschickt wurde, hatte er keine Ahnung von Deutschland. Sicherheit sollte es dort geben, eine Chance auf ein besseres Leben. Und ja, natürlich, Fußball: „In Somalia haben wir über Satellitenfernsehen die Spiele der Bundesliga verfolgt. Ich kannte die Spieler von Bayern München. Wir haben das nur anders ausgesprochen: Baia Munk.“ Baia Munk! Moha und sein somalischer Mitbewohner müssen laut lachen. Ansonsten, sagt Moha, würden sie vermeiden, über die Vergangenheit zu sprechen.
„Wenn ich an Somalia denke, erinnere ich mich vor allem an den Krieg. Gewehrsalven Tag und Nacht. Nach Einbruch der Dunkelheit kamen die Bomber aus Äthiopien über unsere Stadt geflogen, und wir hörten Detonationen und sahen Feuer. Viele Nächte lang konnte ich deshalb nicht schlafen. Meine Mutter stellte mir Gurey, einen 35-jährigen Mann, vor, der ebenfalls der Rekrutierung durch al Shabaab entfliehen wollte. Er würde mich mitnehmen. Um meine Flucht zu finanzieren, verkaufte meine Mutter die Hälfte unserer kleinen Kuhherde. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich Mamas kleiner Junge. Nichts hatte mich darauf vorbereitet, was ich die nächsten Monate erleben sollte. Die endlosen Nachtfahrten in vollkommen überfüllten Kleinlastern, die Enge von 30, 40 Personen, die sich auf der Ladefläche zusammenkauerten. Das ständige Sich-Verstecken. Der Hunger – und die Unsicherheit, wann einem die Schleuser wieder ein bisschen Wasser und ein paar Salzkekse geben würden. Wenn wir keinen Transport fanden, sind wir manchmal nächtelang zu Fuß gegangen. Tagsüber schliefen wir am Straßenrand. Vor Menschen in Uniformen lernte ich mich zu fürchten – egal ob in Äthiopien, Sudan oder Libyen. Gurey musste dauernd für uns Schmiergeld zahlen, sich demütigen lassen. Manchmal haben sie uns geschlagen. Einfach so. Weil wir für sie Freiwild waren.“
Moha serviert Reis mit Hühnchen und Kartoffeln. Auf seinem Handy laufen somalische Schlager. Sein Freund Hussein stößt dazu. Er braucht Mohas Rat: Ob er die Lehre als Lagerist beim Baumarkt empfehlen kann? „Ich sortiere Kisten“, erklärt Moha. „Mein Chef sagt, er kann sich auf mich verlassen. Wenn ich so weitermache, darf ich bald Gabelstapler fahren.“ Mohas Enthusiasmus ist mit Händen zu greifen. Sein Vater, der Lastwagenfahrer, hätte ihn so sehen sollen! Und auch seine Arbeitgeber können froh sein, denn Lageristen-Lehrlinge sind hierzulande schwer gesucht. Genauso wie Elektriker, Heizungsbauer, Bäcker. Die deutsche Wirtschaft kann sich angesichts geburtenschwacher Jahrgänge und der hohen Ansprüche heimischer Jugendlicher Zuwanderer wie Moha nur wünschen. „Das Schönste für mich ist es“, sagt Moha, „wieder zur Schule zu gehen. In Somalia mussten wir zu Hause bleiben – aus Angst, dass uns eine Granate treffen könnte.“ Seinen Quali hat Moha bestanden. Ohne Probleme. Und dass sich in sein Schulbuch-Deutsch manchmal ein „krass“ einschleicht, er seinem Mitbewohner im Streit auch mal ein „Wichser“ an den Kopf wirft, kann man wohl als Teil einer gelungenen Integration verbuchen. Denn in letzter Zeit hört Moha auch deutschen Rap. „Am besten gefällt mir Bushido“, erklärt Moha. „In der Schule habe ich ein Referat über seine Raps gehalten. Was seine Texte sagen.“ Hat er selbst Ambitionen als Rapper? Moha schaut amüsiert: „Die schimpfen immer. Aber was soll ich schimpfen? Mir gefällt mein Leben.“
„Die Schlepper haben uns all unser Geld abgenommen, dann verfrachteten sie uns versteckt unter Lastwagenplanen durch die Wüste. Wochenlang. Die Hitze und der ständige Durst führte dazu, dass wir bald nur noch kraftlos dahinvegetierten. Und es waren nicht nur Jugendliche auf dem LKW, sondern auch Mütter mit ihren Babys. Die Schlepper nahmen auf niemanden Rücksicht. Ob du krank warst, Bauchschmerzen oder Durchfall hattest. Egal! Nach fünf Monaten erreichten wir Tripoli. Dort pferchten uns die Schlepper in einen Verschlag am Stadtrand. Wir durften das Haus nicht verlassen, weil die libysche Polizei jeden aufgegriffenen Flüchtling ins Gefängnis steckt. Eines Nachts wurden wir an den Strand gekarrt. Zu einem Holzkutter für vielleicht zwanzig Personen. Aber wir waren mehr als siebzig. Die Schlepper fragten, wer von uns einen Außenbordmotor bedienen könne. Dann schickten sie uns los. Alleine. Sie gaben uns lediglich ein paar Kanister Treibstoff und Trinkwasser mit – und die Anweisung, immer geradeaus zu fahren. Kompass? Navigationsgeräte? Rettungswesten? Gab es nicht. Niemand wusste, wann wir ankommen würden. Oder ob überhaupt. So fuhren wir drei Tage und drei Nächte lang. Das Meer machte mir Angst. Und von den großen Wellen wurde mir schwindlig. Hoch und runter. Hoch und runter. Tag und Nacht. Normalerweise würde es bei einer so großen Gruppe von Somalis lebhaft zugehen. Aber es war ganz still an Bord. Niemand hatte die Kraft zum Reden. Niemand wagte es, zu schlafen. Ich klammerte mich fest, um nicht aus dem Boot zu fallen. Dann wäre ich verloren gewesen, denn ich konnte wie die meisten anderen nicht schwimmen.“
„Du hast Glück gehabt“, sagt der Sozialpädagoge mit dem graumelierten Pferdeschwanz, „du bist als Letzter noch auf die Liste gekommen.“ Heinz schaut Moha erwartungsvoll an. Wie ein Vater, der seinem Sohn ein überraschendes Erbe eröffnet. Die Liste: Sie bezieht sich auf die Antragsstellung beim städtischen Wohnprojekt „Wohnraum für Flüchtlinge“, denn auf dem normalen Wohnungsmarkt besteht wenig Hoffnung für junge Lehrlinge wie Moha. Erst recht solche mit nichtdeutschen Nachnamen. Auf dem Tisch zwischen Heinz und seinem 19-jährigen Schützling zwei dampfende Kaffeetassen – und ein Packen Behördenschreiben. Mohas Post der letzten Tage. Im verglasten Büroraum der Jugendhilfe München in Schwabing lernt er die Ordnung eines deutschen Erwachsenenlebens. Behördenanrufe, Arztbesuche organisieren, Anträge ausfüllen. Zweimal die Woche trifft Moha seinen Betreuer. „Er hört mir immer zu. Und er hilft, wenn es Probleme mit der Schule oder der Lehre gibt.“ Heinz verbessert den Jugendlichen geduldig beim Vorlesen der Vordrucke: „Haus-halts-an-gehörige“ – „Sind das mein Bett und Schrank?“ – „Nein, deine Frau. Oder bist du noch ledig?“ Gelächter. „Ich hätte dich schon auf meine Hochzeit eingeladen“, sagt Moha. „Und was bedeutet eigentlich Seniorenwohngruppe?“
„In der vierten Nacht sahen wir dann die Lichter einer Küstenstadt. Ein Schiff der maltesischen Küstenwache nahm uns ins Schlepptau. An Land bekamen wir alle warme Decken umgelegt. Wir waren in Europa. Aber wir waren noch längst nicht frei. Die Polizei hatte uns in verschiedene Gruppen eingeteilt. Wir Jugendliche sollten in ein anderes Gefängnis als die Erwachsenen. Aber ich wollte mich nicht von Gurey trennen lassen. Wie sollte ich allein zurechtkommen? Ich konnte weder Englisch noch eine andere europäische Sprache. Ich protestierte so lange, bis sie mich zu Gurey ließen. Wir waren 50 Leute in einem kleinen Raum. Zum Schlafen mussten wir uns Kopf an Fuß aneinanderdrängen. Es fühlte sich fast so eng an wie zuvor auf dem Fischerboot. Aber ich war zumindest bei Gurey. Ein Jahr lang blieb ich in dieser Zelle. Im Gegensatz zu den anderen Gefangenen gewährten mir die Wärter Ausgang. So lernte ich auf Malta andere somalische Flüchtlinge kennen. Sie klärten mich auf: Man würde mich als Jugendlichen ziehen lassen. Ich würde Papiere bekommen. Und dann könnte ich ein Flugzeug nach Deutschland oder Dänemark besteigen. Ein somalischer Flüchtling, der schon ein paar Jahre auf Malta arbeitete, kaufte mir ein Flugticket. Vielleicht hatte er Mitleid, weil ich so jung war. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Und auch von Gurey weiß ich nicht, ob er noch im Gefängnis in Malta sitzt.“
Auf dem Bolzplatz ist Moha wie ausgewechselt. Er dribbelt geschickt, lässt ein, zwei Gegenspieler aussteigen, hält kurz inne, bevor er flankt: „Geh vor!“, ruft er und „Doppelpass!“ Heinz steht an der Linie und schaut so zufrieden wie ein Trainer nach einer taktisch gelungenen Einwechslung. „Moha hat es faustdick hinter den Ohren.“ Dem hilfsbedürftigen, verloren wirkenden Flüchtlingskind von einst trauert er nicht nach. „Sobald er eine eigene Wohnung findet, können wir ihn guten Gewissens entlassen.“ Wenn der Sozialpädagoge die Somalis daheim besucht, dann meist nur noch zum gemeinsamen Fußballschauen. Dass der einstige Analphabet Moha den Hauptschulabschluss geschafft hat, aus einem mittellosen Flüchtling ein deutscher Steuerzahler heranwächst – das ist auch der Jugendhilfe zu verdanken. In Deutschland gewährleistet sie für minderjährige Flüchtlinge besonderen Schutz. Sie dürfen nicht abgeschoben werden. Und haben das Recht auf Betreuung. So erhielt Moha von Anfang an Deutschunterricht, bekam später einen Platz in der auf Flüchtlinge spezialisierten Schlauschule. Pädagogen wie Heinz brachten ihm bei, vernünftig zu wirtschaften. Und klärten ab, ob er eine Traumatherapie braucht. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Moha. „Die meisten haben auf der Flucht Freunde sterben sehen. Andere wurden von den Schleppern gefoltert, um Geld von den Familien daheim zu erpressen.“ Das Wort zynisch gehört nicht zu Mohas Wortschatz. Aber seine Geschichte zeigt, wie europäische Flüchtlingspolitik funktioniert: Menschenverachtend nach außen, sehr sozial nach innen. Erst wer alle Schikanen überlebt – die kriminellen Schlepperbanden, willkürliche Gefängnisaufenthalte, die tödlichen Überfahrten, aber auch nordafrikanische Grenzpolizisten, die, von EU-Geldern zur Flüchtlingsabwehr angespornt, Migranten in Verliese sperren oder gleich in die Wüste aussetzen -, der darf mit unserer Hilfe rechnen. Wiedergutmachung? Oder einfach die Auslagerung des schlechten Gewissens?
„Ich bin dann mit ein paar anderen jungen Somaliern in ein Flugzeug Richtung Dänemark gestiegen Von dort nahmen wir den erstbesten Zug Richtung Deutschland. An der Grenze kam die Polizei. Sie fragten mich: ,What is your name? How old are you? Where do you go?‘ Ich war erstaunt, dass sie ganz normal mit uns geredet haben. So eine Polizei kannte ich nicht. Sie sagten, man darf nicht ohne gültige Papiere einfach so einreisen. Dann brachte man mich in einem Polizeibus nach München.
Ungefähr einmal im Monat rufe ich meine Mutter an. Ich habe sie jetzt seit fünf Jahren nicht gesehen, und sie behandelt mich immer noch wie einen 14-Jährigen. Sie redet sehr streng mit mir: ,Lernst du auch genügend für die Schule? Trinkst du Alkohol? Rauchst du?‘ Ich kann spüren, dass sie stolz auf mich ist. Aber sie glaubt mir nicht, was ich auf der Flucht durchgemacht habe. Ich will ihr das Schlimme nicht so genau erzählen. Manchmal sagt sie: ,Ich werde deinen Bruder nachschicken.‘ Aber ich versuche, ihr das auszureden. Zu viele sterben auf der Flucht. Mein Bruder soll nicht all das erleben, was ich erleben musste. Auf keinen Fall.“
JONATHAN FISCHER
FAZ 12.10.2014