Die Pioniere

Das Münchner Rock-Kollektiv „Embryo” sucht seit 40 Jahren nach Klangwelten

„Bei uns galt: Wer Erfolg hat, ist out!” sagt Christian Burchard. „Mit diesem Satz bin ich aufgewachsen”. Es ist ein Leitmotiv, das womöglich einiges erklärt. Etwa das vernachlässigte Äußere des freundlichen Mannes, der im Innenhof der Giesinger Plattenfirma Trikont seinen Strähnenschopf über die Jubiliäums-Anthologie seiner Band beugt: „40 Jahre Embryo”. Oder die Flugzettel, die er aus den Taschen seines verwaschenen Anoraks wühlt: Aktuelle Konzertankündigungen in Form handkopierter Collagen von Reisefotos und Zeitungsblocklettern. Könnte aus einem Jugendzentrum anno 1973 stammen. Und bewirbt doch das bedeutendste Musikerkollektiv, das München je hervorgebracht hat.

Das Reisen war immer wichtig für die Musik von Embryo, das merkt man, sobald der 64-Jährige ins Erzählen gerät. Etwa davon, wie einst marokkanische Grenzbeamte und der deutsche Botschafter seine Musiker auf dem Weg zu einem vom Goethe-Institut in Tanger organisierten Konzert nötigen wollten, ihre Haare zu schneiden – klar, dass die Embryo-Musiker keinen Zentimeter nachgaben, um schließlich als erste Langhaarige einzureisen. Oder die Episode als Zirkusband in Pakistan. Der Auftritt mit Fela Kuti in dessen Nachtclub „Shrine” in Lagos. Der Studienaufenthalt in indischen Tempeln, die Sessions in Afghanistan, der Beschuss durch Aufständische, die Schläge in iranischen Gefängnissen.

Irgendwann wird klar, warum Embryo so oft unterschätzt wird. Es handelt sich weniger um eine Band als um ein fortlaufendes Forschungsprojekt. Embryo ist ein aus der Zeit gefallenes Gegenmodell zu den sozialen, kommerziellen, sexuellen Erfolgsversprechungen des Pop. Miles Davis lobte sie als „crazy creative musicians”. Doch in der Heimat weiß kaum jemand, dass die im heimischen München oft als „Gammler” beschimpften Musiker in Übersee als Krautrock-Götter verehrt werden. Dass die selbstvergessenen Soundtüftler lange vor Peter Gabriel und Paul Simon eine Form von Weltmusik erfanden, die auf Gleichberechtigung statt Ideenklau beruhte. Dass sie in der Popgeschichte einen ähnlichen Stellenwert haben wie die gefeierten Rock-Avantgardisten von Can aus Köln. Dass Popgrößen wie Sonic Youth, Radiohead oder Beck sie als Vorbild zitieren.

Die Anti-Star-Pose wirkt bisweilen verschroben. Und doch ist es gerade der gelebte Anachronismus dieses Kollektivs, der ihm Respekt verschafft. „Alles ist immer noch zu wenig!” zitiert Burchard einen alten Beatnik-Spruch. „Wir wollten mit anderen Musikgalaxien, fremden tonalen Systemen in Berührung kommen. Damals war das für uns aufregendes Neuland”. Damals: Das war eine Welt, in der musikalische Grenzerweiterung noch nach politischer Revolution roch, man Nachrichten an Gesinnungsgenossen auf Pinnwänden in Freak-Treffpunkten von Tanger, Istanbul oder Kabul hinterließ anstatt im Internet, und die Embryo-Musiker mit ihren Exoten-Instrumenten sich jeder Konvention verweigerten. Selbst ein Begriff wie „Avantgarde” erschien ihnen noch zu spießig.

Der Drang hinaus in die Weite war bei Embryo vorprogrammiert: „Wir revoltierten gegen den ganzen gesellschaftlichen Mief, diese in die sechziger Jahre hinein überlebenden Nazi-Einstellungen”, erzählt Burchard über seine Jugend. Zusammen mit seinem Freund Dieter Serfas besuchte er Jazz-Clubs, wo man die amerikanischen Neuerer hören, über Sartre-Bücher und Cocteau-Filme diskutieren konnte. Als Jazzmusiker folgte er dann radikalen Ideen: Noten waren da genauso verpönt wie alles „Kommerzielle”.

Burchards große Chance kam, als Mal Waldrons Trompeter ausfiel. Der Pianist, der schon mit Billie Holiday, John Coltrane und Charles Mingus gespielt hatte, nahm ersatzweise den jungen Vibraphonisten in seine Band auf. Der Gig führte Burchard mit amerikanischen Soulmusikern wie auch deutschen Gesinnungsgenossen von Amon Düül bis Tangerine Dream zusammen. Aus ihrem Umfeld rekrutierte er 1969 die erste Embryo-Formation. Man hatte eine gemeinsame Idee: Einerseits parallel zum anglo-amerikanischen Popgeschehen das Single-Format gegen freiere Songstrukturen einzutauschen. Andererseits aber einen ganz eigenen Sound zu entwickeln.

Das geistige und politische Klima der späten sechziger Jahre kam diesem Vorhaben entgegen: Selbst in München blühte ein paar Jahre lang ein Untergrund auf. Burchard ging mit seiner Band in den Kommunen von Rainer Langhans und Uschi Obermeier ein und aus, man wohnte in der Münchner Au zwei Stockwerke über den späteren RAF-Mitgliedern Brigitte Mohnhaupt und Rolf Heißler (denen ein Embryo-Roadie angeblich die Waffen besorgte), und spielte im „Paranoia-Center” des Amon Düül-Kollektivs in der Ungererstraße. Der gesellschaftliche Aufbruchsgeist spiegelte sich musikalisch wider: In halbstündigen Improvisationsorgien wie auch in der Begeisterung für neue Technologien.

So rekrutierte Embryo aus England einen Ten-Years-After-Gitarristen, weil der das Verstärker-Feedback beherrschte. Sie erprobten archaische Synthesizer, frequentierten die Labors der frühen deutschen Elektronikbastler. Wichtiger noch: Keine Plattenfirmen-Diktate sollten ihre Experimentierwut bremsen. Zusammen mit Ton Steine Scherben und dem linken Trikont-Verlag gründeten sie einen eigenen Vertrieb: Schneeball. Wie Grateful Dead in Kalifornien verkörperten Embryo in Deutschland einen gelebten Gegenentwurf zum Establishment. Nur dass die Hippie-Szene hierzulande sich bald als „kommerzialisierter dritter Aufguss” erwies, wie Burchard lästert.

Embryo aber machten sich auf in den Orient. Sie entdeckten mikrotonale Klangwelten, japanische Flöten, Sitars, tibetische Schalmeien und nigerianische Trommeln für sich. Das große Versprechen lag jenseits des europäischen Kulturkreises. Dabei wirkten sie als Durchlauferhitzer für über 400 Musiker, darunter Saxophonist Charlie Mariano, Franz Ferdinand-Bassist Nick McCarthy, oder die Münchner Funk-Adepten Wolfi Schlick und Max Weissenfeld.

Dass heute Techno- und Electromusiker die bisher 30 Alben der Münchner Krautrocker sampeln, registriert Burchard ziemlich unbeeindruckt. Er fühlt sich wohl in der Anonymität. Er sieht sich wie seine langjährigen Mitstreiter Roman Bunka oder Chris Karrer als Werkzeug im Dienste einer größeren Musikschöpfungsmaschine. Bezeichnend die Reaktion auf die Anfrage des einflussreichen amerikanischen Hip-Hop-DJs Madlib, mit Embryo auf Tournee zu gehen. „Das müssen wir erst ausdiskutieren”, erklärt Burchard. Nicht nur, ob das „zu kommerziell” sei, sondern auch wegen der vom DJ gewünschten Proben: „Wir haben eigentlich nie so gearbeitet: Unsere Proben sind die Auftritte”.

JONATHAN FISCHER

Süddeutsche Zeitung 22.4.2010

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