Eine Stadt im Blues: New Orleans lebt die Musik – auf der Straße, in Clubs und in jedem Bewohner

Der Riesenpott „boiled crawfish“, gekochte Langusten, ist halb geleert als Walter „Wolfman“ Washington die Bühne betritt. Das gehört in New Orleans zur Tradition: Das Publikum nicht nur zu unterhalten, sondern auch – kostenlos und solange der Vorrat reicht – mit deftigem Soulfood zu verköstigen. „I must have done something wrong“, croont der Sänger mit der Pelzmütze. Und alles passt: Funk-Gitarren und schneidende Bläser akzentuieren den Rhythmus. Ein Tamburin rasselt. Und Wolfman, ein Veteran der örtlichen Bluesszene, der einst Größen wie Lee Dorsey und Johnny Adams begleitete, schmachtet in klagendem Falsett. Es ist schwül. Über den Holzdielen des Maple Leaf Club liegt ein Duft von Schweiß, Bier und Meeresgetier. Der Bluesmann hat noch keinen halben Song zu Ende gebracht, da formiert sich vor der Bühne eine spontane Secondline.

Secondline: So heißt der wilde Tanz im Gefolge örtlicher Straßenparaden. Nein, in New Orleans ist der Blues keine Musik einsamer alter Männer, die auf ihrer Gitarre schrammen. Schrill und laut muss er sein. Mit Bläsern und Trommlern. Und Tänzern. Still zu stehen, das gilt im Mississippi-Hafen als Verbrechen.

New Orleans mag eher als Wiege des Jazz und Rock’n’Roll bekannt sein. Doch es war der Blues, der beide unterfütterte. Schon Jazz-Urvater Buddy Bolden spielte ihn. Und er blieb als Note und Lebensgefühl. Sechs Jahre nach dem Hurrican Katrina scheint ein trotziger Lebensmut die Stadt erfasst zu haben, tönen frische Fusionen aus den vielen neu eröffneten Clubs, mischt sich jede Menge Kampfgeist in den uralten Rhythmus des Blues: Etwa im Chickie Wah Wah an der Canal Street, wo Bands wie Jon Clearys Philthy Phew ein bisschen karibisches Flair in den Gumbo werfen, im 504 am Rande des French Quarters, wo Tuba-Legende Kirk Joseph mit einer jugendlichen Funkband seine Riffs schmettert, oder im Howlin’ Wolf, in dessen winzigem Hinterzimmer Papa Grows Funk oder die Hot 8 Brassband regelmäßig das Kondenswasser von der Decke tropfen lassen. Und dann sind da noch die Geheimtipps: Die Candlelight Lounge etwa, nördlich von French Quarter im Treme-Viertel gelegen, dem afroamerikanischen Herz der Stadt. Ein von roten Glühbirnen schummrig erleuchteter Schuppen. Hier jammen Musiker aller Generationen miteinander. Jeden Mittwoch spielt die Treme Brass Band. „I’ve got a big fat woman“, singt Bandleader Uncle Lionel, während der Duft eines Barbecues vom Bürgersteig durch die offene Tür hereinzieht. Getanzt wird paarweise. Und der Sänger braucht kein Mikrofon. Alle singen mit.

New Orleans’ musikalischer Überflusshat selbst Rockstars wie Eric Clapton, Bob Dylan, Robert Plant oder Ani DiFranco in die Stadt gezogen. Aber auch Massen von Party-Touristen. Die finden in der Bourbon Street das Klischee, während die besten Live-Clubs und ihr heimisches Publikum sich am Rande des French Quarters verstecken. In der Frenchmen Street etwa mit abgerockten Bluesläden wie dem Funky Pirate oder dem Apple Barrel. Oder noch weiter im Osten, im Stadtteil Marigny, wo schmuck gestrichene kleine Holzvillen, Coffeeshops und Bioläden von den neuen Bewohnern eines einst als Drogenumschlagplatz berüchtigten Viertels zeugen. „New Orleans ist wie eine untreue Geliebte“, sagt der Beat-Poet Chuck Perkins, der hier einen Musikclub eröffnet hat, „sie nimmt dein Herz, zerbricht es, stiehlt dein Geld, zerstört deinen Ruf. Sie gibt dir den Blues. Und du verliebst dich dennoch jeden Tag aufs Neue.“

Im Cafe Istanbul treffen die Traditionen der Stadt aufeinander: Trommler und Bläser, Rhythm’n’Blues-Sänger, Drag Queens, Mardi Gras Indians, Rumbatänzer. Und manchmal alle auf einmal – wenn Chuck Perkins mit seiner Musiktruppe Voices Of The Big Easy auftritt. „Built on this burnt ash of tragedy“, rappt der bullige Glatzkopf, „Everybody swears in this town/ and everybody sings the blues.“ Perkins rezitiert seine Poesie wie ein Preisboxer. Eine Trompete schreit wie ein Baby. Eine junge Frau springt vom Sitz. Selbst Poesie ist in New Orleans tanzbar. Wenn Chuck Perkins über seine Stadt spricht, dann spricht er über den Überlebenswillen seiner Bewohner, über Musiker, Zuhälter, Crackdealer, ermordete Jugendliche, und die Second Lines, die jede Beerdigung begleiten. Er beschwört den Congo Square: jenen Platz im Treme-Viertel wo sich einst die Sklaven sonntags versammelten, um zu trommeln, zu tanzen, ihr Leid für ein paar Stunden zu vergessen – und nebenbei die Fundamente der Jazz- und Rock’n’Roll-Musik zu legen. Und manchmal scheinen die Geister der Ahnen durch Chuck zu sprechen. Dann sind Louis Armstrong und Jelly Roll Morton ganz nah dran an den jungen Jazzern, Bluesern und Rappern von heute.

Trombone Shorty, Kermit Ruffins oder Shamarr Allen heißen sie, und wenn sie andernorts Konzerthallen füllen, kann man sie in New Orleans mit etwas Glück in einem Club von der Größe eines Schulzimmers improvisieren hören. Oder auch als Teil einer Street Parade. Unvergesslich die bluesgetränkte Euphorie eines Jazz Funerals: Auf dem Weg zum Friedhof bläst die Brassband noch Trauermärsche, doch bald sind es Tanzrhythmen, die immer mehr Anwohner aus ihren Häusern locken. Alle paar Ecken stoppt der Zug an einer Kneipe. Der Hitze wegen. Und auch, um dem Tuba-Spieler eine Rast zu gönnen, zu dessen Basslauf oft mehrere tausend zunehmend betrunkene Tänzer marschieren, über Autos und Gartenzäune hüpfen. Oder auf allen Vieren krabbeln – um paarweise einen dieser eindeutig-zweideutigen Begattungstänze auf den Asphalt zu legen. In New Orleans bleibt der Tod stets präsent. Wie auch seine Gegenspielerin, die trotzige Lust am Überschwang: Sie zeigt sich in den prächtigen, handgenähten Kostümen der Mardi-Gras-Indianer, die sich Jahr für Jahr einen Wettbewerb um die originellste Feder-und-Perlen-Tracht liefern. Oder im Prunk, mit dem die lokalen Social-Aid-and-Pleasure-Klubs ihre jährlichen Paraden begehen. Oder in den Jugend-Brassbands, die seit den achtziger Jahren das Jazz-Erbe ihrer Urväter mit Reggae und Hiphop-Rhythmen auffrischen. Genres spielen in New Orleans keine Rolle. Was zählt, ist die kollektive Improvisation.

„Jedermann“, sagt Chuck Perkins, „ist doch hier auf irgendeine Weise Künstler. Entweder kochst, singst oder tanzt du. Frag einmal im Treme-Viertel nach einem Tubaspieler, und es werden sich Achtjährige melden, die Songs von 1920 auf dem Kasten haben.“ Anderswo hat der Blues in Museen überlebt. In New Orleans gehört er zum Alltag. Egal, was auf dem Programm steht: In einer Stadt, in der selbst Typen mit goldverblendeten Zähnen und Hiphop-Klamotten jede Zeile von Louis Armstrong zitieren können, kann man auf ein und derselben Bühne einen langhaarigen indianischen Cajun-Gitarristen wie Coco Robicheaux, einen Soulcrooner wie John Boutté oder auch die Rebirth Brass Band miteinander jammen hören. Irgendwo an der Bar wird ein Topf Red Beans und Rice vor sich hinköcheln. Eine Second Line wird zur Tür hinaustanzen. Und den Blues in die lauwarme Nacht tragen.
JONATHAN FISCHER
SZ 8.3.2012

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