Allen Toussaint ist einer der bedeutendsten Musiker von New Orleans. Hat er sich zumeist als Produzent und Arrangeur profiliert, so beweist er auf dem neuen Album «Songbook» seine Qualitäten als Pianist und Sänger. Im Interview spricht er über seine Musik und die Musikszene von New Orleans.
Mr. Toussaint, wie Ihr neues Album wieder zeigt, sind Sie ein phantastischer Pianist und Sänger – trotzdem haben Sie es zeitlebens vorgezogen, für andere zu arrangieren und zu produzieren . . .
Ich habe es geliebt, für Sänger wie Lee Dorsey oder Irma Thomas zu schreiben und meine Kompositionen aus dem Mund von anderen zu hören. Meine eigenen Versionen dagegen erschienen mir früher stets als die schwächsten. Später hiess es, meine Songs definierten den New-Orleans-Soul. Dabei bin ich schon froh, dass ich mich in die grosse Pianisten-Tradition meiner Stadt einreihen darf.
Sie denken an Professor Longhair, Fats Domino, Dr. John?
Und an James Booker, Henry Butler, Art Neville.
Warum hat das Pianospiel gerade in New Orleans solch eine Kraft entwickelt?
Wir sind hier etwas altmodischer als der Rest Amerikas. Ausser den Saiteninstrumenten wurde hier lange Zeit nichts elektronisch verstärkt. Und nur das Piano war laut genug, um durch den Kneipenlärm durchzudringen. Vor allem aber haben Leute wie Professor Longhair so viel Funk in ihr Spiel gelegt, dass selbst das billigste alte Klavier eine Tanzveranstaltung befeuern konnte.
Heute dominiert der am Rechner produzierte Rhythm’n’Blues die Black Music Amerikas. Können Sie als Meister des alten analogen Souls der zeitgenössischen Pop-Ästhetik etwas abgewinnen?
Der heutige Rhythm’n’Blues dreht sich, wie schon der Name sagt, vor allem um den richtigen Rhythmus, dabei muss er nicht unbedingt Soul haben. Soul ist doch viel grösser als R’n’B. Er bezeichnet eine Qualität, die ich auch bei einem guten Bluegrass- oder Country-Sänger hören kann. Die Frage bleibt: Singst du nur mit Technik, oder zeigst du auf ehrliche Weise dein Innerstes?
Bis heute hört man den meisten Musikern aus New Orleans ihre Herkunft an. Weshalb klingt diese Stadt anders als der Rest Amerikas?
Ich habe als Musiker und Produzent nie mit Absicht anders klingen wollen. Aber das Lokal-Flair atmest du hier schon mit der Luft ein: Matrosen und Einwanderer brachten seit über hundert Jahren karibische Klänge in unsere Hafenstadt. Hier mischten sich Rumba und Mambo mit dem Jazz der afrikanischen Sklaven sowie mit französischen und spanischen Einflüssen. Man kann die Musik New Orleans‘ mit drei Worten charakterisieren: Synkopierung, Sprachwitz und Soul.
New Orleans hat sich immer damit schwergetan, seine lokalen Stars dem amerikanischen Mainstream zu verkaufen. Ist das heute immer noch so?
Ja, wir haben hier musikalisch unsere eigenen Gesetze. In New Orleans denken Musiker meist zuerst an die eigenen Leute und ob sie zu einem Song auf der Strasse tanzen werden. Ein Grossteil unserer Musik entsteht aus Spass: Deshalb hängen wir uns nur selten an nationale Trends oder die Moden des Tages an. So wie ich als junger Mann das Spielen durch Mimikry lernte und die Piano-Riffs von Professor Longhair, Huey Piano Smith und anderen kopierte, lernen hier die jungen Menschen von dem, was sie auf den Strassen hören.
Ihre Kompositionen wie «Fortune Teller», «Southern Nights», «Get Out My Life Woman» oder «Yes We Can Can» wurden von Countrysänger Glen Campbell über die Pointer Sisters bis zu den Rolling Stones erfolgreich gecovert. Haben Sie beim Songwriting jemals die Charts oder auch nur ein nationales Publikum im Sinn gehabt?
Das einzige Mal, dass ich mir bewusst vornahm, einen Hit zu schreiben, war bei «Ride Your Pony». Lee Dorsey hat den Song ja dann auch in die Charts gebracht. Aber meistens hat mich mein Erfolg selbst überrascht – etwa bei Ernie K-Does «Mother In Law»; ich hatte anfangs nicht viel von der Nummer gehalten. Und dann gab es Songs, die ich ganz grossartig fand – wie etwa Lou Johnsons «Intuition» –, die aber kommerziell floppten.
Bei der Produktion Ihrer elegischen Soul-Alben wie «From A Whisper To A Scream» oder «Southern Nights» brachten Sie in den siebziger Jahren Fans wie Labelle oder Paul McCartney in Ihre Seasaint-Studios nach New Orleans. Was versprachen sich die Superstars davon?
Ich höre Songs anders als vielleicht ein Produzent aus New York. Da geht es um unseren eigenen humorvollen Blues – und um eine spezielle Art der Synkopierung. Es fällt schwer, das in Worte zu fassen. Jedenfalls färbt die Ambiance in New Orleans auf alle ab, die hier aufnehmen. Sie werden beeinflusst von der musikalischen Tradition, von den hiesigen Musikern, aber auch von den Gumbo-Gerüchen in der Luft.
Nach dem Hurrikan «Katrina» fürchteten viele Beobachter den Untergang der traditionellen Musikkultur in New Orleans. Doch obwohl so viele Musiker ihr Hab und Gut verloren haben, scheint Pessimismus in dieser Stadt ein Fremdwort zu sein?
Die Sturmflut hatte nicht nur meine Seasaint-Studios zerstört, sondern auch alle Masterbänder von Musikern wie John Mayall, Labelle, Ramsey Lewis. Aber hätten wir deswegen resignieren sollen? Letztlich hat «Katrina» der Musikszene von New Orleans einen Wachstumsschub und ein ganz neues Selbstbewusstsein beschert. Wir haben die Katastrophe als Anstoss genommen, endlich zu richten, was in unserer Stadt im Argen liegt: sozial, politisch und kulturell. Heute hört man in den Klubs viele phantastische Funk-Combos, überall platzen neue Brassbands und Second-Line-Bands auf die Strasse. Und selbst die Black Indians erhalten Zuwachs.
Sie sprechen von der Tradition der schwarzen Arbeiter, die am Mardi Gras um die schönsten Federkostüme, Chants und Tänze wetteifern?
Genau! Die Black Indians haben sich als einzige Tradition unserer Stadt bis heute jeder Kommerzialisierung entzogen. Sie sind das afrikanischste Moment von New Orleans. In den siebziger Jahren habe ich mit den Wild Tchoupitoulas und den Meters Musik aufgenommen, die heute so frisch klingt wie damals, ja von vielen jungen Bands kopiert wird. Vor «Katrina» haben wir viel unserer überlieferten Kultur für selbstverständlich gehalten. Nun wissen die Menschen, was sie verlieren könnten. Und das ist gut so.
Welche lokalen Musiker begeistern Sie zurzeit?
Wir haben so viele Nachwuchstalente in der Stadt: Trombone Shorty, Chuck Perkins, Pianisten wie Davell Crawford. Am meisten aber hat mich zuletzt ein Soulsänger beeindruckt: John Boutté. Was für eine begnadete Stimme! Soul mag woanders aus der Mode gekommen sein, in New Orleans lebt er jeden Tag.
Interview: Jonathan Fischer
Allen Toussaint
Als Musiker, Komponist und Produzent hat Allen Toussaint die Pop-Musik von New Orleans, wo er 1938 geboren wurde, wie kein Zweiter beeinflusst. In den fünfziger Jahren fing er als Session-Musiker für das Label Minit Records an. In den sechziger Jahren galt er dann als Architekt des New-Orleans-Soul, und in den siebziger Jahren raffinierte er auf Platten mit Dr. John, den Meters sowie auf mehreren Soloalben die lokale Funk-Tradition. Nach dem Verlust seines Hauses in New Orleans infolge des Hurrikans Katrina im August 2005 verlegte er seinen Wohnsitz nach New York. 2006 nahm er zusammen mit Elvis Costello «River in Reverse» auf, 2009 ging er mit Joe Henry für «Bright Mississippi» ins Studio. Auf «Songbook» erweckt der 75-jährige Toussaint nun all seine Klassiker noch einmal zum Leben – live am Piano.
NZZ 20.9.2013